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[793] Mit Franzl war sie weiterhin leidlich zufrieden. Wenn sie nach Hause kam, fand sie ihn meist über Büchern und Heften sitzen, von seiner früheren Ungebärdigkeit war wenig mehr zu merken; schlug er gelegentlich einen etwas mürrischen Ton gegenüber der Mutter an, ließ er sich in seiner Ausdrucksweise, in seinem Betragen allzusehr gehen, so genügte meist eine Mahnung von ihrer Seite, ihn sein Unrecht einsehen zu lassen. Sie war daher aufs peinlichste erstaunt, als er zu Semesterschluß ein ganz schlechtes Zeugnis heimbrachte, das überdies eine große Anzahl versäumter Stunden auswies. In der Schule erfuhr sie zu ihrem Schreck, daß er im Laufe der letzten Monate überhaupt nur selten dem Unterricht beigewohnt hatte, und der Klassenvorstand wies ihr Entschuldigungen vor, die ihre Unterschrift trugen. Therese hütete sich, zu gestehen, daß sie gefälscht waren, sie behauptete[793] vielmehr, der Bub sei in diesem Jahr oft krank gewesen, sie werde selbst das Versäumte mit ihm nachholen, man möge nur Geduld mit ihm haben. Zu Hause nahm sie ihn ins Gebet, er war zuerst verstockt, dann gab er freche Antworten, endlich lief er einfach aus dem Zimmer, aus dem Haus. In später Abendstunde erst erschien er wieder, legte sich sofort im Wohnzimmer auf den Diwan, der zugleich seine Schlafstelle war, die Mutter setzte sich zu ihm, drängte in ihn, wo er gewesen, er antwortete nicht, sah nach der Seite, drehte sich an die Wand, manchmal nur traf sie ein böser Blick, ein Blick, in dem Therese diesmal nicht nur Verstocktheit, Mangel an Einsicht und an Liebe, sondern auch Bitterkeit, Hohn, ja, einen versteckten Vorwurf las, den auszusprechen er sich, aus einer letzten Rücksicht vielleicht, enthielt. Und unter diesem fahlen Blick stieg eine Erinnerung in ihr auf, fern, verschwommen, die sie zu verscheuchen suchte, die aber immer näher, immer lebendiger vor ihr sich aufrichtete. Zum ersten Male nach langer Zeit dachte sie der Nacht, in der sie ihn geboren, – der Nacht, in der sie ihr neugeborenes Kind zuerst tot geglaubt, in der sie es tot gewünscht hatte. Gewünscht –? Nur gewünscht? Das Herz erstarrte ihr vor Angst, daß der Bub, der sich feindselig abgewandt und die Decke über das Gesicht gezogen hatte, sich wieder nach ihr umwenden und seinen wissenden, hassenden, tödlichen Blick auf sie richten würde. Sie erhob sich, stand eine Weile bebend mit verhaltenem Atem, dann, auf den Zehenspitzen, ging sie in ihr Zimmer. Nun wußte sie, daß dieses Kind, dieser zwölfjährige Bub, nicht nur als ein Fremder, daß er als Feind neben ihr lebte. Und niemals noch hatte sie zu gleicher Zeit so schmerzlich tief gefühlt, wie sehr und wie unglücklich, wie ohne jede Hoffnung auf Erwiderung sie dieses Kind liebte. Sie durfte es nicht verloren geben. Alle ihre Versäumnisse, ihre Leichtfertigkeit, ihr Unrecht, ihre Schuld, sie mußte all das wieder gutmachen, und dafür mußte sie auch zu jeder Sühne bereit sein, zu Opfern jeder Art, zu schwereren, als sie sie bisher gebracht. Und wenn sich die Gelegenheit bot, ihr Kind in günstigere Verhältnisse zu bringen, als ihm bisher beschieden war; die Möglichkeit, es unter eine männliche, eine väterliche Aufsicht und Obhut zu stellen, so durfte sie nicht zögern, diese Gelegenheit zu ergreifen. Und war denn das Opfer wirklich so groß? Konnte eine Heirat nicht am Ende auch ihre eigene Rettung bedeuten?

Und als der Professor Wilnus bei einem nächsten Zusammentreffen[794] mit ihr im Hause des Bruders, da man sie beide nach dem Mittagessen offenbar mit Absicht allein gelassen, an Therese die Frage richtete, ob sie seine Frau werden wolle, zögerte sie zuerst, und mit einem festen Blick in den seinen fragte sie: »Kennen Sie mich denn auch gut genug? Wissen Sie denn auch, wen Sie heiraten wollen?« Als er darauf ungeschickt nach ihrer Hand faßte, mit einem verlegenen Neigen des Kopfes, ohne sie anzusehen, entzog sie ihm ihre Hand und sagte: »Wissen Sie, daß ich ein Kind habe, einen bald dreizehnjährigen, ziemlich ungeratenen Buben? Aber was man Ihnen auch gesagt hat, verheiratet bin ich nie gewesen.« – Der Professor runzelte die Stirn, wurde rot, als hätte sie ihm eine unanständige Geschichte erzählt, faßte sich aber gleich wieder: »Ihr Herr Bruder hat mir erzählt, nicht Einzelheiten, aber – aber ich hatte etwas Ähnliches vermutet«, und er ging im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Dann blieb er vor ihr stehen, und in wohlgesetzter Weise, als hätte er sich während des Auf- und Abgehens eine kleine Rede einstudiert, kam er ihr gleich mit einem fertigen Vorschlag. Keineswegs dürfe daran, daß dieses Kind existiere, ihre und seine Zukunft scheitern. »Wie meinen Sie das?« Es gäbe kinderlose Ehepaare, die nichts sehnlicher wünschten, als ein Kind zu adoptieren, und wenn man mit Sorgfalt –. Sie unterbrach ihn heftig, blitzenden Auges: »Ich werde mich nie von meinem Kinde trennen«. Der Professor schwieg, überlegte, und schon in wenigen Sekunden, mit einer hellen, gleichsam edel gewordenen Stimme, bemerkte er, daß er vor allem einmal den Buben kennenlernen möchte. Dann könnte man ja über alles andere weiterreden. Ihre erste Regung war, brüsk abzulehnen, sich auf keinerlei Bedingungen einzulassen. Aber zu rechter Zeit noch kamen ihr wieder die letztgefaßten Vorsätze in den Sinn, und sie erklärte sich bereit, den Professor am Abend des nächsten Tages bei sich zu empfangen.

Es war ihr gelungen, Franz, der sich eben wieder wie gewöhnlich zu dieser Stunde hatte davonmachen wollen, zu Hause zu halten. Der Professor erschien nicht ohne Befangenheit, die er unter einem aufgeräumten, sozusagen weltmännischen Gebaren nur mit Mühe zu verbergen imstande war. Franz betrachtete den Besucher mit unverhohlenem Mißtrauen. Und als dieser nun plötzlich den überraschenden Wunsch äußerte, in die Schulhefte Franzls Einsicht zu nehmen, kostete es einige Mühe, den Widerstand des Knaben zu überwinden. Was sich endlich den Augen[795] des Professors Wilnus darbot, war nicht eben erfreulich. Doch er begnügte sich, sein Mißfallen in nachsichtig-humoristischer Weise auszudrücken. Dann versuchte er sich durch Fragen aller Art über die Kenntnisse und den Bildungsgrad des Knaben Klarheit zu schaffen, half ihm immer wieder bei den Antworten nach, legte sie ihm geradezu in den Mund, benahm sich überhaupt wie ein Lehrer, der sich alle Mühe gibt, einen schlechten Schüler aus irgendeinem Grund bei der Prüfung doch nicht durchfallen zu lassen. Am meisten hatte er an der Aussprache Franzls zu bemängeln, die er als ein fatales Gemisch von bäuerlichem und vorstädtischem Dialekt bezeichnete. Während er mit beiläufigem Hinweis auf die Verbindungen, über die er verfüge, die Möglichkeit andeutete, den Knaben in der Schule eines oberösterreichischen Stiftes unterzubringen, war Franz unversehens aus dem Zimmer ver schwunden, und die Mutter wußte, daß er nicht so bald wiederkommen würde. Sie entschuldigte ihn bei dem Professor: an schönen Abenden pflege er mit Schulkameraden ein wenig in die freie Luft zu gehen. Der Professor schien eher erfreut, mit Therese allein zu sein. Von dem Stift wollte sie nichts wissen, und auf eine neue, vorsichtig geäußerte Anregung des Professors, Adoptiveltern für das Kind zu suchen, wiederholte Therese mit Entschiedenheit, daß sie sich von ihrem Sohn unter keinen Umständen trennen werde. Der Professor zeigte sich nachgiebig, seine Augen begannen zu flackern, er rückte Theresen näher, versuchte kühner zu werden und erschien ihr mit jedem Augenblick nur lächerlicher und widerwärtiger. Sie überlegte eben, ob sie ihm nicht ein für allemal die Türe weisen sollte, da klopfte es, und zu Theresens Befremden trat Sylvie ein, die sich schon viele Wochen nicht hatte blicken lassen. Eine flüchtige Vorstellung erfolgte, der Professor sprach die Hoffnung aus, Theresen am nächsten Sonntag bei ihrem Bruder zu begegnen, und ging.

Sylvie war blaß und erregt. Hastig fragte sie Therese, ob sie heute noch keine Zeitung gelesen habe. »Was ist geschehen?« fragte Therese. – »Richard hat sich umgebracht«, erwiderte Sylvie. – »Um Gottes Willen«, rief Therese aus, und hilflos legte sie ihre Hände auf Sylviens Schultern. Sie habe Richard schon lange nicht mehr gesehen. Und Sylvie, mit gesenktem Blick, gestand, daß sie umso öfter mit ihm zusammengewesen war. Therese verspürte keinerlei Eifersucht, aber auch keinen wirklichen Schmerz. Sie war mit einemmal die Überlegene; sie war es, die die Freundin zu trösten hatte. Sie strich ihr über die Haare, streichelte ihr die[796] Wangen, niemals noch hatte sie sich ihr so schwesterlich nahe gefühlt. Und Sylvie erzählte. Heute in den Morgenstunden war es geschehen. Die Nacht hatte er mit ihr verbracht. Gerade diesmal war er besonders wohlgelaunt gewesen, im Fiaker hatte er sie bis zum Tor ihres Hauses begleitet, ihr aus dem Wagen zugewinkt, dann war er in den Prater gefahren, und im Wagen hatte er sich erschossen. Sie hatte es schon lange kommen sehen. – »Schulden?« fragte Therese. – Nein. Gerade in der letzten Zeit habe er bei den Rennen immer gewonnen. Aber das Leben war ihm zuwider. Die Menschen vielmehr. Alle beinahe. »Sie, Therese, hat er sehr gern gehabt«, sagte Sylvie. »Viel, viel lieber als mich. Wissen Sie, warum er Sie nicht mehr sehen wollte?« – Therese faßte erregt nach Sylviens Hand und schaute ihr fragend ins Auge. »Die ist zu gut für mich. Das waren seine Worte. Trop bonne.« Und beide weinten.

Zwei Tage darauf, zur Einsegnung, waren sie beide in der Kirche. Nach Schluß der Zeremonie bewegte sich der Zug der Trauernden an Therese vorüber, die weit rückwärts am Ende einer Bank saß. Richards Mutter, eine hagere, blasse Frau, in deren verschlossenen, hochmütigen Zügen Therese etwas von Richards Ausdruck wiederzufinden glaubte, streifte so nahe an ihr vorbei, daß sie unwillkürlich fortrückte. Im gleichen Augenblick, es war ihr peinlich, ergriff Sylvie heftig ihren Arm. Die Trauergäste kamen vorüber; auch bekannte Gesichter sah Therese unter ihnen, darunter den Bankdirektor, in dessen Hause sie zuletzt in Stellung gewesen war und der sie anstarrte, ohne sie im Dämmerlicht der Kirche zu erkennen, und einen jungen Menschen, der einmal ihr Geliebter gewesen war, den Krauskopf. Mit dem Taschentuch, als wenn sie weinte, verbarg sie ihr Gesicht. Sie sah dem Sarg nach, während er durch das Kirchentor ins Freie hinausgetragen wurde, wo ein dunkelblaues Sommerlicht ihn empfing. Jener Abend in den Donauauen fiel ihr ein, der in wenigen Tagen sich zum zweitenmal jähren mußte. Zu gut für ihn? dachte sie. Warum eigentlich? Als ob sie überhaupt für jemanden zu gut oder zu schlecht wäre. Sie hörte, wie draußen der Leichenwagen sich in Bewegung setzte. Das Kirchentor schloß sich langsam, Duft von Weihrauch war um sie. Sylvie hatte den Kopf auf dem Betpult liegen und schluchzte leise. Therese erhob sich lautlos und ging allein. Ein lauer Sommertag nahm sie draußen auf. Sie mußte rasch nach Hause, um fünf Uhr erwartete sie Zöglinge zum Unterricht.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 793-797.
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