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[803] Zu Beginn des Winters geschah es, daß sie Alfred in der Stadt zufällig begegnete. Auf ihren letzten Brief war keine Antwort erfolgt. Er behauptete, niemals einen erhalten zu haben. Anfangs ein wenig kühl und nicht ganz unbefangen ihr gegenüber, war er bald wieder so herzlich wie nur je. Die Art, wie er von seiner jungen Gattin sprach, ließ nicht auf besondere Leidenschaft von seiner Seite schließen. Therese stellte sie sich sofort als eine dürftige, blasse, deutsche Kleinstädterin vor, an deren Seite er sich gewiß oft nach ihr, Theresen, zurücksehnte. Er gefiel ihr besser denn je. Auch auf seine äußere Erscheinung schien er mehr Sorgfalt aufzuwenden, als er es früher getan. Sie verabredeten nichts, als sie voneinander Abschied nahmen, aber nun war er wieder da, und es lag nur an ihr, ihn wiederzusehen, wann sie wollte. Sie träumte sich in eine neue Verliebtheit und war beglückt. Sie begann wieder frischer und jünger auszusehen. Ein junger Mann, fast Knabe noch, der manchmal seine Schwester von ihrer Lektion bei Therese abholte, verliebte sich in sie. Einmal erschien er am frühen Morgen, um ihr eine Bestellung von seiner Schwester zu überbringen. Seine Schüchternheit belustigte sie; sie kam ihm ein wenig entgegen. Er blieb so schüchtern, wie er war, verstand wohl kaum ihr Lächeln, ihre Bücke, – als er wieder fort war, schämte sie sich und benahm sich von nun an völlig abweisend gegen ihn.

Eines Tages wurde Therese wieder in die Schule beschieden und erfuhr, daß Franz seit vielen Wochen nicht mehr dort gewesen war. Sie war nicht sonderlich überrascht. Als sie ihn daheim zur Rede stellte, teilte er ihr seinen Entschluß mit, als Matrose auf ein Schiff zu gehen. Therese besann sich, daß er Ähnliches schon früher geäußert, daß auch in seinem Gespräch mit Agnes, dem sie beigewohnt, flüchtig davon die Rede gewesen war. Nun aber schien es ihm ernst damit zu sein. Therese hatte nichts dawider, ja, sie sprach mit ihm diesen Plan gründlich durch, und nach langer Zeit redeten sie vernünftig und geradezu freundschaftlich miteinander, nicht wie Feinde, die zusammen unter einem Dache wohnen mußten. Aber in den nächsten Tagen war von diesem Plan nicht weiter die Rede. Therese getraute sich nicht, darauf zurückzukommen, als fürchtete sie sich, dereinst den Vorwurf hören zu müssen, daß sie selbst ihn in die Welt hinausgetrieben habe.

Ein hoch aufgeschossener Bursch, angeblich Verkäufer in einem Delikatessengeschäft, war in der letzten Zeit zuweilen in der[804] Wohnung erschienen, holte Franz ins Theater ab, für das er, wie er erzählte, immer Freibilletts geschenkt bekomme. Nach dem Theater pflegte Franz bei seinem Freund zu übernachten, wie er wenigstens der Mutter sagte. Einmal geschah es, daß er auch den ganzen nächsten Tag nicht nach Hause kam. In einer plötzlichen Angst, die sie sich eigentlich schon abzugewöhnen begonnen hatte, lief sie zu den Eltern seines Freundes, und sie erfuhr, daß auch der noch nicht daheim war. Am selben Abend noch wurde Therese auf die Polizei beschieden. Es ergab sich, daß Franz zusammen mit einigen anderen, durchaus halb erwachsenen Burschen und Mädchen aufgegriffen worden war, die einer jugendlichen Diebesbande angehörten. Franz als der einzige, der noch nicht das sechzehnte Jahr erreicht hatte, wurde seiner Mutter zur häuslichen Züchtigung übergeben. Der Kommissär ließ ihn hereinführen, redete ihm ins Gewissen und sprach in gleichgültiger, wie auswendig gelernter Rede die Hoffnung aus, daß ihm diese Erfahrung zur Lehre dienen und daß er von nun an ein anständiger Mensch bleiben werde. Schweigend ging Therese mit ihrem Sohn nach Hause. Sie trug das Abendessen auf wie gewöhnlich. Endlich entschloß sie sich, Fragen an ihn zu stellen. Er erwiderte anfangs in sonderbar geschraubter Weise, wie eine Verteidigung, die er sich schon zur Verantwortung vor Gericht einstudiert hatte. Hörte man ihm zu, so war das Ganze eigentlich nur ein Spaß gewesen. Es war ja auch wirklich nichts gestohlen worden. Als Therese ihm ins Gewissen zu reden versuchte, schien er ihr nicht so verstockt, als er es sonst zu sein pflegte, ja, es war, als hätte ihm das erzwungene Geständnis in Anwesenheit der Mutter eine Aufrichtigkeit leicht gemacht, zu der er bisher nicht den Mut gefunden. Er erzählte von den Freunden und Freundinnen, mit denen er abends zusammenzutreffen pflegte, und es war anfangs wirklich so, als wenn nur von Kinderspielen die Rede wäre, die sie trieben. Er nannte Namen, die unmöglich wirkliche sein konnten, es waren, wie er zugestand, Spitznamen von sonderbarem Klang und zweideutigem Sinn. Allmählich schien er zu vergessen, daß es seine Mutter war, die ihm gegenübersaß. Er erzählte von Praternächten des vergangenen Sommers, wo sie alle, Buben und Mädeln, in den Auen geschlafen hatten, und erst als ihn ein entsetzter Blick der Mutter traf, lachte er kurz und frech auf und verstummte. Und sie wußte, daß diese plötzliche Freimütigkeit ihn ihr endgültiger und rettungsloser entfremdet hatte als irgend etwas je zuvor.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 803-805.
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