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[825] Thilda kam weiter regelmäßig in den Kurs, sprach aber weder jemals von ihrem Bräutigam noch überhaupt von der Tatsache ihrer bevorstehenden Heirat, so daß Therese sich zuweilen mit der Hoffnung schmeichelte, das Verlöbnis sei gelöst worden. Doch als sie an einem der nächsten Sonntage wieder einmal bei Wohlscheins zu einem Mittagessen geladen war, an dem auch die Schwester des Hausherrn teilnahm, war kaum von etwas anderem die Rede als von Dingen, die mit der Hochzeit in Zusammenhang standen, von holländischen Sprachstunden, die Thilda in der letzten Zeit nahm und von denen Therese erst jetzt erfuhr, von der Ausstattung, von der Villa des Herrn Verkade am Strande von Zandvord, von der Farm in Java, die einem seiner Brüder gehörte. Und Herr Wohlschein war heute keineswegs verstimmt oder nachdenklich, er war geradezu vergnügt, als wäre diese Heirat ganz nach seinem Sinn und das Natürlichste von der Welt, daß man sein eigenes Kind, das einem durch Jahre so unendlich nahe gewesen, eines Tages einfach in die Welt hinausschickte mit einem fremden Mann, um es für ewig zu verlieren.

Früher als anfänglich festgesetzt, in den ersten Julitagen schon, fand im Rathaus die Hochzeit statt. Therese erfuhr es tags darauf aus einer gedruckten Anzeige, die die Post ihr brachte. Als sie die Karte in der Hand hielt, glaubte sie dergleichen vorher geahnt zu haben; es war ihr, als hätte Thilda ihr neulich nach der letzten Unterrichtsstunde bedeutungsvoller als sonst die Hand gedrückt; und auch eines Blickes von der Türe her erinnerte sie sich, in dem zwar ein gewisser Ausdruck des Bedauerns, zugleich aber eine Spur von Spott gelegen war, wie der eines Kindes, dem ein Streich geglückt, dessen Tragweite für den Betroffenen es gar nicht zu beurteilen vermöchte. Trotzdem hoffte Therese, wenigstens an einem der nächsten Tage von der Hochzeitsreise aus eine persönliche Nachricht zu erhalten; aber nichts dergleichen kam und sollte noch lange nicht kommen; kein Brief, keine Karte, kein Gruß.

An einem schönen Sommerabend gegen Ende der Woche nahm Therese den Weg nach Mariahilf mit dem uneingestandenen Vorsatz, Herrn Wohlschein nachträglich zur Vermählung der Tochter ihren Glückwunsch abzustatten. Doch als sie vor dem Hause stand, sah sie alle Fenster verhängt, und es fiel ihr ein, daß vor Wochen schon Herr Wohlschein die Absicht ausgesprochen,[826] sofort nach der Verheiratung seiner Tochter einen Urlaub anzutreten. Langsam machte sie sich auf den Rückweg durch die sommerschwülen, ziemlich leeren Straßen nach ihrem einsamen Heim. Denn auch Franz war nicht mehr da. Am Morgen vorher hatte Therese ihn hinausgewiesen, da er spät nachts in Gesellschaft eines Freundes und irgendeines Frauenzimmers nach Hause gekommen war, die sie zwar beide nicht gesehen, deren Flüstern und Lachen sie aber aus dem Schlaf geweckt. Franz hatte zuerst zu leugnen versucht, daß auch eine Frauensperson dagewesen war, bald aber, mit einem höhnischen Achselzucken, gab er es zu, packte seine Sachen zusammen, und ohne Gruß war er aus der Wohnung verschwunden.

Als der Juli fortschritt und nun auch die letzten Schülerinnen auf Sommerferien gegangen waren, wurde die Einsamkeit um Therese eine vollkommene. Ihrer Gewohnheit nach stand sie früh am Morgen auf und wußte kaum, was mit dem Tag beginnen. Die häusliche Arbeit war rasch geleistet, Vormittagsgänge in den heißen Straßen der Stadt ermüdeten sie, nachmittags versuchte sie zu lesen, meist Romane, die sie entweder langweilten oder in ihrer Ausmalung bewegterer Lebensschicksale und zärtlicher Liebesgeschichten unnütz und oft schmerzlich erregten.

Mit der tiefsten Traurigkeit aber erfüllten sie Abendspaziergänge auf dem Ring oder in Parkanlagen. Immer noch geschah es, daß sich in den Dämmerstunden irgendein Herr, der auf Abenteuer aus war, an ihre Schritte heftete, aber sie hatte eine Scheu, sich ansprechen oder gar begleiten zu lassen. Sie wußte, daß ihre Erscheinung im ganzen immer noch jugendlich genug wirkte, sie selbst aber trug unausgesetzt das Bild in sich, das ihr der Spiegel des Morgens nach dem Aufstehen zu zeigen pflegte: ein blasses, feines, aber vor der Zeit verblühtes Antlitz mit zwei dicken grauen Strähnen in dem immer noch vollen braunen Haar. Wenn dann die Einsamkeit, die sie tagsüber mit leidlicher Geduld getragen, wie eine immer schwerere Last auf ihre Schultern drückte, kam ihr wohl flüchtig der Gedanke, das Haus des Bruders aufzusuchen, aber sie schreckte doch davor zurück, unsicher, in welcher Weise, ja ob man sie dort überhaupt empfangen würde. Die Mutter aber wiederzusehen, empfand sie eine fast noch größere Scheu, gerade weil sie einen Besuch bei ihr innerhalb des letzten Jahres immer wieder aufgeschoben hatte.

Und doch, an einem strahlenden Sommermorgen, machte sie sich plötzlich, als wäre ihr der Entschluß im Traum gekommen,[827] auf den Weg zu ihr. Nicht Sehnsucht war es, nicht das Gefühl einer lang versäumten Pflicht, von der sie plötzlich dorthin getrieben wurde, sondern einfach die Tatsache, daß sie niemanden andern wußte, von dem sie sich das Geld hätte leihen können, um ein paar Wochen in Ruhe auf dem Land zu leben. Denn der Wunsch, auf ein paar Tage wenigstens die Stadt zu verlassen, aufs Land zu fliehen, war so übermächtig in ihr geworden, als hinge von seiner Erfüllung ihre Gesundheit, ja ihr Leben ab. Und diese Begriffe: Land, Ruhe, Erholung, stellten sich ihr seit einiger Zeit immer unter dem gleichen Bilde dar: unter dem einer bestimmten Wiese in Enzbach, wo sie vor vielen, vielen Jahren mit einem kleinen Buben gespielt hatte, der damals ihr Kind gewesen war.

Die Mutter wohnte in einem häßlichen vierstöckigen Zinshaus der Hernalser Hauptstraße, in einem armseligen Kabinett bei einer Beamtenswitwe. Es war Theresen unbekannt, ob die Mutter das Geld, das sie ein paar Jahre hindurch reichlich verdient, in einer unglücklichen Spekulation verloren, ob sie es töricht verschenkt hatte oder ob es nur ein krankhafter Geiz war, der sie ein so klägliches Leben führen ließ. Doch so gering demnach die Aussichten auf ein Darlehen von dieser Seite waren – vielleicht war es die Dringlichkeit ihres Wunsches, vielleicht die anfängliche Freude der Mutter über den unerwarteten Besuch, vielleicht nur die abergläubische Zuversicht, mit der Therese ihre Bitte vorbrachte –, ohne Zögern fast fand sich die Mutter bereit, Theresen hundertfünfzig Gulden zur Verfügung zu stellen, gegen einen Schuldschein allerdings, mit Rückzahlungsverpflichtung spätestens ersten November und einer Verzinsung von monatlich zwei Prozent bei Nichteinhaltung des Termins. Im übrigen fragte sie die Tochter kaum, wozu sie den Betrag benötige, fragte überhaupt nach nichts, was jene betraf, schwätzte nur in einer seltsam hemmungslosen Weise von alltäglichen Wirtschaftsdingen, geriet von da aus auf den gleichgültigsten Nachbarnklatsch, zeigte ihr dann unvermittelt das Manuskript ihres neuen Romans, hunderte eng beschriebene Blätter, die sie in der Lade des Küchentisches aufbewahrt hatte, beantwortete eine Frage Theresens nach der Familie des Bruders zerstreut und unklar, grüßte vom offenen Fenster aus zu einer Frau gegenüber, die die Blumen auf dem Fensterbrett begoß, und ließ die Tochter endlich gehen, ohne den Versuch, sie noch eine Weile zurückzuhalten oder sie zum Wiederkommen aufzufordern.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 825-828.
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