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[830] Die Schülerinnen sammelten sich allmählich, auch ein Kurs kam wieder zustande, und ausgeruht und frisch, wie sie nun war, kam sie ihren Pflichten mindestens ohne Überwindung nach. Nach ihrer Art trat sie allen Schülerinnen mit der gleichen, etwas gleichgültigen Freundlichkeit gegenüber, und wenn ihr auch die eine oder andere mehr Sympathie einflößen mochte, eine Thilda war nicht unter ihnen. – Da geschah es an einem Nachmittag, daß sie in der inneren Stadt einen bürgerlich elegant gekleideten älteren Herrn mit steifem, schwarzem, ganz wenig auf die Seite gerücktem Hut begegnete, in dem sie erst, als er ihr Aug' in Aug' gegenüberstand, Herrn Wohlschein erkannte. Sie lächelte über das ganze Gesicht, als wäre ihr ein unerwartetes Glück geschehen, auch er war sichtlich erfreut und schüttelte ihr kräftig die Hand.

»Warum sieht man Sie denn gar nicht, liebes Fräulein? Ich hätte Ihnen schon geschrieben, ich wußte aber leider Ihre Adresse nicht.«

Nun, dachte Therese, die wäre wohl zu erfahren gewesen. Aber sie unterließ jede Bemerkung und fragte gleich: »Wie geht es Thilda?«

Ja, wie mochte es der wohl gehen? Nun waren es wieder einmal vierzehn Tage oder mehr, daß Herr Wohlschein keine Nachricht von ihr hatte. Übrigens war es kein Wunder, denn die Hochzeitsreise des jungen Paares – wie, auch das wußte Fräulein Fabiani nicht? – sei zu einer Art Reise um die Welt geworden. Und jetzt befanden sie sich wohl irgendwo auf dem Weltmeer, und vor dem Frühling würden sie nicht wieder zurück sein. »Und Sie, Fräulein Fabiani, haben wirklich noch gar keine Nachricht von Thilda?« – Und da sie, fast beschämt, den Kopf schüttelte, zuckte er die Achseln. »Ja, so ist sie nun einmal, und dabei – Sie können mir glauben – für Sie, Fräulein Fabiani, hat sie eine ganz besondere Zuneigung gehabt.« Und er redete weiter von der geliebten, fernen Tochter, die man nun einmal nehmen müsse, wie sie sei, sprach von seinem trübseligen, leeren, großen Haus, seinen langweiligen Whistpartien im Klub und von dem traurigen Schicksal, sich eines schönen Tages, nachdem man manches Jahr hindurch ein Mann mit Weib und Kind gewesen, ganz unversehens als eine Art von Junggeselle oder Hagestolz wiederzufinden, als wären zehn Jahre glücklicher und ein paar Jahre unglücklicher Ehe, als wäre dieses ganze Dasein mit Frau und Kind überhaupt nur ein Traum gewesen.

Sie wunderte sich, daß er sich ihr gegenüber so offen, freundschaftlich[831] geradezu aussprach, und hörte ihm wohl an, daß er froh war, sich allerlei vom Herzen reden zu können. Plötzlich aber, nach einem Aufseufzen, sah er auf die Uhr und bemerkte, daß er heute abend mit einem guten Bekannten ins Theater gehe, zu einer Operette, um die Wahrheit zu gestehen, nicht etwa zu einem klassischen Stück, denn er brauche dringend Zerstreuung und Aufheiterung. Ob Fräulein Fabiani nicht auch manchmal das Theater besuche? – Therese schüttelte den Kopf: seit jenem Abend in der Oper hatte sie keine Gelegenheit mehr dazu gehabt – und keine Zeit. – Ob sie denn noch immer so viele und – er zögerte ein wenig –, und auch so schlecht bezahlte Lektionen gäbe? – Sie zuckte die Achseln, leise lächelnd, und sie merkte, daß ihm noch weitere Fragen auf den Lippen schwebten, die er vorläufig doch lieber unterließ. Und er empfahl sich ein wenig überhastet mit einem herzlichen, aber keineswegs verpflichtenden: »Auf Wiedersehen!« Sie spürte im Weitergehen, daß er stehengeblieben war und ihr nachschaute.

Am nächsten Sonntag aber brachte ihr morgens die Post einen Expreßbrief mit einem Theaterbillett, dem eine Visitenkarte beigelegt war: »Siegmund Wohlschein, Leder- und Galanteriewarenhandlung, gegründet 1804.« Irgend etwas der Art hatte sie wohl erwartet, nur war die Form der Einladung nicht recht nach ihrem Geschmack; immerhin leistete sie ihr Folge. Das Haus war schon verdunkelt, als Herr Wohlschein erschien, neben ihr Platz nahm und eine Tüte Bonbons in ihre Hand drückte. Sie nickte zum Dank, ließ sich aber weiter nicht stören. Die schmeichelnden Tanzmelodien behagten ihr, der spaßige Text unterhielt sie; sie fühlte selbst, daß ihre Wangen sich allmählich röteten, ihre Züge sich strafften, daß sie von Szene zu Szene gewissermaßen jünger und hübscher wurde. Herr Wohlschein war in den Zwischenakten recht galant zu ihr, aber doch nicht ganz unbefangen, und als das Stück zu Ende war, beim Fortgehen und in der Garderobe, hielt er sich wohl in ihrer Nähe, aber nicht wie jemand, der unbedingt zu ihr gehörte, sondern etwa so, als hätte man einander zufällig im Theater begegnet.

Es war ein schöner klarer Herbstabend, sie wollte gern zu Fuß gehen, er begleitete sie den langen Weg nach Hause; jetzt erst sprach er von Thilda, von der natürlich noch immer keine Nachrichten gekommen seien. Seine Einladung zum Abendessen lehnte sie ab, er drang nicht in sie und nahm an ihrem Haustor höflichen Abschied.[832]

Die Woche war noch nicht abgelaufen, als Herr Wohlschein Therese neuerlich zu einem Theaterbesuch einlud, diesmal zur Aufführung eines modernen Gesellschaftsstückes im Volkstheater; und nachher in einer behaglichen Gasthausecke bei einer Flasche Wein plauderten sie miteinander weit unbefangener und angeregter als das letztemal; er, andeutungsweise, von den letzten schweren Jahren seiner Ehe; sie von manchen trüben Erfahrungen ihres Daseins, ohne daß irgendein Erlebnis in bestimmteren Umrissen erschienen wäre, doch sie fühlten beim Abschied beide, daß sie heute viel vertrauter geworden waren.

Tags drauf, mit einem Strauß von Rosen, sandte er ihr die Bitte, ihn am nächsten Sonntag – »zur Erinnerung an Thilda« – auf einem Spaziergang in den Wiener Wald zu begleiten. Und so wanderte sie mit ihm im ersten milden Schneefall dieses Winters denselben Weg, wie sie ihn an jenem Frühlingstag vor einem halben Jahr in Gesellschaft von Thilda gewandert waren. Wohlschein hatte drei Ansichtskarten von Thilda mitgebracht, die, alle zugleich, gestern angelangt waren. Auf einer stand als Nachschrift zu lesen: »Und möchtest du dich nicht auch einmal um Fräulein Fabiani kömmern? Sie wohnt Wagnergasse 74, zweiten Stock. Grüße sie vielmals, ich schreibe ihr demnächst ausführlich.« Auf diesem Spaziergang war es auch, daß Therese Herrn Wohlschein zum erstenmal von ihrem Sohn erzählte, der vor einem Jahr nach Amerika ausgewandert sei und von dem sie seither nichts mehr gehört habe.

Nach einigen weiteren gemeinsamen Abenden in Theatern und Restaurants wußte Herr Wohlschein nicht wenig von Therese trotz aller Flüchtigkeiten und willkürlichen Abänderungen, die sie sich in ihren Erzählungen gestattete und die er gläubig hinnahm. Er selbst sprach auch weiterhin viel von seiner Frau und zu Theresens Verwunderung immer in einem Ton von Hochachtung, fast von Anbetung, wie von einem besonderen Wesen, das man nicht mit dem gleichen Maße messen dürfe wie andere Menschenkinder; und Therese glaubte zu fühlen, daß Wohlschein Thilda eigentlich vor allem als die Tochter dieser ihm verlorenen Frau liebte, mit der sie manche verwandte Züge zu haben schien; und sie wußte, daß sie, Therese, ihr die echtere, in sich selbst ruhende, unmittelbarere Liebe entgegenbrachte.

Auch in den nachfolgenden Wochen änderte sich zwischen Wohlschein und Therese nicht viel. Sie gingen miteinander in Theater und Gasthäuser; er schickte ihr weiter Blumen, Backwerk;[833] und endlich kam ein ganzer Korb mit Konserven, Südfrüchten und Wein, was sie ihm, nicht sehr ernsthaft, verwies. Als Anfang Dezember zwei Feiertage aufeinanderfolgten, lud er sie zu einem Ausflug in eine kleine Ortschaft am Fuße des Semmering ein. Sie war überzeugt, trotz seiner bisherigen Zurückhaltung, daß er mit dieser Einladung bestimmte Absichten verband, und nahm sich sogleich vor, sich nichts zu vergeben. Auf der Fahrt wurde er in einer etwas ungeschickten Weise zärtlich, was sie sich milde gefallen ließ; daß ihre Zimmer im Gasthof nicht nebeneinander lagen, beruhigte und enttäuschte sie zugleich. Immerhin sperrte sie ihre Türe nicht ab und erwachte am nächsten Morgen nach einem köstlichen Schlaf so allein, als wie sie sich zu Bette gelegt hatte. Wie respektvoll! dachte sie. Doch als sie sich beim Ankleiden in dem großen Schrankspiegel betrachtete, glaubte sie plötzlich die Ursache seiner Zurückhaltung anderswo zu entdecken. Sie war einfach nicht mehr schön genug, um einen Mann zu reizen. Wenn auch ihr Körper seine jugendlichen Formen bewahrt hatte, ihre Züge waren ältlich und vergrämt. Wie konnte es auch anders sein. Sie hatte zu viel erlebt, zu viel erlitten, sie war Mutter, die ledige Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, und lange schon hatte kein Mann sie begehrt. Und sie selbst, hatte sie denn diesem älteren, gewöhnlichen Herrn gegenüber jemals irgend etwas wie eine Verlockung gespürt? Er war der Vater einer ihrer Schülerinnen, der ihr um seiner Tochter willen mit einer gewissen Sympathie entgegenkam, und einfach aus Gutherzigkeit hatte er sie für zwei Tage in die frische Winterluft mitgenommen. Nur ihre immer wieder verderbte Phantasie, so sagte sie sich, hatte ihr die Möglichkeit eines Liebesabenteuers vorgespiegelt, nach dem sie sich selbst nicht einmal sehnte.

Als sie fertig angekleidet war, in ihrem Touristenkostüm, erschien sie sich wieder frischer, jünger, an mutig beinahe. Nach einem gemeinsamen Frühstück in dem zirbelholzduftenden Gasthofzimmer, aus dessen Ecke der hohe Kachelofen knisternde Wärme verbreitete, fuhren sie im offenen Schlitten zwischen Kiefern und Tannen durch ein enges Tal, saßen mittags inmitten eines beschneiten Wiesenplanes im Freien, von der Sonne so prall beschienen, daß Therese ihre Jacke, Herr Wohlschein seinen kurzen Pelz ablegte, worauf er in Hemdärmeln, den Jägerhut mit Gemsbart auf dem Kopf und mit dem aufgezwirbelten schwarzen, schneefeuchten Schnurrbart eigentlich etwas komisch aussah.[834] Auf der Rückfahrt wurde es rasch empfindlich kalt, man war recht froh, wieder in dem behaglichen Gasthof einzukehren, und nahm das Abendessen in Theresens Zimmer, wo es gemütlicher war als unten in der Wirtsstube. Am nächsten Morgen fuhren sie nach Wien zurück als ein Paar, das sich endlich gefunden.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 830-835.
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