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[852] In seinen letztwilligen Verfügungen hatte Wohlschein ein ganz einfaches Begräbnis bestimmt. Universalerbin war Thilda. Legate waren ausgesetzt für wohltätige Zwecke; für seine geschiedene Frau war ausreichend gesorgt, die langjährigen Angestellten aus der Fabrik waren nicht vergessen, die Dienstboten gingen nicht leer aus, die Klavierlehrerin, zwei frühere Erzieherinnen Thildas und Fräulein Therese Fabiani, diese nach einem Kodizill aus dem vergangenen Sommer, erbten je tausend Gulden. Durch eine besondere Verfügung war dafür gesorgt, daß die Legatäre sofort nach Eröffnung des Testaments verständigt werden und ihre Anteile ausbezahlt erhalten sollten.

Therese war zum Anwalt beschieden, um den für sie bestimmten Betrag persönlich in Empfang zu nehmen. Der Anwalt, in dem sie einen der Herren erkannte, die sie am Todestag in der Wohnung des Verstorbenen angetroffen hatte, schien eingeweiht, und er bemerkte bedauernd zu Fräulein Fabiani, daß Herr Wohlschein leider allzu früh abberufen worden sei. Er habe, wie der Anwalt nicht verschwieg, kurz vor seinem Tode die Absicht geäußert, wesentliche Änderungen an dem Testament vorzunehmen, dies aber nach leidiger Gewohnheit immer aufgeschoben, bis es zu spät geworden war.

Therese war kaum enttäuscht. Sie merkte nun erst, daß sie niemals ernstlich erwartet hatte, Frau Therese Wohlschein zu heißen, daß sie nie geglaubt hatte, es würde ihr jemals ein ruhiges, sorgenfreies Leben beschieden sein und sie könnte je die Stiefmutter von Frau Thilda Verkade werden.[852]

Wie andere Verwandte und Bekannte stand auch sie am nächsten Morgen an Wohlscheins Grabe, und wie jene andern ließ sie eine Erdscholle auf den Sarg gleiten. Auch Thilda war anwesend; ein Blick wurde zwischen den beiden Frauen über das Grab hin gewechselt, und in den Augen Thildas schimmerte so viel Wärme und Verstehen, daß in Therese eine unbestimmte Hoffnung und fast eine Ahnung von Glück aufstieg. Ganz in Schwarz, am Arme ihres hochgewachsenen Gemahls, ihm so nah, wie sich Therese Thilda niemals an irgendeines Menschen Seite geschmiegt hatte vorstellen können – so sah Therese sie nach Abschluß der Zeremonie durch das Friedhoftor schreiten und verschwinden. Am nächsten Nachmittag hätte Therese auf Thildas Wunsch sie in der Zieglergasse besuchen sollen, sie fand die Kraft nicht, hinzugehen. Am nächsten Morgen, als sie vorsprechen wollte, war die Tochter des Verstorbenen mit ihrem Gatten schon abgereist.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 852-853.
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