Erster Lehrsatz.

[32] Alle einsüßige Wörter haben in gebundener Rede 2. die Mittlere Wortzeit / das ist / kůnnen bey des kurtz und lang / doch mit vernünfftlichen Unterscheide 3. gebrauchet werden.

Omnia monosyllaba in versu Germanico ancipitis quantitatis esse possunt.

2. Es wird hie gesagt in gebundener Rede / weil wir von der Reimkunst / und nicht von der Redekunst handelen: Dann in einer ungebundenen tapfferen dringenden Rede wird man die starck klingenden Stammwörter / so auff etwas sonderliches deuten / mit sonderbahrem Trucke vnd haltendem Laute außsprechen müssen: In einem Teutschen Verse aber kan man das Stamm Wort / es habe einen so starcken Thon / und so viele Letteren / als es wolle / dennoch wol zu einem kurtzen Laute machen; Sonderlich wann ein fliessender Buchstab oder Selblautender in folgender Silbe daran stosset.

Welches überal von guten Teutschen Poeten ist[32] geschehen / und hat auch Vermöge / der Sprachgründen geschehen künnen: wie folgens mit gnugsamen Exempel bewiesen.

3. Mit vernünfftlichem Unterscheide wird vermeldt / gehet solches dahin / daß die Freyheit der Mittleren Wortzeit in obgedachten einsilbigen Wörteren / nicht also mißgebrauchet werde / daß man zu offt / ohn unterscheid / und ohn alles auffmercken deß beywohnenden klanges / solche einsilbige Wörter mit menge bey einander bringe / und die Wortzeit darin / nach zwang eines abmessens / deutele und dringe: Denn solches ist unangenehm und erwehnter Freyheit ungemeß.


Folgende Verse sein Jambisch:


∪ – ∪ – ∪ – ∪

Arm bin ich ja zu nennen

Doch wil der HErr mich kennen /

Er denckt an seine Pflicht.

Du bist mein Schutz allein /

Mein Retter auß der Pein

O mein Gott säume nicht:


Op. Ps: 40.


Im folgenden aber sind die Reime Trogaisch / und also die einsilbigen / welche zuvor kurtz / werden hie lang & vice versa:


– ∪ – ∪ – ∪ – ∪

Arm bin ich ja gar zu nennen

Doch wil Gott der Herr mich kennen

Er denckt stets an seine Pflicht.

Du bist mein Schutz nur allein

Mein Erretter auß der Pein

O mein Gott dich säume nicht.
[33]

Diese Reime sind Trogaisch:


1.

– ∪ – ∪ – ∪ – ∪

Zu dir mein Gott wil ich tretten /

Nur mit seufftzen / nur mit beten;

Dich mit Demuth halten fest /

Gott du nimmer mich verlest:


Hie werden sie Jambisch / und die einsilbigen Wörter / so im vorigen kurtz / werden hie lang / & vice versa:


∪ – ∪ – ∪ – ∪ – ∪

Zu dir mein Gott wil ich hintreten

Nur mit dem seufftzen / mit dem beten /

Dich mit der Demuth halten fest.

Gott du ja nimmer mich verlest.


NB. Anmerckung.


Es wird von dieser algemeinen Regul außgenommen der einsilbige Langlaut / als: Beer / Meer /Schaaff / etc. davon im vorigen Capitel gesagt / denn solcher allemahl billich lang sein muß.

Quelle:
Justus Georg Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst. Lüneburg 1656, S. 32-34.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon