XIV

[274] Es war ein ganz ungewöhnlicher und außergewöhnlicher Zufall, daß ich bei meiner Ankunft in Paris die Bestätigung dessen erhalten sollte, wovon ich in Rom Zeugin gewesen, und was ich, als es mir Sir Ethelred erzählte, nicht glauben wollte, nämlich, daß das Laster der Leichenschändung in allen Schichten des Volkes verbreitet sei. Die blasierten Wohlhabenden werden durch krankhafte Gelüste zu dieser Sünde getrieben, während die ärmsten Leute darauf verfallen aus Not, weil sie ihre Begierden auf diese Weise gratis befriedigen können, dabei wahrscheinlich auch denken, die Toten verrieten sie nicht, sie hätten also keine schlimmen Folgen zu befürchten. Wenn ich die Wahrheit gestehen soll, so muß ich bekennen, daß ein vollkommen schöner Leichnam sehr oft viel weniger Abscheu und Ekel erregend ist, als so mancher lebende Körper, man muß nur jenes natürliche Grauen überwinden können, welches einem die Berührung eines so kalten, leblosen, steifen Körpers verursacht, so begreife ich wohl, daß auch darin eine Art Wollust liegen kann, erinnere ich mich doch, in einem Theaterstück gelesen zu haben, daß ein Roué jahrelang ein Weib suchte, welches kalt bei seinen Umarmungen bliebe, und als er endlich ein solches fand, sah er, daß es nach geschehenem Beischlaf tot war, es mußte also während des Aktes selbst gestorben sein.

Die beiden Pariser Fälle, welche viel von sich reden machten, werden Ihnen wohl bekannt sein, obschon Sie von den Journalen nur unvollkommen gegeben wurden, weil die Verhandlungen zu skandalös waren, um sie dem Publikum mitzuteilen; dennoch waren die Sitzungen der Assisen öffentlich, und ich habe sowohl Damen der hohen Aristokratie als auch der Demimonde gesehen, die ihnen beiwohnten.[275]

Meine eigenen Abenteuer in Paris waren von jenen in anderen Städten nicht viel verschieden, ich darf es also wagen, einiges darüber zu sagen, was ich von diesen beiden skandalösen Prozessen erfahren und zum Teil als Ohrenzeugin selber gehört habe. Beide waren beinahe gleichzeitig, d.h. obschon die Verbrechen nicht eben zu gleicher Zeit begangen wurden, denn bei dem einen der Verbrecher, einem Aristokraten, hatte die Familie alles angewendet, um die Sache zu vertuschen, und es wäre auch geschehen, wenn nicht neue Zeugen aufgetaucht wären und die Journale einen Lärm geschlagen hätten, namentlich aus Veranlassung des zweiten Falles, wo der Verbrecher, weil er der ärmeren Volksklasse angehörte, sogleich eingezogen und vor Gericht gestellt wurde. Bei dem ersten Falle wurde außer dem Verbrechen der Leichenschändung ein noch viel größeres, nämlich ein Mord, begangen, und es wurde nicht nur eine, sondern mehrere Personen ermordet, der Mörder aber und der Leichenschänder waren zwei verschiedene Individuen, doch standen sie miteinander in Verbindung.

Unter den vielen Zuchtpolizei- und Kriminalfällen in Europa mögen Ihnen, mein teurer Freund, gerade diese beiden entgangen sein, und ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich mich einer solchen Vernachlässigung Ihnen gegenüber schuldig machte, deshalb will ich Ihnen beide – eigentlich drei dieser Fälle, von welchen der eine rein Kriminalfall, der zweite ebenfalls, der dritte endlich nur ein Zuchtpolizeifall war, erzählen.

Im Fauburg Poisonnière lebte ein Fleischwarenhändler, dessen Fleischpasteten so berühmt waren ihrer Schmackhaftigkeit wegen, daß sein Laden stets überfüllt war von Menschen. Das gemeine Volk sprach über die Zubereitung seiner Waren viel Unsinn, und man brachte ihm auf, er benutze das[276] Fleisch menschlicher Leichname dazu. Eine Untersuchung fand bei ihm statt, und es stellte sich heraus, daß er zwar keine gewöhnlichen Fleischgattungen, doch nur die von Tieren dazu benutzte, und zwar zumeist von Hunden und Katzen, außerdem Eichhörnchen, Sperlinge usw. So oft eines Fleischhändlers Pastetchen in Ruf kamen, erneuerte sich auch das Geschwätz von menschlichen Leichnamen, doch diese unsinnigen Anklagen waren insgesamt unbegründet und wurden zuletzt von den Sanitätskommissionen und von der Polizei unberücksichtigt gelassen, ja selbst das Publikum glaubte nicht mehr daran.

Etwa 18 Monate vor meiner Ankunft in Paris fand die Arretierung eines Barbiers wegen Ermordung eines seiner Kunden statt, dem der Barbier die Kehle abgeschnitten. Die Untersuchung ergab, daß er schon mehrere Mordtaten begangen hatte, um die Leichname an seinen Schwager, einen Fleischwarenhändler, zu verkaufen. Das Fleisch dieser Leichname aber war ganz zerschnitten, so daß die Mitschuld des Schwagers nicht klar erwiesen werden konnte. Im Verhör sagte der Mörder, einer seiner Kollegen täte dasselbe und verfolge dabei allerlei Zwecke, denn erstens gebe er die Leichname junger Mädchen, von welchen viele noch nicht einmal im Alter der Mannbarkeit waren, einem berüchtigten Wüstling preis, dann aber, wenn sie von diesem gemißbraucht waren, verkaufte er ihr Fleisch an Pastetenbäcker. Der Procureur-Général strengte gegen den Angeschuldigten eine Untersuchung an, doch dieser, der zufällig bei dem Verhöre des Barbiers gegenwärtig gewesen, fand Mittel, die Spuren seiner Schandtat zu beseitigen. Man fand zwar einige verdächtige Spuren: Blutspuren, Knochen usw. im Keller des zweiten Barbiers, doch er verstand es so gut, sich aus der Schlinge zu ziehen, daß ihm keine Mordtat[277] nachgewiesen werden konnte, und die Sache schlief wiederum ein.

Kurze Zeit, etwa sechs Wochen vor meiner Ankunft, stand ein Diener der Morgue vor dem Zuchtpolizeigericht, der dabei ertappt wurde, als er den Leichnam eines Mädchens, welches tot aus der Seine gezogen worden, schändete. Der Mann wurde zu einer zehnjährigen Galeerenstrafe verurteilt, welche Strafe vom Publikum und noch mehr von den Journalen für zu hart befunden wurde, weshalb auch die Zeit seiner Strafe vom Cassationshofe auf zweijährige Zuchthausstrafe herabgesetzt wurde, denn sein Vergehen wurde in dieselbe Kategorie gestellt wie Unzucht mit Tieren; ja, es gab einige, die behaupteten, eine einmonatliche Haft wäre auch eine genügende Strafe, nur des Skandals wegen.

Dieser Prozeß zog einen andern nach sich, einen, welcher durch das Geschrei der Zeitungen hervorgerufen worden war, nämlich gegen den Barbier, welcher gleichzeitig Pastetenbäcker war. Dieser Mensch, den seine vorhergehende Straflosigkeit vermessen gemacht hatte, dachte nicht im entferntesten daran, die ehemalige Anklage könnte gegen ihn erneuert werden, um so weniger, da er von seinem Mitschuldigen, dem zuliebe er die Mordtaten beging, geschützt zu sein wähnte. Er wurde also unversehens von der Polizei überfallen, und man fand den Leichnam eines zehnjährigen Mädchens in seinem Keller. Die ärztliche Untersuchung ergab, daß das Kind überdies genotzüchtigt worden war, obschon man nicht genau angeben konnte, ob diese Notzüchtigung noch während ihres Lebens oder nach dem Tode stattgefunden. Ein einziger Arzt meinte, das letztere müsse der Fall gewesen sein.

Der Mörder wurde von den Assisen zum Tode durch die Guillotine verurteilt; bis zur Bestätigung des Todesurteils durch den Cassationshof leugnete[278] der Verbrecher hartnäckig, Mitschuldige seiner Tat gehabt zu haben; er sagte, er habe die Mädchen ermordet, um ihr Fleisch zu Pasteten zu verwenden. Als er aber erfuhr, daß ihn nichts mehr vom Tode retten könnte, gestand er, der Herzog von P... habe ihm für die Schändung jedes Mädchenleichnams, welchen er durch ihn erhielt, 20 Napoleon-d'or gegeben, für einige noch mehr; ja daß es dieser hohe Kavalier war, der ihn dazu beredete, er möge die Mädchen zu sich locken und dann ermorden. Auch der Herzog wurde nun in Untersuchung genommen: er leugnete standhaft die Mitschuld an dem Verbrechen, doch waren die Anzeigen so erschwerend und die Schändung der Leichname durch ihn ziemlich klar dargelegt, obschon, daß er dem Barbier zugeredet, er möge die Mordtaten begehen, nicht bewiesen werden konnte; immerhin wußte er, daß die Mädchen ermordet worden waren; das mußte er sehen. Sein Anwalt verteidigte ihn so geschickt, daß ihm nur die Leichenschändung zur Last gelegt werden konnte, und seine Bestrafung war im Verhältnis zu seinem Vergehen eine geringe. Der Barbier war ehemals Kammerdiener bei dem Herzog gewesen, und die ganze Welt hatte die moralische Überzeugung seiner Schuld.

Ich habe nirgends ein solches Haschen nach sinnlichen Genüssen gefunden, wie in Paris. Die Leute müssen dort außerordentlich entnervt sein, daß sie an dem eigentlichen, natürlichen Begattungsakt beinahe gar kein Vergnügen finden; die Weiber der Demimonde aber suchen nicht einmal einen Genuß darin.

Der Zufall brachte es mit sich, daß ich eine der unterhaltenden Frauen näher kennenlernte. Sie war die Maitresse des russischen Fürsten M., eine selten schöne Person, und für ihr Alter noch sehr gut erhalten. Sie zählte nicht weniger als 33 Jahre. Ich[279] würde ihr nicht mehr als höchstens 25 zuerkannt haben. Ihr Geliebter, der Fürst, welcher ungeheure Summen auf sie verschwendete, fing an, sich mir zu nähern, und es würde mich nur ein Wort gekostet haben, um ihn ihr abwendig zu machen. Ich sagte ihm rund heraus, daß er jede Hoffnung aufgeben müßte, da ich mich niemandem ohne Liebe hingeben würde. Ich besaß durch die Großmut meines verstorbenen Freundes ein ansehnliches Vermögen. Der Russe mißfiel mir aber sehr. Erstens war er alt und häßlich, denn er mochte bereits die fünfziger Jahre überschritten haben, er trug eine Perücke und färbte seinen Schnurrbart. Ich fühlte seit jeher einen Widerwillen gegen Männer, die ihr Alter verheimlichen wollen. Sir Ethelred hatte ganz graue Haare, aber er würde sich geschämt haben, eine Perücke zu tragen. Des Russen Maitresse, Madame Camilla, mußte es mir danken, daß ich ihn abgewiesen, und stattete mir einen Besuch ab, um mir persönlich ihre Danksagung darzubringen.

»Ich hoffe wohl, daß Sie nicht glauben werden, ich könnte den Fürsten lieben«, sagte sie, »er gibt mir aber jährlich 120000 Francs. Dieses Verhältnis währt seit fünf Jahren, und ich möchte ihn noch ein paar Jahre behalten, damit ich es zu einer Million bringe. Ich besaß, ehe ich ihn kennenlernte, nahe an 200000 Francs; von diesen Einkünften verzehre ich nicht einen Sou. Man findet in Paris Gelegenheit, hinter dem Rücken einfältiger Männer auch andere Liaisons zu haben, wenn man nicht so dumm ist, selber zu lieben, was mir seit meiner Jugend niemals widerfahren. Sie staunen, Madame? Es ist dennoch so! Als Mädchen von 12 Jahren wurde ich von meiner Mutter einem alten Kavalier um 20000 Francs verschachert. Ich war schon in diesem zarten Alter pfiffig genug, um mir meine Unabhängigkeit zu sichern. Ich kannte die Theorie des Genusses, und aus[280] Mitteilungen, die mir meine Mutter machte, das Schicksal meiner Schwestern, von denen die eine im Hospital zugrunde gegangen, die andere, weil sie einen ermordet, der sie zur Mutter machte und dann verließ, war guillotiniert; die dritte würde, wenn ich sie nicht unterstützt und zu meiner Freundin gemacht hätte, ein elendes Leben führen.

Sie sind in meinem Alter, Madame, in welchem man alle diese Dinge kennt, und ich bin überzeugt, daß ich Ihnen nichts Neues sage. Der Selbstgenuß entsprach den Beschreibungen, die man mir davon machte, durchaus nicht. Ich ging hierauf zu jenem über mit Personen meines Geschlechts, und zwar mit solchen, die mir sehr gut gefielen, die ich sogar liebte. Sie wissen, daß wir Personen unseres Geschlechts ebenso lieben können wie Männer. Selbst dies befriedigte mich nicht ganz, und ich mußte denen, die mir sagten, der Genuß mit Männern überwiege alles andere, wohl glauben. Es ist möglich, daß, wenn der Mensch, an den mich meine Mutter verhandelt hatte, nicht so alt und häßlich gewesen wäre, sich in meinem Kinderherzen die wirkliche Geschlechtsliebe entfaltet haben würde. So aber empfand ich gegen ihn aus vielen Ursachen Abscheu und Ekel; diese beiden Gefühle erstreckten sich auf meine Mutter, die mich verkauft hatte. Es langweilt Sie aber, Madame«, unterbrach sich Camilla. »Sie werden ähnliche Geschichten schon gesehen haben.«

»Es langweilt mich durchaus nicht; im Gegenteil, ich finde alles, was Sie mir mitzuteilen die Güte haben, sehr interessant und spannend, und es ist sehr schmeichelhaft für mich, daß Sie mich Ihres Vertrauens würdigen«, entgegnete ich. »Ich bitte, fahren Sie nur fort.«

»Wohlan. Der alte Kavalier brachte mich nach einer Wohnung, die er für uns beide gemietet hatte; er wollte sofort zum Angriff schreiten, ich aber war[281] darauf vorbereitet und holte aus meiner Schürzentasche ein kleines Terzerol hervor, welches ich ihm unter die Nase hielt. Ich eröffnete ihm hierauf, daß ich mich nicht weigern würde, doch müßte er mir eine Verschreibung von 100000 Francs für meine Jungfernschaft geben. Anfangs lachte er mir ins Gesicht. Er versuchte es zuerst mit Drohungen, die ich aber erwiderte, indem ich sagte, ich würde ihn beim Polizeipräfekten verklagen, weil er mich meiner Freiheit beraube; später kam er aufs Feilschen, ich sollte mich mit 20000 Francs begnügen. Nicht einen Heller weniger, sagte ich und blieb dabei. Mit narkotischen Mitteln durfte er mir nicht kommen, weil ich keine andere Nahrung zu mir nahm, als entweder Obst, welches unmöglich mit der narkotischen Substanz versetzt sein konnte, oder ich ließ ihn oder das Mädchen, welches mich bediente, ehe ich etwas zu mir nahm, davon kosten. Der alte Mann ward hierdurch noch mehr auf meine Niederlage erpicht, er war kein Geizhals und dabei außerordentlich reich. 100000 Francs war für ihn kaum mehr als ein Drittel seiner jährlichen Einkünfte, er willigte also ein und gab mir die Verschreibung, die ich zu einem Rechtsgelehrten trug, welchen ich fragte, ob sie auch geltend gemacht werden konnte. Auf die bejahende Antwort erfüllte nun auch ich mein Versprechen. Ich ließ mit mir tun, was meinem Galan in den Sinn kam, und ich gestehe Ihnen, daß es Augenblicke gegeben, in welchen ich bitter bereute, mich selbst für die ungeheure Summe von 100000 Francs an ihn verkauft zu haben. Er richtete mich körperlich und geistig ganz zugrunde. Es wäre unmöglich, Ihnen alles zu erzählen, was er mit mir machte. Ich war in seinen Händen eine Märtyrerin. Wenn Sie das verfluchte Buch des Marquis de Sade ›Justine und Juliette‹ zu Händen bekommen sollten, dann würden Sie erfahren, was ein solcher Wüstling, der[282] sich selbst schont, mit einem armen unmündigen Kinde alles tun kann. Von Zeit zu Zeit empörte ich mich gegen meinen Tyrannen, und es gelang mir auch, einige schreckliche Folterungen, zu welchen er mich bereden wollte, damit ich mich denselben unterwerfe, von mir abzuwehren. Endlich, nach drei Jahren, erlöste mich der Tod von meinem Peiniger. Sie haben wohl Eugen Sues ›Martin der Findling‹ gelesen, Sie wissen also, wie ich mich fühlte, als ich von ihm frei wurde. Jeder Kitzel hatte aufgehört, meine Nerven waren durchaus abgestumpft. Ich ging mit meiner ältesten Schwester, derjenigen, die ich noch unterstütze, nach Montmerency, Aix les Bains, Vichy und Biarritz, um mich zu restaurieren, endlich sogar nach Gräfenberg in Österreich. Das kalte Wasser gab mir zwar meine Kräfte, nicht aber die Reizbarkeit meiner Nerven zurück. Nur sehr selten, und auch nur bei Personen meines eigenen Geschlechts vermag ich noch einen Reiz und Genuß zu fühlen, bei Männern niemals, aber ich mache mir nichts daraus. Eben diese Unempfindlichkeit verleiht mir die Macht, die ich über die Männer besitze; denn ich stellte mich, als wenn ich ganz toll vor Wollust wäre. Bei mir ist das Liebesspiel Kunst, wie bei Ihnen die Mimik, damit ich meinem Kinde ein Vermögen hinterlassen kann. Wenn ich es zu einer Million gebracht haben werde, will ich meinen Körper neuerdings pflegen und schonen, und vielleicht empfange ich noch; wenn nicht, dann werde ich ein Kind adoptieren und erziehen, es soll dann ganz anders und glücklicher werden, als ich es gewesen.«

Da Camilla, so wie die meisten ausgehaltenen Weiber in Paris, eine bedeutende Rolle spielte, die jener der Damen des Foubourg St. Germain in nichts nachsteht – ja, sie geben sogar in mancher Beziehung, namentlich in allem, was Mode betrifft, mehr als diese den Ton an – so durfte ich es wagen, ohne[283] meinem Ruf zu schaden, mit ihr zu verkehren. Camilla führte mich in mehreren Zirkeln der Boheme galante ein. Ich besuchte alle Unterhaltungsplätze; namentlich im Sommer Asnières, wo die Damen in der Seine zu baden pflegen. Ich ging dahin, wie es die Kaiserin Eugenie getan, die es diesem Vergnügen zu danken hat, daß sie den großen Gimpel Napoleon in ihre Netze verstrickte. Sie würde ebenso zu einer unterhaltenden Frau herabgesunken sein, wie viele Damen der hohen Aristokratie, die außer ihrem Titel nichts besitzen.

Auch in Paris fand ich meine gute Meinung, die ich von den Ungarinnen hatte, bestätigt. Es gab hier vier Damen dieser Nation: Mathilde von M..., ein natürliches Kind des Fürsten D..., von ihrer Mutter in einer solchen Weise an einen Kavalier verhandelt wie meine Freundin Camilla. Auch sie emanzipierte sich von ihrer Mutter und heiratete einen reichen Bankier in Paris. Sarolta von B..., meine Kollegin im Theater Lyrique, mit welcher ich mich aufs innigste befreundete. Wir verabredeten unter uns, daß wir miteinander nach London reisen wollten, um dort auf dem Conventgardentheater aufzutreten. Sarolta war nicht meine Rivalin im Gesang, sie trat nur in lyrischen Opern oder als zweite Prima Donna auf. Sie war ein reizendes Wesen und noch nicht verdorben. Sie spielte mit den Männern, ohne ihnen ihre Gunst zu gewähren. Sie fürchtete sich ebenso wie ich vor der Gefahr, Mutter werden zu können. Die dritte war eine gewisse Madame de B..., die Gattin eines emigrierten ungarischen Obersten, der mit ihr in Bigamie lebte; als seine erste Frau, von welcher er nicht gerichtlich geschieden war, diesem ihre bevorstehende Ankunft zu wissen gab, ergriff er die Flucht, reiste nach Konstantinopel und trat zum Islam über. Estella B... kam später vor das Zuchtpolizeigericht wegen Verführung eines Minderjährigen[284] zum Schuldenmachen. Sie wurde zu einem Jahre Zuchthaus verurteilt. Sie soll, wie ich später erfuhr, ihrem Gatten nach Kairo gefolgt sein, und dieser verkaufte sie um 5000 Piaster an den Khedive von Ägypten, über den sie eine solche Macht erlangte, wie keines seiner übrigen Weiber. Die vierte Ungarin war eine gewisse Jenny K., die Tochter eines verarmten Advokaten in Pest. Sie und ihre drei Schwestern waren auf das Verkaufen ihrer Reize angewiesen und fingen mit ziemlich niederen Preisen das elende Handwerk an; für einen Silber-Zwanziger (30 oder 40 Pfennig) war sie für den nächsten Besten feil. Später verliebte sich ein armer siebenbürgischer Graf in sie und brachte sie so in Mode. Sowohl Jenny, wie ihre beiden Schwestern – die dritte hatte Pech und ist verschollen – machten ihr Glück und Jenny kam nach Paris, wo sie zu den elegantesten Damen der Boheme gehörte. Ein italienischer Kavalier, der Marchese M..., heiratete sie dann, ohne sie aber lange zu besitzen, da er zwei Jahre nach seiner Vermählung starb, worauf Jenny ihr Netz auf einen souveränen Fürsten aufwarf, der sie an den Altar führte.

Sie sehen, daß, wenn ich mich auch mit den Eroberungen nicht brüste, die ich in Paris gemacht, so habe ich Ihnen doch genug Interessantes erzählt.

Quelle:
Wilhelmine Schröder-Devrient: Aus den Memoiren einer Sängerin. München 1970, S. 274-285.
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