29.

[64] Ach, wer löset das Räthsel mir wohl der bangen Erwartung,

Scheidet den ewigen Streit zwischen dem Dunkel und Licht?

Hurtiger schafft mir den Geist und die lauschenden Sinne die Hoffnung,

Und doch täuscht sie den Geist, täuschet die Sinne mir stets.

Seh' ich ein weißes Gewand hinflattern, so ruft mir die Sehnsucht

Leis' in das Ohr: Sieh' da, siehe, das Liebchen erscheint!

Und doch gleichen die Grazien nur in der schlanken Gestalt dir,

Und nur Idalia wähnt süßer zu lächeln wie du.

Nahet ein Schritt zum Gemach sich heran, stets ist er mir dein Schritt,

Und doch schwebte der West nimmer so leise wie du.

Jeglicher Ton, der mein horchendes Ohr trifft, scheinet mir dein Ton,

Und doch täusch' ich mich nie, Musen, in eurem Gesang!

Wenn du mich lockst mit dem schmeichelnden Wort, wenn die reizende Wange

Schüchtern ins dämmernde Roth künftiger Küsse sich taucht,

Ach, dann bin ich besiegt! Treu wähn' ich die Schwüre der Treue,

Und doch weiß ich zu gut, Schmeichlerin, daß du betrügst!

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 4, Leipzig 1819–1820, S. 64-65.
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