1.

Bei Uebersendung eines Traumbuches.


Quid sit futurum cras, fuge quaerere.

Horat.


Das Leben ist ein buntverwirrter Traum;

Im Dunkel liegt die Zeit, die uns entschwunden,

Ein Schleier deckt der Zukunft ferne Stunden,

Und selbst das Jetzt erkennt die Seele kaum.

Verworren fliehn mit ungewissem Schweben

Des Daseyns Bilder unserm Blick vorbei;

Wir wählen nicht was gut und nützlich sey,

Kein festes Ziel entdeckt sich unserm Streben;

Zufrieden mit dem bunten Mancherley,

Womit Geschick und Zufall uns umweben,

Durchirren wir, gleich Träumenden, das Leben,

Bald auf dem Fittig süßer Schwärmerei,

Bald stumm und ernst und bald mit scheuem Beben,

Und fühlen erst, wenn aus der Wüstenei

Der Welt uns schön're Genien erheben,

Das Spiel sey aus und unser Traum vorbei.


Sobald der Mensch des Lebens Hauch empfindet,

Bemüht er sich in jenes Buch zu sehn,

Das ihm den Zweck der bunten Träume kündet;[77]

Er sucht nach Licht und wähnt es zu erspähn.

Sein Geist verlacht die Fessel, die ihn bindet,

Schon glaubt er den verborgnen Rath ergründet,

Und hascht im Wahn die Wahrheit schon am Saum:

Doch ach, umsonst! der falsche Schein entschwindet,

Und was er sieht, es ist ein neuer Traum!


Zu glücklich ist, wer auf dem Pilgerwege

Mehr Sonnenschein als wilden Sturm empfing,

Wer häufiger durch blühende Gehege

Als durch den Sand verdorrter Wüsten ging;

Wem in dem Buch, wo die genoßnen Freuden

Verzeichnet stehn, kein gänzlich leerer Raum

Entgegenstarrt, und wer beim späten Scheiden

Noch rufen kann: Es war ein schöner Traum!


Allein verzeih die wehmuthsvolle Mine,

Mit welcher jetzt die Muse dir erscheint,

Als stände sie auf einer Trauerbühne,

Um die ein Schwarm von bangen Hörern weint.

Fort mit dem Ernst! Im holden Feenlande,

Wo noch der Lenz uns Rosenkränze flicht,

Ist Sorg' und Gram die schlimmste Contrebande,

Und düstrer Ernst im grämlichen Gewande

Ein Prediger, der in der Wüste spricht.

Was kümmern uns die finstern Grübeleyen,

Womit der Mensch den Keim der Lust zerstört?

Mag sich in Thor des finstern Mißmuths freuen,

Mag er das Glück, als wär' es Sünde, scheuen,

Wer Grillen sucht, der ist der Grillen werth;

In unsrer Brust kann Freude nur gedeihen,

Der ist ein Gott, wer ihre Lehren hört.
[78]

So laß uns froh durchs heitre Leben schwärmen,

Nach Dornen nie am Blüthenkranze spähn,

Nie ohne Noth uns um die Zukunft härmen,

Und nie das Jetzt im trüben Lichte sehn.

Oft blüht ein Zweig an halberstorbnen Bäumen,

Mit Ranken ist der nackte Fels geschmückt,

In Wüsten selbst sieht man oft Blumen keimen,

Der ist ein Thor, der sie nicht sorgsam pflückt.

Bau' immerhin ein Schloß in luft'gen Räumen,

Und bild' ein Ideal aus buntem Schaum;

Die zarte Brust muß sterben oder träumen,

Denn alles Glück ist nur ein schöner Traum.


Nimm hier das Buch, das vormals die Sibyllen

In Kumas Kluft prophetisch ausgeheckt,

Den Sterblichen die Träume zu enthüllen,

Womit die Nacht die müden Schläfer schreckt.

Doch wenn dir einst mit buntgefärbten Schwingen,

O wär' es oft! aus Titans goldnem Thor

Die Phantasien die süßen Bilder bringen,

Worin dein Geist sich wachend oft verlor,

Wenn Weste dich mit leisem Flug umgaukeln

Und scherzend dich auf lauen Lüften schaukeln

Und auf der Woge zartem Silberschaum,

Dann hüte dich dies Buch um Rath zu fragen,

Es wird dir nur die düstern Worte sagen:

Dein ganzes Glück, nichts war es als ein Traum.


Doch wenn dich einst zum öden Schlachtgefilde,

Mit Blut benetzt, ein böser Geist entführt,

Wo rings die Nacht nur grause Schreckgebilde,

Wo jeder Strauch Gespenster dir gebiert;[79]

Wenn rasch sich zur Flucht die Füße heben,

Doch regungslos, erstarrt am Boden kleben,

Wie einst im Fliehn Apolls geliebter Baum,

Dann lies dies Buch; dein Zagen wird entschwinden,

Denn tröstend wird sein Ausspruch dir verkünden:

Der Schmerz ist nur ein kurzer Morgentraum.

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 4, Leipzig 1819–1820, S. 75-80.
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