Mürzhofen

[207] Von Schottwien bis hierher war heute in der Mitte des Januars eine tüchtige Wandlung. Der Semmering ist kein Maulwurfshügel; es hatte die zweite Hälfte der Nacht entsetzlich geschneit, der Schnee ging mir bis hoch an die Waden; ich wußte keinen Schritt Weg, und es war durchaus keine Bahn. Einige Male lief ich den Morgen noch im Finstern unten im Tal zu weit[207] links und mußte durch Verschläge in dem tiefen Schnee die große Straße wiedersuchen. Nun ging es bergan zwei Stunden, und nach und nach kamen einige Fuhrleute den Semmering herab und zeigten mir wenigstens, daß ich dorthin mußte, wo sie herkamen. Links und rechts waren hohe Berge, mit Schwarzwald bewachsen, der mit Schnee behangen war; und man konnte vor dem Gestöber kaum zwanzig Schritte sehen. Oben auf den Bergabsätzen begegneten mir einige Reisewagen, die in dem schlechten Wege nicht fortkonnten. Der Frost hielt noch nicht, und überdies waren die Gleise entsetzlich ausgeleiert. Herren und Bedienten waren abgestiegen und halfen fluchend dem Postillon das leere Fuhrwerk Schritt vor Schritt weiter hinaufwinden. Ich wechselte die Schluchten bergauf, bergab und trabte zum großen Neide der dick bepelzten Herren an dem englischen Wagen fürbaß. Ein andermal rollten sie vor mir vorbei, wenn ich langsam fortzog. So geht's in der Welt; sie gingen schneller, ich ging sicherer. Auf dieser Seite des Semmerings kommt aus verschiedenen Schluchten die Wien herab; und auf der zweiten Hälfte der Station, nach Mürzzuschlag, nachdem man den Gipfel des Berges erstiegen hat, kommt ebenso die Mürz hervor und ist in einer Stunde schon ein recht schöner Bach. Bei Mürzzuschlag treibt sie fast alle hundert Schritte Mühlen und Hammerwerke bis herab nach Krieglach, wo sie größer wird, nun schon einen ansehnlichen Fluß bildet und nur mit Kosten gebraucht werden kann. Es ist angenehm, die Industrie zu sehen, mit welcher man das kleine Wässerchen zu seinem Behufe zu leiten und zu gebrauchen weiß; und die kleinen Täler an dem Flusse herunter sind außerordentlich lieblich und machen auch unter dem Schnee mit ihren fleißigen Gruppen ein schönes Winterbild.[208]

Die Wörter Mürzzuschlag und Krieglach klangen mir nach den Wiener Mordgeschichten gar sehr wie nomina male ominata, deren Etymologie ich mir gern hätte erklären lassen, wenn ich nicht zu faul gewesen wäre, irgendeinen Pastor aufzusuchen; und ich war herzlich froh, als ich gegen Abend so ziemlich aus der abenteuerlichen Gegend heraus war. Es ist etwas sehr Gewöhnliches, daß man einem Gaste, wenn er die Zeche bezahlt und abzieht, glückliche Reise wünscht, und man denkt weiter nicht viel dabei; aber Du kannst nicht glauben, wie angenehm es ist, wenn es in einer solchen Lage, im Januar, wenn der Sturm den Schnee gegen die Felsen jagt, mit Teilnahme von einem artigen, hübschen Mädchen geschieht, zumal wenn man den Kopf voll Räuber und Strauchdiebe hat.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 207-209.
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