Neapel

[315] Der Morgen war frisch und schön, als wir Anxur verließen, der Wind stark und die Brandung hochstürmend, so daß ich am Strande eingenetzt war, ehe ich daran dachte. Die Wogen schlugen majestätisch an den steilen Felsen herauf. Am Eingange des Reichs hatte mein französischer Reisekamerad Zwist mit der Wache, die ihn nicht recht gern wollte passieren lassen. Meinen Paß vom Kardinal Ruffo besah man bloß, schrieb meinen Namen aus, und ich war abgefertigt. Der Franzose packte seine ganze Brieftasche aus, sprach hoch, erwähnte Suwarow, appellierte an den Minster und zwang die Wache durch etwas Impertinenz in Respekt, die von ihrer Seite auch wohl etwas über die Instruktion gegangen sein mochte. In Fondi, wo wir zu Mittag aßen, trafen wir ziemlich viel Militär, unter dem mehrere Deutsche waren. Die Stadt selbst liegt, wie es der Name zeigt, in einem der angenehmsten Täler, nicht sehr weit vom Meere. Der Weg von Terracina dahin ist abwechselnd fruchtbar und lachend, durch hohe Felsen und fruchtbare Felder. Nicht weit von Fondi sollen, glaube ich, links an den Bergen noch die Überreste von der Villa des Nerva zu sehen sein. Ich hielt mich aber an die Orangegärten und vergaß darüber den Kaiser, die alten Stadtmauern, den See, den heiligen Thomas und alle andere Merkwürdigkeiten. Noch einige Fillien nach Itri hinaus ist die Gegend zwischen den Bergen ein wahres Paradies. Auf der Hälfte des Weges stand in einem engen Felsenpasse eine Batterie aus dem vorigen Kriege, wo die Franzosen tüchtig zurückgeschlagen wurden. Sie suchten sich aber einen andern Weg über die hohen Berge; ein Einfall, von dem die Neapolitaner sich gar nichts hatten träumen lassen! Das[315] war eine etwas zu gutmütige Zuversicht; man tut besser zu glauben, daß die Feinde alle Gemsenjäger sind, und in einer Entfernung von sechs deutschen Meilen ist es nie unmöglich, daß sie die Nacht noch kommen werden. Die Neapolitaner sahen den Feind im Rücken und liefen über Hals und Kopf nach Kajeta. Itri war von den Franzosen häßlich mitgenommen worden. Man hatte die Kirchen verwüstet und Pferdeställe daraus gemacht. Das ist nun freilich nicht sehr human, von Religiosität nichts zu sagen. Der Ort liegt in einer Bergschlucht tief begraben. Es standen hier nur wenige Soldaten zur Polizei, deren Kommandant, ein ehemaliger österreichischer Sergeant, jetzt neapolitanischer Fähnrich war, der uns die Ehre tat, mit uns einige Stunden Wein zu trinken. Mein Franzose hatte keine Schuhe mehr, ich mußte ihm also doch Schuhe machen lassen. Den Morgen darauf konnte er nicht fort, weil seine Füße nicht mehr im baulichen Wesen waren, und ich wollte nicht bleiben, er suchte mich überdies zu überreden, ich möchte mit ihm von Kajeta aus zur See gehen, weil er den Landweg nicht aushalten würde. Das ging für mich nun nicht, denn ich wollte über den Liris hinunter nach Kapua und Kaserta. Ich gab ihm also zu dem Ausgelegten noch einen Kaiserdukaten, quittierte in Gedanken schon, übergab ihn und mich dem Himmel und wandelte allein ab. Fast hätte ich vergessen, Dir eine etwas ernsthafte Geschichte von Itri zu erzählen, nämlich ernsthaft für mich. Itri ist ein Nest; das Wirtshaus war schlecht. Unsere Wirtin war eine ziemlich alte Maritorne, die ihren Mann in der Revolution verloren und sich zur Haushaltung und den übrigen Behufen einen jungen Kerl genommen hatte. Ich legte mich oben auf einem Saale zu Bette, und mein Kamerad zechte unten noch eins mit dem Herrn Fähnrich Kommandanten,[316] der wiedergekommen war, und kam mir sodann nach. Er war etwas über See und schlief sogleich ein; ich philosophierte noch eins topsyturvy. Da hörte ich unten einen wilden Kerl nach dem andern ankommen und sehr laut werden. Die Anzahl mochte wohl bis zehn oder zwölf gestiegen sein. Nun vernahm ich, daß es über unsere armen Personalitäten geradezu herging, und daß man über uns eine ziemlich furchtbare Nachtinquisition hielt. »Sono cattiva gente« hieß es in einem hohen Ton ein Mal über das andere; und man tat mehr als einmal den Vorschlag, mit uns zu verfahren nach der Neapolitaner Revolutionsweise. Mein Franzose schnarchte. Du kannst denken, daß mir nicht sonderlich lieblich dabei zumute ward. Man schlägt hier zum Anfang sogleich die Leute tot und macht sodann nachher – eben weiter keinen Prozeß. Die alte Dame, unsere Wirtin, nahm sich unser mit einem exemplarischen Mut an, sprach und schrie was sie konnte und behauptete, daß wir ehrliche Leute wären, der Kommandant hätte unsere Pässe gesehen. Nun schien man zum Unglück dem Kommandanten selbst in der Politik gerade nicht viel Gutes zuzutrauen. Der Himmel weiß, wie es noch möchte geworden sein. Ich zog ganz stille Rock und Stiefeln an, nahm meine ganze Kontenanz und mein ganzes bißchen Italienisch zusammen und machte Miene, die Treppe hinab unter sie zu gehen. »Meine Herren«, sagte ich so stark und bestimmt als ich konnte, »ich bin ein fremder Reisender; ich dachte, im Wirtshause, wo ich bezahle, dürfte ich zur Mitternacht Ruhe erwarten. Ich höre, ich bin Ihnen verdächtig. Führen Sie mich vor die Behörde, wohin Sie wollen, aber machen Sie die Sache mit Ernst und Ruhe und als ordentliche brave Leute ab!« Es ward stiller; die Wirtin und einige von ihnen baten mich, oben zu bleiben, welches ich[317] natürlich sehr gern tat; und nach und nach schlichen sie alle fort. Spaßhaft ist es nicht ganz, denn dort geht man selten ohne Flinte und Messer, und jeder ist zur Exekution fertig.

Den andern Morgen wandelte ich also allein zwischen den Ölbergen nach Mola di Gaeta hinüber. Die Amme ist durch dieses Etablissement ihres Namens fast berühmter geworden als ihr frommer Milchsohn. Warum war ich nun nicht gestern noch bis hierher gegangen? Hier fand ich ein großes, schönes, ziemlich billiges Gasthaus, wo ich bei frischen Eiern und bei frischen Fischen, die nicht weit von mir aus dem Meere gezogen wurden, und frischen, herrlichen Früchten ein vortreffliches Frühstück hielt. Unter mir stand ein Zitronengarten in der schönsten Glut der Früchte; und links und rechts übersah ich die Bucht von der Spitze des Vorgebirges rund herum bis hinüber nach Ischia und Procida. Es ist, in der Entfernung von einigen hundert Meilen, das köstlichste Dessert, wenn wir uns durch die Erinnerung irgend eines kleinen Vorfalles mit unsern Freunden wieder in nähere Berührung setzen können. Hier, auf der nämlichen Stelle, hatte vor mehreren Jahren Friedrich Schulz gesessen und Fische und Früchte gegessen und mich aufgefordert, seiner zu gedenken, wenn ich von Mola auf das klassische Land umherschauen würde. Jetzt ist er nicht mehr, der Liebling seiner Freunde und der Grazien, der die Freude bei den Fittichen zu halten verstand und sie rund umher gab. Wo auch seine Asche ruht, ein Biederer müsse hingehen und sie segnen! Keiner seiner Schwachheiten werde gedacht; er machte durch sein Herz gut, was sein Kopf versah.

Nun ging ich vergnügt und froh die schöne, magische Gegend hinauf und hinab, bis hinunter, wo der Nachricht zufolge ehemals Ciceros Formiä stand, bis an[318] den Liris hinab. Langsam wallte ich dahin; mir deucht, ich sähe die Schatten des Redners und des Feldherrn, des Tullius und des Marius, daherziehen. Hier legte der Patriot den Kopf zur Sänfte heraus und ließ sich von dem Hauptmanne, dem er das Leben gerettet hatte, entschlossen den Lohn für seine Philippiken zahlen. Es ist mir der ehrwürdigste Moment in Ciceros Leben, der einzige vielleicht, wo er wirklich ganz rein als selbständiger Mann gehandelt hat. Als er gegen Verres sprach, war es vielleicht Ruhmsucht, von der Rednerbühne zu glänzen, Gefahr war nicht dabei; als er gegen Katilina donnerte, stand seine Existenz auf dem Spiel, und er hatte keine andere Wahl, als zu handeln oder mit zugrunde zu gehen; als er gegen Antonius wütete, trieben ihn wahrscheinlich Haß und Parteisucht. Im Glück prahlte er, im Unglück jammerte er, er zeigte in seinem ganzen Leben oft viel Ehrlichkeit und Wohlwollen, aber nur im Tode den Mut, der dem Manne ziemt. Sein Tod hat mich in gewisser Rücksicht mit seinem Leben ausgesöhnt, so wie es Männer in der Geschichte gibt, deren Tod fast das Verdienst ihres Lebens auslöscht. Dort unten lag Minturnä; dort, stelle ich mir vor, stand das Haus, wo der Cimbrer mit dem Schwerte kam, als öffentlicher Henker den Überwinder seiner Nation zu töten, und wo dieser gefangene Überwinder ihn mit einigen Worten Todesschrecken in die Glieder jagte. »Mensch, wagst du es, Cajus Marius zu morden?« Weiter hinab rechts ist die Sumpfgegend, wo nach der Flucht der erste Mann der ersten Stadt der Welt sich im Schilfe verbarg, bis er sich hinüber nach Afrika retten konnte. Ich setzte unter diesen Gedanken über den Garigliano und merkte kaum, daß ich diesseits von einer Menge Mauleseltreiber umgeben war, die mir alle sich und ihre Tiere zum[319] Dienst anboten. Da half kein Demonstrieren, sie machten die Kleinigkeit der Forderung noch kleiner und setzten mich halb mit Gewalt auf ein lastbares Stück, schnallten meinen Reisesack in Ordnung, und so zog ich mit der lieblichen Karawane weiter. Ein Kalabrese hatte mich in Mola gebeten, ihm meine Gesellschaft zu erlauben, und ich konnte nichts dawider haben. Ein Junge von ungefähr dreizehn Jahren hatte sich einige Millien weiter herab angeschlossen, der in der Residenz sein Glück versuchen wollte, weil seine Stiefmutter zu Hause den Kredit ihres Namens etwas zu streng behauptete. Beide liefen nebenher. Es wurde bald alles durchgefragt, und der Junge mußte etwas weitläuftig seine Geschichte erzählen. Nun fing mein alter Eseltreiber an, mit wahrhaft väterlicher Wärme dem jungen Menschen die Gefahr vorzustellen, der er entgegenliefe. Er tat dieses mit einer Zärtlichkeit, einer Heftigkeit und zugleich mit einer Behutsamkeit im Vortrage, die mir den alten Mann sehr wert machten. Wäre ich Sultan gewesen, ich hätte den Eselstreiber zum Mufti gemacht, und es würde gewiß gut gegangen sein. Diese schöne, bedachtsame Philanthropie wäre manchem unserer Moralisten zu wünschen. Auch schien er über die ehrenvolle Gesellschaft durch seinen Verstand und seinen heitern Ernst ein ziemliches Ansehen zu haben. Kurz vor Sessa schieden wir; ich setzte mich von dem Esel wieder auf meine Füße. Er gab dem jungen Menschen zu seinem Rate noch etwas Geld, und ich griff natürlich über dem Alten und dem Jungen auch etwas tiefer in die Tasche als wohl gewöhnlich. Mein Kalabrese begleitete mich, ich mochte wollen oder nicht, auf die Post als das beste Wirtshaus. Der Junge ging weiter.

Da es noch hoher Tag war, spazierte ich hinauf nach Sessa, das, wie ich hörte, viel alte Merkwürdigkeiten[320] hat und ehemals eine Hauptstadt der Volsker war. Der Weg von der Post hinunter und in die Stadt hinauf ist angenehm genug, und die Lage des Orts ist herrlich mit den schönsten Aussichten, rechts nach Kajeta und links über die Niederung weg nach dem Gaurus hinüber. Als ich in der Kathedralkirche stand und einen heiligen Johannes, der enthauptet wird, betrachtete und ebensosehr die Andacht einiger jungen ganz hübschen Weiber beherzigte, die den schönen Mann auf dem Bilde mit ihren Blicken festhielten, trat mein alter Eseltreiber, der auf der andern Seite heraufgekommen war, zu mir, mich zu begrüßen. Er hatte mich vielleicht wegen einiger Äußerungen etwas liebgewonnen und vermutlich die Silberstücke gesehen, die ich dem Buben gegeben hatte; und als wir aus der Kirche traten, führte er mich in den Zirkel seiner Zunftleute und stellte mich wohl fünfzig Eseltreibern aus Sessa und der Gegend mit der freundschaftlichsten Teilnahme vor. Mir deucht, wenn die Leute hier Wahltag gehabt hätten, sie hätten mich, dem Minister zum Trotz, einstimmig zu ihrem Deputierten im Parlamente gemacht, so sehr bezeigten sie mir alle ihr Wohlwollen; und ich kann Dir nicht leugnen, es deucht mir mit völligem Rechte wenigstens ebenso wohl, als da mich in Warschau die alte kommandierende Exzellenz unter den Arm faßte, in dem Zimmer herumführte und mir in vollem Kreise die Ausfertigung einer Depesche ins Ohr flüsterte. Aus diesem Zirkel zogen mich einige sehr artige junge Leute, die mich weiter herum begleiteten und vorzüglich zu den Augustinern führten, die hier für ihre Bäuche den behaglichsten Ruheplatz mit der schönsten Aussicht nach allen Seiten ausgesucht hatten. Der einzige Beweis, daß die Leute doch noch etwas klassischen Geschmack haben müssen, ist, daß sie die Falerner Berge übersehen.[321] Ihr Gebäude ist für das Gelübde der Armut eine Blasphemie. Doch daran bin ich schon gewöhnt; man braucht eben nicht erst über den Liris zu gehen, um so ausschweifende Pracht, so unsinnige Verschwendung zu sehen. An der Überfahrt über den Garigliano oder Liris sieht man noch die Substruktion einer alten Brücke und nicht weit davon, jenseits, die Reste einer Wasserleitung. Der Fluß selbst, der nicht sehr breit ist, muß trotz dem Prädikate der Stille, das ihm Horaz gibt, doch zuweilen gefährlich zu passieren sein, denn er ist ziemlich tief und jetzt im Frühling sehr schnell; und man erzählte mir, daß, als die Franzosen ungefähr zwei Stunden aufwärts mit der Reiterei durch denselben setzen wollten, ihrer viele dabei umgekommen wären. An den Ufern desselben weiden große Herden Büffel.

Als ich wieder hinunterkam, setzte man mir auch Falerner Wein vor; für die Echtheit will ich indessen nicht stehen. Es ist bloß die klassische Neugierde, ihn getrunken zu haben, denn er hat schon längst seinen alten Kredit verloren. Höchstwahrscheinlich ist die Ursache der Ausartung Vernachlässigung, wie bei den meisten italienischen Weinen, die sich besser halten würden, wenn man sie besser hielte. Als wir den Morgen auswandelten, ward meinem Kalabresen entsetzlich bange; er behauptete, das folgende große Dorf bestände aus lauter Räubern und Mördern, welche die Passage von Montagne Spaccate zu ihrem Tummelplatz machten. Jeder Windstoß durch das Gesträuch erschreckte ihn, und als wir vollends einige bis auf die Zähne abgedorrte Köpfe in eisernen Käfigen an dem Felsen befestigt sahen, war er der Auflösung seines Wesens nahe, ob er gleich den Krieg als königlicher Kanonier mitgemacht hatte und ein Kerl wie ein Bär war. Er faselte von lauter mariuoli,[322] wie er sie nannte, die gar fürchterliche Leute sein sollten, und von denen er schreckliche Dinge erzählte. Als ich mir eine Beschreibung der Kerle ausbat, sagte er, man wüßte nicht, woher sie kämen und wohin sie gingen, sondern nur was sie täten; sie plünderten und raubten und schlügen tot, wo sie könnten; gingen zu Dutzenden bewaffnet und erschienen und verschwänden, ohne sich um etwas zu bekümmern. Nach seiner Angabe kommen sie meistens aus den Bergen von Abruzzo. Ich habe nun freilich zur Schande der Regierung gefunden, daß der Mensch ziemlich Recht hat. Er pinselte mir aber die Ohren so voll, daß ich ihm sagte, er möchte mich ungehudelt lassen mit seinen erbärmlichen Litaneien; wenn ich totgeschlagen werden sollte, so wollte ich mich doch wenigstens vorher nicht weiter beunruhigen. Das kam dem Kerl sehr gottlos vor und mir seine Klagelieder sehr albern. Er trieb mich immer vorwärts, mich nur durch die berüchtigte Felsenpassage zu bringen, und dankte allen Heiligen inbrünstiglich, als wir aus der Gegend heraus waren. Er segnete meinen Entschluß, als ich mich auf der Straße von einem Vetturino bereden ließ, mich einzusetzen und mich mit ihm bis nach Kapua bringen zu lassen. Als wir in Kapua ankamen, war der Gouverneur nach Kaserta gefahren, und man wollte durchaus, ich sollte seine Rückkehr erwarten damit er meinen Paß ratifizieren möchte. Endlich bestürmte ich den Capitaine du jour so viel, daß er mir den Paß ohne Visierung zurückgab und dem Offizier an dem Tore Befehl schickte, er solle mich gehenlassen; er selbst wolle die Ausnahme verantworten.

Nun wollte ich über Altkapua nach Kaserta gehen; dazu war aber mein Kalabrese durchaus nicht zu bringen, er meinte, das wäre der sichere Tod, da wimmelte es von Mariuolen. Ich gab dem Schuft einige[323] Karlin, verstehe neapolitanische, ließ ihn rechts nach Aversa fortrollen, um dort am rechten Orte seine attellanischen Fabeln zu erzählen, und schlug mich links nach Altkapua. Einige ehrsame Bürger aus der Festung Neukapua, die ich einholte, und denen ich die lächerliche Furcht des Menschen erzählte, meinten, es sei zwar etwas Gefahr, werde aber immer übertrieben, und man habe nun doch schon seit einigen Wochen nichts gehört. Die Herren schienen sich patriotisch ihrer vaterländischen Gegend anzunehmen. Wo ehemals Kapua war, steht jetzt, glaube ich, der Flecken Sankt Martin, ungefähr eine Stunde von der neuen Stadt, die unten am Vulturnus in einer bessern militärischen Position angelegt ist. Sankt Martin ist noch jetzt eine Lustpartie für die Bürger der neuen Stadt, so sehr behauptet der alte Platz seinen Kredit. Es steht bekanntlich noch der Rest eines alten Amphitheaters, das aus den Zeiten der Römer und also verhältnismäßig neu ist, welches die Antiquare hinlänglich kennen, auf die ich Dich verweise. Ich ging durch die Trümmern eines Tors, welches vermutlich das nämliche ist, durch das Hannibal seinen Ruhm hinein und nicht wieder heraus trug, ließ nach kurzer Beschauung das Theater links liegen und pilgerte den Weg nach Kaserta fort. Es stehen dort an der Straße links und rechts nicht weit voneinander ein paar Monumente, die vermutlich römische Begräbnisse sind, und von denen eines wenigstens in sehr gutem Stil gearbeitet zu sein scheint.

Es wäre überflüssig, Dir eine Beschreibung des Schlosses in Kaserta anzufangen, die Du hier und da gewiß weit genauer und besser finden kannst. Der erste Anblick ist groß und wirklich imponierend. Die Gärten links, die schönen Pflanzungen rechts, der prächtige Schloßplatz und die Gebäude rund umher, alles beschäftigt.[324] Vorzüglich wird das Auge gefesselt von der Ansicht durch das große Tor, welche durch das ganze Schloß und die Gärten bis weit hinaus auf die Berge geht, über welche man die berühmte Wasserleitung herübergebracht hat. Diese schöne, reiche Kunstkaskade schließt den Grund der Partie. Man wird selten irgendwo so etwas Magisches finden. Du weißt, daß auch hier die Franken etwas willkürlich gehaust haben, jetzt ist der Kronprinz und Seine Sardinische Majestät hier.

Auf der Post empfing man mich, ob ich gleich Fußgänger war, mit vieler Artigkeit, und ich hatte bald einen Trupp Neugieriger um mich her, die mich von Adam bis Pontius Pilatus ausfragten; und alle wunderten sich, daß ich den Räubern noch nicht in die Hände gefallen wäre. Humane Teilnahme und Billigkeit zeichnete das Haus vor vielen andern aus. Ich hatte nur noch einige Stunden Zeit, die Stadt zu besehen; dies war aber zur Auffassung eines richtigen Totaleindrucks genug. Den andern Morgen, als ich abgehen wollte, arretierte mich wieder ein Vetturino an der Ecke des Marktes: »Volete andare in carozza, Signore?« – »Ma si, si«, sagte ich, »se partite presto presto.« – »Questo momento; favorisca montare.« Ich stieg ein und setzte mich neben einen stattlichen, dicken Herrn; sogleich kamen noch zwei andere, und wir rollten zum Tore hinaus.

Dieses ist als das schöne, reiche, seelige Kampanien, das man, seit es so bekannt ist, zum Paradiese erhoben hat, für das die römischen Soldaten ihr Kapitol vergessen wollten! Es ist wahr, der Strich zwischen Aserva, Kapua, Kaserta, Nola und Neapel, zwischen dem Vesuv, dem Gaurus und den hohen Apenninen, oder das sogenannte Kampanertal, ist von allem, was ich in der alten und neuen Welt bis jetzt[325] noch gesehen habe, der schönste Platz, wo die Natur alle ihre Gaben bis zur höchsten Verschwendung ausgegossen hat. Jeder Fußtritt trieft von Segen. Du pflanzest einen Baum, und er wächst in kurzer Zeit schwelgerisch breit und hoch empor; Du hängst einen Weinstock daran, und er wird stark wie ein Stamm, und seine Reben laufen weitausgreifend durch die Krone der Ulme; der Ölbaum steht mit bescheidener Schönheit an dem Abhange der schützenden Berge; die Feige schwillt üppig unter dem großen Blatte am gesegneten Aste; gegenüber glüht im sonnigen Tale die Orange, und unter dem Obstwalde wallt der Weizen, nicht die Bohne in reichlicher, lieblicher Mischung. Der Arbeiter erntet dreifach auf dem nämlichen Boden in Fülle Obst und Weizen und Wein; und alles ist üppige, ewig jugendliche Kraft. Unter diesen magischen Abwechselungen kamen wir in einigen Stunden in Parthenope an. Der stattliche, dicke Herr, mein Nachbar, schien die Deutschen etwas in Affektion genommen zu haben, war ehemals einige Monate in Wien und Prag gewesen, wußte einige Dutzend Wörter von unserer Sprache und war die Gefälligkeit selbst. Er war aus dem königlichen Hause, und mich wunderte deswegen seine Artigkeit etwas mehr, da Höflichkeit in der Regel bei uns nicht mit zu den ausgezeichneten Tugenden der Hausoffizianten der Großen gehört. In Neapel brachte er mich in einem eigenen Wagen in das Haus eines seiner Bekannten an dem Ende des Toledo, bis ich den Herrn Heigelin aufgesucht hatte, an den meine Empfehlung von Wien lautete. Es ist wirklich sehr wohltätig, wenn man, bei dem ersten Eintritt in so einen Ort, wie Neapel ist, als Wildfremder eine so freundliche Hand zur Leitung findet, bis man sich selbst etwas orientieren kann.[326]

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 315-327.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (insel taschenbuch)
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Platen, August von

Gedichte. Ausgabe 1834

Gedichte. Ausgabe 1834

Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.

242 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon