Die erste Nacht auf Burg Himmelhoch

[103] Da saß nun Kasperle in des Herzogs Wagen und reiste nach Burg Himmelhoch. Dort wohnte der Herzog immer den Sommer über. Der Weg ging langsam aufwärts, und auf einmal tauchte auf luftiger Höhe ein großes, stattliches Schloß auf; seine Fenster glänzten in der Nachmittagssonne und bunte Fahnen glänzten von seinen Türmen herab.

Kasperle vergaß in diesem Augenblick sogar seine Sehnsucht nach dem Waldhaus, so gut gefiel ihm das Schloß. Es steckte seinen Kopf zum Wagenfenster hinaus, weit, immer weiter, und der Herzog wollte gerade mahnen: »Kasperle, fall nicht hinaus!« Da lag Kasperle schon draußen. Pardauz, mitten zwischen ein Trüpplein Kinder fiel es, die sich neugierig aufgestellt hatten, um den Herzog zu sehen.

Erschrocken stoben die auseinander, aber kaum hatten sie in das putzige Kasperlegesicht geblickt, da kamen sie alle zurück und erhoben einen ungeheuren Lärm. Der Herzog dachte nicht anders, als Kasperle habe sich wer weiß was gebrochen; daß ein Kasperle sehr viel hinpurzeln kann, ohne Schaden zu nehmen, ahnte er nicht. Er rief aufgeregt: »Kasperle ist verunglückt, helft, helft!« Der Wagen hielt, Diener kamen angesprungen. Das Kasperle aber stand putzmunter auf, schüttelte sich und schnitt so blitzdumme Gesichter, daß die Kinder vor Lachen beinahe auseinanderplatzten.[103]

Dies ärgerte den Herzog August Erasmus sehr. Er konnte solches Geschrei nicht leiden. Auch wollte er, Kasperle sollte ihm allein etwas vorkaspern; er war der Herr, Kasperle sein Diener. »Steig ein!« befahl er streng, und vor seinem bösen Gesicht entflohen die Kinder scheu. Ganz ängstlich sahen sie dem Wagen nach, aber da auf einmal steckte Kasperle den Kopf zum Fenster heraus, grinste, schnitt erst ein Räubergesicht, sah dann wie die Prinzessin Gundolfine aus, und jäh ertönte wieder das jauchzende Lachen der Kinder.

Da nahm der Herzog seinen Stock und gab Kasperle eins auf den Hosenboden. Es klatschte ordentlich, und Kasperle sank in die Wagenecke und brach wieder in sein bekanntes Heulen aus. Doch damit hatte es kein Glück bei dem Herzog. Der liebte alles, was laut war, nicht, und er bearbeitete mit seinem Stock Kasperles Rückenteil, bis es muckstill war. Nur ganz, ganz leise heulte es noch vor[104] sich hin, sein Rücken, alles tat ihm weh, und die schöne Burg, der sie nun ganz nahe waren, gefiel ihm gar nicht mehr.

Der Herzog war ein mißmutiger Herr. Kasperles Geheule hatte ihm seine Laune gründlich verdorben, und er gab Befehl, den armen Schelm auf dem Schloß in eine vergitterte Kammer zu sperren. Die lag im Erdgeschoß und stammte noch aus der Zeit, da die alte Burg auf dem Platze gestanden hatte. Die war einmal niedergebrannt und in einer Zeit, da die Menschen das Heitere, Helle liebten, neu aufgebaut worden.

Die Kammern im Erdgeschoß waren düster und kühl, und dem armen Kasperle wäre es recht schlimm ergangen, wenn nicht der Diener Veit gewesen wäre. Der sorgte für den kleinen Burschen, stellte ihm ein Bett in die Kammer und Essen genug. Und dann kam er zu ihm, ein anderer folgte, und als oben der Herzog verärgert in seinem Bette lag und der Haushofmeister in seinem Zimmer Tee trank, saßen in Kasperles Kammer ein paar Diener und Kammermädchen, und der Kleine hockte auf dem Tisch und kasperte ihnen etwas vor. War das lustig!

Das Lachen dröhnte durch den kleinen Raum und tönte zu dem Fensterchen hinaus; über dem, im ersten Stock, der Herzog sein Zimmer hatte. Der lag satt und mißmutig da; er hatte gerade die Augen geschlossen, als von unten herauf das Lachen ertönte.

Was war denn das? Der Herzog richtete sich auf und lauschte. Es lachte und lachte. Das war doch zu toll! Wütend riß er an seiner Klingel, und sein erster Kammerdiener fiel beinahe in das Zimmer. Das Klingeln aber hatten sie unten auch gehört. Just in dem Augenblick, als oben der Herzog zornig fragte: »Wer lacht denn so?« rief[105] unten Veit: »Flink, Kasperle, ins Bett und alle raus, der Herzog hat uns gehört!«

Husch, husch, flitzten alle aus der Kammer. Veit drehte den Schlüssel um und Kasperle kroch in sein Bett.

Oben rief der Kammerdiener den Haushofmeister; der hörte des Herzogs Klage und lief selbst, so schnell er konnte, hinab und schloß Kasperles Kammer auf. Muckstill war es darin, nur aus Kasperles Bett tönte lautes Geschnarche.

Der Haushofmeister schüttelte den Kopf. Der Herzog hat geträumt, dachte er und stieg wieder die Treppe hinauf. »Kasperle schläft«, meldete er oben.

»Unsinn, es hat gelacht! Man bringe es zu mir!« befahl der Herzog.

Da ging der Haushofmeister mit dem Kammerdiener hinab. Drunten riefen sie: »Kasperle, du sollst zum Herzog kommen.«

Kasperle, der Schelm, regte und rührte sich nicht, es schnarchte wie eine Säge. Schließlich nahm es der Kammerdiener auf den Arm, und da rekelte sich Kasperle und tat, als könne es die Augen gar nicht aufmachen, und oben in des Herzogs Zimmer riß es seinen Mund auf, so weit es konnte und gähnte schrecklich. »Uah, uah!« Und dabei reckte und streckte es sich, und schnipp, bekam der Haushofmeister Kasperles Bein mitten ins Gesicht.

»Kasperle«, rief der Herzog wütend, »was tust du da?«

»Ich schlaaafe!«

»Du hast gelacht!«

Kasperle machte plötzlich sein bitterböses Räubergesicht, und der Herzog sank erschrocken in seine Kissen zurück. »Tragt es wieder fort, schließt es ein, und der[106] Schlüssel soll hier an meinem Bett liegen!« rief der Herzog verärgert. »Das ist ja ein ganz schlimmer Geselle!«

Da trug der Kammerdiener Kasperle in seine Kammer zurück, warf es ins Bett, schloß zu, und wutsch, saß Kasperle aufrecht da. Es war kein bißchen müde, sondern hatte die größte Lust, ein dummes Streichlein zu machen. Es wartete ein Weilchen, bis draußen auf den Gängen alles still war, dann zündete es sich eine Kerze an. Veit hatte ihm ein Feuerzeug und Kerzen in einen Winkel gestellt. Und mit seinem Licht leuchtete Kasperle die ganze Kammer ab. Es dachte: Vielleicht finde ich ein geheimes Gänglein wie einstmals im Waldschloß des Herzogs. Aber soviel es auch abklopfte und suchte, einen Ausschlupf fand es nicht. Nur ein winziges Türchen war da, das führte in den Schornstein. Gerade über seinem Bett war das.

Der Herzog August Erasmus war gerade eingeschlafen, als ihn plötzlich ein furchtbar dumpfes Getöse wieder weckte. Erschrocken richtete er sich auf. Was war das?

»Huhuhu!« klagte, stöhnte, ächzte es, und der Herzog riß zitternd an seiner Klingel.

Wieder stürzte der Kammerdiener herbei, der Haushofmeister kam, und beide lauschten schreckensbleich auf die unheimlichen Töne.

»Kasperle, das ist sicher Kasperle!« ächzte der Herzog, und der Haushofmeister rannte die Treppen hinab, schloß die Kammer auf und – da lag Kasperle im Bett und schlief ganz fest.

Der Haushofmeister lief wieder hinauf und sagte: »Es ist's nicht, es schläft!«

»Doch, es war's«, rief der Herzog. »Hört nur, jetzt ist es still geworden!«[107]

Es war wirklich still geworden, denn Kasperle hatte nun doch Angst bekommen. Es ließ das Ächzen und Stöhnen sein, und als der Haushofmeister und der Kammerdiener noch einmal in seine Kammer kamen, da schlief es nun wirklich ganz fest.

Oben sagten die beiden: »Es ist's nicht gewesen.«

»Doch, es war's, und morgen soll es seine Strafe haben«, rief der Herzog. »Jetzt will ich schlafen.«

Das wollten alle Leute im Schloß. Bald herrschte die allertiefste Stille, nichts rührte und regte sich.

In Kasperles Kammer aber flog ein kleiner Kauz; der flatterte Kasperle um die Nase herum, und davon wachte es auf. Es schrie aber deshalb nicht so mörderisch wie die Prinzessin Gundolfine bei den Fledermäusen, sondern griff zu und fing den Kauz. Ach, dachte es, der kann auch durch den Schornstein zurückfliegen, hinaus kommt er schon! Und flink machte es das Türlein auf und steckte den armen Kauz hinein. Mochte er sich weiterhelfen.

Na, so sehr gemütlich fand der das nun gerade nicht, durch einen Schornstein zu fliegen. Er fing also an zu schreien, und wieder fuhr der Herzog erschrocken in seinem Bett empor. Der Kauz schrie und rauschte und flatterte, und der Herzog kroch unter sein Deckbett und schrie um Hilfe.

Da wurde es wieder lebendig im Schloß, wieder rannte der Haushofmeister hinab und fand Kasperle schlafend. Diesmal nahm er Kasperle einfach beim Wickel und trug es in des Herzogs Zimmer. »Da ist es«, rief er »es schläft wieder.«

»Kasperle ist es nicht«, rief der Kammerdiener, »es schreit noch immer.«[108]

Ja, es schrie noch immer, denn der arme kleine Kauz fand nicht so schnell zum Schornstein hinaus.

»Uaah, uaah!« gähnte Kasperle. Der Haushofmeister hatte es auf den Boden gelegt, denn er hatte keine Lust, wieder Kasperles Fuß in sein Gesicht zu bekommen.

»Es ist es wirklich nicht«, rief der Herzog zitternd. Der Kauz flatterte jetzt gerade durch den Schornsteinteil seines Zimmers und klagte laut.

»Das ist ein Gespenst«, flüsterte der Kammerdiener.

»Rissel, rassel«, schnarchte Kasperle am Boden.

Noch einmal klagte der Kauz im Kamin wie ein kleines Kind, dann war alles still; der Kauz hatte die Öffnung gefunden. Kasperle schnarchte am Boden, und der Herzog sagte seufzend: »Weckt es, es soll mir etwas vorkaspern!«

Ja, Kasperle wecken, wenn es tat, als schliefe es, war ein schweres Ding! Aber endlich bequemte sich Kasperle doch, riß seine Augen weit auf und fragte: »Was soll ich?«

»Hast du vergessen, daß du mich unterhalten sollst, wenn ich verstimmt bin?« fragte der Herzog brummig.

»Nä!« Kasperle grinste, und dann fing es an Purzelbäume zu schlagen. Eins, zwei, drei, klirrrr, ging der große Spiegel in Scherben, weitherum spritzten die Glasstücke, und der Herzog rief erschrocken: »Aufhören, aufhören!«

Da saß das Kasperle schon mitten auf seinem Bett, steckte sich sein eigenes Bein in den Mund und schickte sich an, auf dem Herzog und dem Bett herumzukollern.

»Um's Himmels willen, nehmt es weg, sperrt es ein! Aber nicht unten in die Kammer, irgendwo, wo es nicht ausreißen kann«, rief der Herzog. »Ganz schlecht soll's ihm gehen.«

Der Haushofmeister, der bald umfiel vor Müdigkeit,[109] nahm das Kasperle, zerrte es mit sich fort, und draußen sagte er: »Kasperle, wenn du mir versprichst, ganz brav zu sein, kannst du auf meinem Sofa schlafen; sonst mußt du unten in eine dunkle Kammer gehen.«

»Will brav sein«, rief Kasperle erschrocken.

»Still, still«, mahnte der alte Haushofmeister, dem der arme kleine Schelm trotz des Nasenstübers leid tat, »damit es der Herr Herzog nicht hört, sonst geht es uns beiden übel!«

Und er nahm Kasperle mit in seine Stube. Kasperle durfte sich auf ein weiches, rotes Sammetsofa legen und ungestört schlafen, und der alte Haushofmeister dachte, als Kasperle flink einschlief: Armer kleiner Bursch, wie wird es dir hier noch ergehen! Unserm Herzog es recht zu machen, wenn er schlechte Laune hat, ist ein schweres Ding.

Und dann legte er sich selbst in sein Bett, und nach ein paar Minuten schliefen alle im Schloß. Nur der Herzog nicht, der war putzmunter vor lauter Aufregung geworden. Er drehte sich rechtsum, linksum, lag auf dem Rücken, lag auf dem Bauch, drehte das Kopfkissen um, einschlafen konnte er nicht.

»Daran ist nur Kasperle schuld«, brummte er; »ich werde einen Käfig machen lassen und es hineinstecken. Warte nur, Kasperle, zum Teufel schicke ich dich nicht, aber schlecht soll es dir ergehen, wenn du weiter so unnütz bist.«[110]

Quelle:
Herold Verlag, Stuttgart, 1983, S. 103-111.
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