Ein neues Heimathaus

[68] Auf der Bergwiese lag das Kasperle und schlief. Der kleine Schelm hörte kein Hundegebell, kein Hussageschrei, nichts; in die einsame Höhe drang kein Laut von unten herauf. Und als Kasperle endlich erwachte, da lag die ganze Wiese im Sonnenglanz, und viele zarte, bunte Blumen waren aufgeblüht. Kasperle rieb sich staunend die Augen. Wie wunderschön war es hier! Im Halbkreis umschloß der hohe Tannenwald die Wiese, und über ihr stiegen steile Bergspitzen himmelan. Darüber glänzte der Himmel tiefblau, und ein feines Summen und Schwirren erfüllte die Luft. Bienen, Käfer, Fliegen und bunte Falter flogen von Blüte zu Blüte, und hoch in der Luft kreiste ein Vogel. Kasperle schaute, es vergaß darüber seine Not, bis auf einmal sein Mäglein mit einem lauten Gerumpel mahnte: »Frühstückszeit ist lang vorbei!«

Ja, Frühstück, woher das nehmen? Kasperle fuhr in seine Taschen, die waren leer, und es half ihm nichts, daß es an die gefüllten Speisekammern im Schloß dachte und an den Kuchen, den Sultan gefressen hatte. Und Beeren, mit denen es wenigstens ein kleines Loch im Magen hätte ausfüllen können, gab es auch nicht. Vom Blumenduft aber kann kein Kasperle satt werden.

Es erhob sich also und beschloß weiterzuwandern. Über die Berge hinüber wollte es; bis dahin würden sie[68] ihm doch vom Schloß aus nicht nachkommen. Wie hoch die Berge waren, ahnte es gar nicht. Es begann tapfer zu laufen, überquerte die schöne Blumenwiese, und dann ging das Klettern los. Wohl eine Stunde mochte es gestiegen sein, als es einen schmalen Pfad sah, der am Berg dahinlief. Dem Weg war freilich anzusehen, daß er nicht oft begangen wurde; ein Weg führte aber meist zu einem Ziel, und das Kasperle rannte, so schnell es konnte, den Pfad entlang. Sein Hunger war inzwischen riesengroß geworden, und auf einmal meinte es, es könne nicht weiter; es setzte sich auf einen Stein und begann vor Herzeleid und Hunger bitterlich zu weinen.

Da ertönte plötzlich ein feines Klingen, es schwoll an, wurde stärker und stärker, und Kasperle dachte: So klang es doch immer sonntags im Waldhaus, wenn sie in Schönau zur Kirche läuteten! Heißa, da mußte eine Kirche in der Nähe sein! Und wo eine Kirche war, wohnten auch Menschen. Da rannte Kasperle den Glockentönen nach. Es brauchte nicht weit zu gehen, nur um einen Felsen herum, da sah es schon tiefer unten ein Dorf liegen. Um eine große weiße Kirche scharten sich die Häuser, friedsam und behaglich sah das aus. Aus jedem Schornstein aber stieg lustig ein feines Rauchwölkchen zum[69] Himmel empor. Da merkte Kasperle, es war Mittagszeit, und die Glocke läutete diese ein. Sie rief und lockte, und der kleine Schelm wäre am liebsten kopfüber den Berg hinabgekugelt, um da unten mitzuschmausen. Er blieb aber doch still auf dem Berg sitzen, weil er sich fürchtete, unter die Menschen zu gehen. Wenn nur nicht der schreckliche Hunger gewesen wäre! Kasperle bog sich ganz zusammen, so hungrig war es, und weinend sah es auf das Dorf hinab. Ach, die hatten es da unten alle gut![70] Die waren nicht so mutterseelenallein und verlassen wie das arme Kasperle!

Von dem Dorf stieg just um diese Zeit ein Mann zu den hohen Bergen empor. Es war dies Herr Habermus, der Schullehrer. Der wollte auf der schönen Bergwiese, über die Kasperle vorher gelaufen war, Blumen suchen. Dort wuchsen seltene Heilkräuter, und Herr Habermus war ein kräuterkundiger Mann. In das einsame Dorf, das den Namen Waldrast führte, kamen wenig Menschen, und wenn Krankheit herrschte, war es mühsam und beschwerlich, einen Arzt herbeizuholen. Da gingen dann die Dörfler lieber zu ihrem Schullehrer; der half ihnen mit seinen Kräutertränklein, so gut es ging. An diesem schönen, hellen Tag nun gedachte Herr Habermus seine grüne Botanisierbüchse mit Kräutern zu füllen und fand dafür das weinende Kasperle. »Jemine«, schrie er, als er den Kleinen erblickte, »was ist denn das!« Er dachte wirklich, es sei ein Berggeistlein oder so etwas, obgleich er eigentlich nicht an solche Dinge glaubte. Aber das Kasperle kam ihm doch zu sonderbar vor, auch war dieser Bergpfad gar kein Weg, auf dem sonst Fremde daherkamen. »Heda!« rief er und packte das weinende Kasperle. »Wo kommst du denn her? Wo willst du hin? Warum weinst du denn?«

Drei Fragen auf einmal, das war ein bißchen viel. Kasperle sagte schluchzend wieder sein Sprüchlein her, es sei ein armes, verlassenes Waisenbüble und wolle in die weite Welt gehen.

Herr Habermus hatte ein gutes, mitleidiges Herz, dem tat Kasperle gleich ungemein leid. »Nun, nun«, sagte er, »da mußt du doch nicht so schrecklich weinen; in der weiten Welt wird schon noch Platz für so ein Büble sein!«

»Ich hab' doch Hunger!« schrie Kasperle so laut und kläglich, daß Herr Habermus ganz erschrocken seine grüne Büchse um und um drehte. Die hatte ihm seine liebe Frau mit Butterbroten und Pfingstkuchen wohl gefüllt,[71] und der Schullehrer drückte Kasperle Brot und Kuchen in die Hände und wollte gerade ermahnen: »Iß!«, da – schrippschrapp! – hatte Kasperle schon beides in seinen großen Mund gesteckt. Schluck, schluck, hinunter war es!

»Potzwetter«, schrie Herr Habermus, »du kannst das Essen gut!« Er füllte wieder Kasperles Hände, und wieder schluckte es – eins, zwei drei! – alles hinab. Es wird nicht reichen, dachte Herr Habermus bekümmert. Aber es reichte. Kasperle wurde plumpsatt, und der Schullehrer sagte: »Nun erzähl mir mal, wo du eigentlich herkommst!« Das war eine schwere Sache. Kasperle erzählte verlegen von Protzendorf, er klagte Damian und Florian bitter an, und der gute Herr Habermus dachte, der kleine Schelm sei wer weiß wie lange dort Gänsehirt gewesen. »Bist du denn auch regelmäßig dabei in die Schule gegangen?« fragte er mitleidig.

»In die Schule?« Kasperle riß seinen Mund vor Erstaunen noch weiter auf als zuvor aus Hunger. Denn daß ein Kasperle jemals in eine Schule gehen sollte, daran hatte es nie gedacht. »Nä!« rief es und schüttelte immerzu den Kopf. »In die Schule – nä!«

»Nanu, bist du überhaupt noch nie in eine Schule gegangen?« fragte Herr Habermus ordentlich entsetzt.

»Nä, nie!« Das ganze Kasperle wackelte hin und her, und Herr Habermus schüttelte auch den Kopf; das war doch wirklich eine schlimme Geschichte! Hier mußte geholfen werden, der Bube mußte in die Schule gehen. Ei, das wäre noch schöner, ein Büble in der weiten Welt herumlaufen zu lassen, immer an der Schule vorbei! »Das geht nicht«, rief er, »mein Sohn, du mußt in die Schule gehen!«

Hätte der gute Herr Habermus gesagt: »Kasper, ich muß dir die Ohren abschneiden«, dann hätte das den nicht mehr erschrecken können. Im Waldhaus hatte Meister Friedolin manchmal gedroht: »Na warte, ich schicke[72] dich noch in die Schule!« Und Windgustel und Wassergustel, seine Freunde in Protzendorf, hatten ihm gesagt, an der Schule seien nur die Ferien gut. Und Kasperle glaubte dies den beiden Faulpelzen mehr als Herrn Habermus, der jetzt sagte: »Ei, ein rechter Junge muß in die Schule gehen und muß sich darauf freuen, denn in einer Schule ist es wunderschön!« Und dann legte Herr Habermus den Finger an die Nase; er dachte nach, wie dem Kasperle zu helfen sei. Und als er eine Weile nachgedacht hatte, sagte er: »Mein Sohn, ich nehme dich mit nach Waldrast. Wir haben nur zwei Kinder, also ist Platz im Schulhause. Du kannst meiner Frau in der Küche helfen und mir beim Kräutersuchen; doch wenn ich Schule halte, spazierst du hinein. Du sollst etwas Ordentliches lernen. So, nun marsch, jetzt gehen wir nach Hause! Das Kräutersuchen lasse ich heute sein. Na, meine Frau wird Augen machen, wenn sie den Gast sieht, den ich mitbringe!«

Dem Kasperle war es zumute, als hätte es ein Wirbelsturm rundum gedreht. Auf einmal sollte es, das richtige, echte Kasperle, in eine Schule gehen. Wie würde denn das sein? Ganz verwirrt ging es hinter dem Schullehrer her, der auf einem schmalen Zickzackweg ins Tal hinabstieg. So kamen sie beide im Dorf an, und gleich am ersten Haus unter einer großen Tanne saßen etliche Buben und Mädel. Die staunten über den seltsamen Buben, der da mit hängendem Kopf hinter ihrem Schullehrer hertrabte. Flink liefen sie nach, um sich das Kasperle genauer anzusehen. Dies Angeschaue verdroß Kasperle, es drehte sich auf einmal blitzschnell um und machte sein Räuberhauptmanngesicht.

»Huhuhu!« Die Mädel kreischten laut, die Buben lachten, Herr Habermus aber drehte sich ärgerlich um. »Was soll denn der Lärm?« fragte er.

»Der da macht so 'n komisches Gesicht!« Lauter kleine Zeigefinger streckten sich aus und deuteten auf Kasperle.[73]

Doch da wurde Herr Habermus ernstlich böse. »Schämt euch!« rief er. »Was kann der arme Bub für seine große Nase! Ein armes Waisenkind ist's, dem es arg schlechtgegangen ist in der Welt: Komm nur, Kasperle, morgen in der Schule werden sie sich schon mit dir vertragen!« Und Herr Habermus stapfte weiter und das Kasperle hinterher.

Nach drei Schritten aber drehte sich der kleine Schelm wieder um und schnitt sein allerdümmstes Kasperlegesicht. Die Kinder kreischten laut vor Vergnügen, und der Schullehrer mahnte streng: »Aber Kinder, was soll denn der Lärm?«

Und wieder streckten sich lauter kleine Zeigefinger aus, und wieder ertönte es im Chor: »Der da macht so 'n komisches Gesicht.«

»Kasper!« Herr Habermus sah seinen kleinen Schützling fragend an, doch der blickte ganz unschuldig drein, als könne er kein Wässerlein trüben. »Dumm, dumm!« brummte der Schullehrer und ging weiter, denn das Schulhaus lag ganz am andern Ende des Dorfes. Trapp, trapp folgte ihm Kasperle.

Die Frau Schullehrer sah arg erstaunt drein, als ihr Mann so bald schon mit einem solch sonderbaren Kauz zurückkehrte. »Jemine!« rief sie. »Was bringst du denn da für einen Popanz mit? Der sieht ja aus wie 'n Kasperle aus 'ner Jahrmarktsbude!«

Herr Habermus war sehr gekränkt. Er erklärte seiner lieben Frau, wie er Kasperle gefunden hatte, und der Schlingel stand trübselig dabei und machte ein so unschuldiges Gesicht, daß er der Frau bitter leid tat. Sie nahm den Kleinen freundlich an der Hand und führte ihn in das Haus hinein.

Drinnen freilich gab es ein großes Geschrei und arg böse Blicke bei Kasperles Anblick. Für das Geschrei sorgten Lenchen und Lorchen Habermus, die drei- und vierjährig[74] und noch ein bißchen dumm waren. Sie hörten freilich bald wieder auf zu schreien, als Kasperle ein lustiges Gesicht aufsetzte, ja sie jauchzten ihm begeistert zu. In das laute Gelächter stimmte nur die Base Mummeline nicht ein, die immer ein arg böses Gesicht machte. Wie eine Gewitterwolke sah sie drein. Ihr paßte der Gast im Hause, der unnütze Esser, nicht, und ihr gefiel das ganze Kasperle auch nicht. »Wie ein Spatzenschreck sieht er aus«, behauptete sie und sah den Kleinen scheel an.

Dem Kasperle gefiel die Base Mummeline auch recht wenig. Es merkte gleich, an der hatte es keine gute Freundin. Drum machte es blitzschnell, als die Base beim Abendessen so unwirsch dreinsah, sein Räubergesicht. »Hach«, kreischte die Base, »wie sieht der Bengel aus! Man muß sich ja fürchten.«

Weil aber Kasperle, der Schelm, wohl aufgepaßt hatte, daß niemand anders sein Räubergesicht sah, und es dann flink wieder ganz unschuldsvoll dreinblickte, schalt die Frau Lehrer: »Aber Base, das Büble tat doch nichts! Sei nicht so ungut!«

»Hach!« Die Base fiel fast vom Stuhl vor Schreck. »Jetzt, jetzt hat er wieder so ausgeschaut«, jammerte sie. »O du meine Güte, mit dem gibt's noch ein Unglück!«

Der gute Herr Habermus sah etwas bedenklich drein. Es fiel ihm ein, wie die Kinder geschrien und gelacht hatten, als er mit Kasperle durch das Dorf gegangen war, er sah auch in Kasperles Augen den Schalk glitzern und funkeln, da dachte er: Ich muß wohl gut aufpassen. Und als die Base Mummeline mal wieder »hach!« und »ach!« schrie, sagte er streng: »Nun ist's genug! Kasper muß ins Bett. Er soll sich heute ausschlafen; morgen fängt die Schule an, da muß er tüchtig lernen. Und Dummheiten werden nicht gemacht«, fügte er drohend hinzu.

Na, ich mache doch nie Dummheiten! dachte Kasperle betrübt, als es sich im Bett ausstreckte. Ich doch nicht![75] Und dann lauschte es und hörte, wie nach einem Weilchen die Base Mummeline in ihre Kammer ging. Die lag neben der seinen. Da stieg das Kasperle flink auf das Fensterbrett, nahm einen langen Stock, der in einer Ecke lehnte, und bums, bums schlug es damit an das Fenster der Base. Die wollte eben ihre Zöpfe aufmachen und fiel vor Schreck kopfüber in die Waschschüssel. Sie pustete und ächzte und meinte nichts anderes, als ein Gespenst sei draußen vor ihrem Fenster. Doch plötzlich besann sie sich, nahm ihr Licht und rannte in Kasperles Kammer hinüber. Doch das Kasperle lag im Federbett ganz still und friedlich und war anzuschauen, als schliefe es. Die Base Mummeline schüttelte den Kopf. »Hm, hm!« brummelte sie und ging zur Türe hinaus, drehte sich aber noch einmal um und – »hach!« kreischte die Base wieder und stolperte vor Eile über ihre Pantoffeln. Der Schullehrer und seine Frau kamen angerannt und fragten erschrocken, was der Lärm bedeuten solle. »Da – da drin liegt ein Gespenst!«[76] jammerte die Base und zeigte nach Kasperles Kammer.

»Unsinn!« Herr Habermus tat die Türe auf und sah hinein. Da lag Kasperle fromm und friedlich im Bett und schlief, es schnarchte sogar ein wenig. »Was die Base nur hat!« brummte Herr Habermus ärgerlich und schloß sachte Kasperles Kammertüre. Ach, dessen bitterböses Räubergesicht hatte eben nur die Base Mummeline zu sehen bekommen, und die schlief die halbe Nacht nicht vor Grauen über den unheimlichen kleinen Gast.[77]

Quelle:
Herold Verlag, Fellbach, 1985, S. 68-78.
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