Kasperle erlebt zuviel

[129] An diesem Tag waren in das schöne, stille Tal, in das der Bach herniederrauschte, Gäste gekommen, etwas Seltenes in dem einsamen Tal. Doch die Gäste sagten: »Wir suchen jemand, und wenn sich jemand versteckt, dann tut er es sicher in solch einem einsamen Tal.«

Am Nachmittag gingen die Gäste spazieren, und wenn Angela sie gesehen hätte, dann hätte sie sicher vor Schreck geschrien, denn sie hätte den Oheim, die Tante und Herrn von Löwenzahn in ihnen erkannt.

»Dort kommt ein schöner Wasserfall vom Berge«, sagte die Tante. »Ach, ich liebe Wasserfälle so sehr!«

Die drei gingen an den Fall. Wie eine weiße Schaumwoge sah es aus, und wie die drei so dastanden, brachte die Schaumwoge auf einmal etwas Dunkles mit. Burzel! Bums! Auf und nieder tanzte das dunkle Ding, und die Tante schrie plötzlich: »Es ist ein Junge, aber er ist sicher tot.«

Gisch – brauste der Bach, und da lag der Junge auf einmal am Ufer, er rappelte und regte sich nicht.

»Das ist kein Junge, das ist – ein – Kasperle«, schrie Herr von Löwenzahn. Und das war nach all dem Gerausche und Gebrause das erste, was Kasperle wieder hörte. Die Stimme kam ihm unangenehm bekannt vor, und erschrocken hielt es die Augen noch geschlossen.

»Das ist das Kasperle von Mister Stopps«, sagte Herr von Löwenzahn, »ich erkenne den Frechling. Wo der ist, werden auch Florizel und Angela in der Nähe sein. Wenn er wieder lebendig ist –«[129]

»Aber wie kann er lebendig werden, wenn er doch tot ist?« rief die Tante.

Sie ahnte nicht, was ein rechtes, echtes Kasperle aushalten kann. Übel war es dem freilich, und es dachte: Wenn sie doch weggingen, es wird mir sonst noch ganz schlecht.[130]

»Ich werde jemand holen, der den Kerl ins Dorf schafft«, erklärte Herr von Löwenzahn.

»Ich gehe mit«, rief die Tante, die sich vor dem toten Kasperle graulte.

»Na, glaubt ihr, ich bleibe bei dem Popanz?« brummte der Vormund.

»Aber wenn er ausreißt!«

»So flink kann er nicht lebendig werden, und da kommt der alte Martin, der kann aufpassen.«


Der Diener kam daher. Der war die ganze Zeit mitgefahren, und wie er das Kasperle sah, wurde ihm himmelangst. Er sagte aber kein Wörtlein, sondern seufzte nur tief, worauf die Tante boshaft fragte: »Du graulst dich wohl?«

»Ih nä, nur 'n bißchen«, murmelte der Alte schlau, »ich bleibe hier und halte Wache.«

»Das ist gut, dann bist du doch nicht umsonst mitgefahren.«

Kaum waren die drei gegangen, schlug Kasperle die Äuglein auf und klagte wehleidig: »Wenn die mich fangen, geht mir's schlecht!«

»Alle guten Geister, du bist ja gar nicht tot!«

»Nä«, stöhnte Kasperle, »ich hab mir nur sechs Beine und hundert Rippen und sonst etwas gebrochen, und wenn Mister Stopps kommt, und – und –«

»Fräulein Angela, mein Herzenskind«, schrie der Alte. »Ist sie bei euch?«

»Schrei doch nicht so laut!« flüsterte Kasperle. »Eine Angela gibt's nicht mehr, nur einen Tom, und der hat braune Haare, er sagt aber, das käme von den Nußblättern.«

»Ach so«, lachte der Alte, »jetzt sind sie braun, die schönen Haare. Weißt du was, Kasperle, jetzt hockst du auf[131] meine Schultern, und wir suchen Mister Stopps und Tom mit den braunen Locken.«

»Und Florizel und Bob. Hach, dann müssen wir aber den schrecklichen Wildbach hinaufklettern, die stehen ja oben.«

»Aber Kasperle, die werden doch jetzt nicht mehr da oben stehen. Haben sie einen Wagen?«

»Freilich!«

»Na, dann kommen sie die Fahrstraße herunter. Aber«, der alte Martin blieb plötzlich stehen, »ich muß doch nachher wieder zurück.«

»Ach nein«, bettelte Kasperle, »du kommst mit zu Mister Stopps.«

»Der wird mich doch nicht mitnehmen.«

»Doch«, rief Kasperle, »Florizel hat er auch eingeladen und Angela, und – und er freut sich sicher.«

Wenn er sich freut, kann ich ja mitgehen, dachte der alte Diener und wanderte, so schnell er konnte, bergan. Doch das Kasperle hatte gar kein so leichtes Herz. Es dachte freilich: Ach, wenn mich Mister Stopps wiedersieht, freut er sich gewiß, aber ob er dann Martin aufnimmt, ist ungewiß.

Der Alte keuchte. Das Kasperle hatte schon sein Gewicht, und aus dem Tal klangen Stimmen herauf.

»Himmel, wenn sie uns sehen und –« da kam ein Wagen angerasselt, und Kasperle rief laut: »Mister Stopps!«

Der war es wirklich, und in seiner Freude, sein Kasperle wieder zu haben, merkte er gar nicht, daß Florizel und Angela mit Bob und Martin leise flüsterten. Man hörte immer lauteres Rufen im Tal, und der alte Martin erschrak furchtbar, als die Berge das Echo wiedergaben und sein Name vielfach ertönte.

»Potztausend«, stöhnte er, »sie kommen uns nach.« Er wandte sich hin und her, und auf einmal waren Florizel und[132] Angela verschwunden, und Bob sagte: »Wir tun am besten daran, hier zu warten, und Martin erklärt Herrn von Löwenzahn, daß er nur Mister Stopps, Kasperle und mich gefunden hat, und wir sagen, wir hätten Kasperle suchen wollen.«

»Aber –« stotterte der alte Diener.

»Geh nur, Kamerad«, rief Mister Stopps' Kutscher, »ich versichere denen, ich hätte niemand mehr und niemand weniger hierher gefahren, als diese drei.« Da rannte Martin ganz verdattert dem Oheim, der Tante und Herrn von Löwenzahn entgegen und stammelte und stotterte eine sonderbare Geschichte heraus. Die Tante schrie: »Da ist Angela dabei und dieser schreckliche Florizel.«

»Nein, die sind ganz bestimmt nicht dabei«, brummte Martin.

Und sie waren auch nicht dabei! Mister Stopps hatte zu seinem grenzenlosen Erstaunen nun auch das Verschwinden von Florizel und Tom bemerkt, und Kasperle rief erschrocken: »Die sind gewiß auch in den Bach gefallen.«

Als es das gerade sagte, kam der Herr von Löwenzahn und rief immerzu: »Angela!«

»Uen uollen Sie?«

»Angela und diesen schrecklichen Florizel, ich will ihn verhauen«, schrie Herr von Löwenzahn außer sich vor Wut.

»Das sein nicht nett von Sie, aber einstweilen ist er mit Tom in den Bach gefallen.«

»In den Bach?«

»Ja, uie Kahs–pärle!« Der gute Mister Stopps meinte, Kasperle müßte sich doch darin gut auskennen. Er sagte es darum so ernsthaft und würdevoll, daß auch Herr von Löwenzahn daran glaubte. Erst fragte er aber noch einmal den alten Diener Martin: »Hast du sie wirklich nicht gesehen?«[133]

»Nä«, antwortete der Martin, blieb aber zurück und rannte nicht mit an den Bach, und Kasperle bettelte: »Gelt, Mister Stopps, den nimmste mit?«

»Uen?«

»Nu, den Martin!«

»Uo ist er?«

»Na, auf dem Bock sitzt er, weil er doch ein Diener ist.«

Und dann sann Mister Stopps nach, und plötzlich rief er erschrocken: »Aber uenn sie in den Bach gefallen sind, können sie doch tot sein!«

»Nä«, rief Kasperle, »ich bin doch auch nicht tot, und dann sind sie ja auch gar nicht in den Bach gefallen.«

»Aber Kasperle, du hast wieder gelugen.«

»Nä, ich lugte nicht, Mister Stopps, ich dachte nur.«

»Ach so, du hast verkehrt gedacht!«

Kasperle nickte stolz. »Aber nun rate mal, Mister Stopps, wo sie sind!«

»Ausgerissen.«

»Nä.«

»Kahs–pärle, du mußt nicht immer lugen.«

»Ich luge nicht«, schrie Kasperle empört, »hör doch mal!«

Und da hörte Mister Stopps Florizels Stimme hell ertönen:


»Wir fahren über Berg und Tal

Und liegen nicht im Wasserfall.

Trallalala.

Einer nur hat drin gelegen,

Kasper heißt er allerwegen.

Trallalala.

Wo sind wir? Ei, ratet nur,

Man sieht von uns doch keine Spur.

Trallalala.«[134]


»Höchst merkuürdig«, sagte Mister Stopps, und dann rief er: »Halten!« ging um den Wagen herum, sah hinauf, sah unter die Räder, sah aber niemand. »Ich höre sie aber lachen«, brummte er.

Da erhoben sich oben auf dem Verdeck zwei, die steif und eng zwischen den Koffern gelegen hatten. Es waren Florizel und Angela, und Kasperle schrie: »Da sind se, da sind se!«

Dabei konnte es doch wirklich jeder sehen, daß sie da waren.

Mister Stopps schüttelte sehr nachdenklich seinen Kopf,[135] und dann sagte er, man müsse es Herrn von Löwenzahn, dem Oheim und der Tante sagen, daß die beiden nicht in den Wildbach gefallen seien.

Aber da rief Kasperle: »Er wird ihn totstechen.«

Florizel lachte freilich über die Drohung des kleinen, dicken Herrn von Löwenzahn, aber Mister Stopps erschrak gewaltig. Er kletterte fix wieder in den Wagen hinein und schrie: »Ueiterfahren, ueiterfahren! Mak snell!«

Ja, schnell geht es nun einmal nicht bergan. Die Pferde gingen nur langsam, der Wagen ächzte und krachte, Angela, Florizel, Bob und Martin gingen zu Fuß, und der Kutscher rief: »Kasperle, du kannst auch zu Fuß gehen, dann wird der Wagen noch leichter.«

»Ja«, schrie Kasperle, »ich purzelbaume.«

Mister Stopps wollte gerade rufen, dies solle es nicht tun, da purzelbaumte Kasperle schon los, eine kleine Anhöhe hinauf.

»Kahs–pärle, Kahs–pärle!« schrie Mister Stopps erschrocken.

»Es geschieht ihm nichts«, riefen Bob und Florizel. Sie rannten aber doch dem Wildfang nach, sahen ihn noch purzelbaumen, kamen auf eine Anhöhe, da lag friedlich, dicht am Abhang, eine Sennhütte. Kühe weideten, alles war still und friedsam, nur von Kasperle war keine Spur zu sehen.

Ja, wo war der Strick? Eben war er doch noch da. Wenn er in die Hütte gelaufen wäre, hätten sie doch noch etwas von ihm sehen müssen, auch war, als die beiden an die Hütte kamen, die Tür von innen verschlossen. Mister Stopps und Angela kamen nun auch herauf, der alte Martin folgte ihnen, und gerade in diesem Augenblick kam eine Sennerin aus der Hütte. Die sah ganz verstört aus und jammerte: der Teufel säße in ihrem Käsekessel.[136]

»Der Teufel, wo ist er denn hergekommen?«

»Durch den Schornstein«, stöhnte die Frau in heller Verzweiflung. »Ach du heiliger Himmel, der Schreck ist mir in alle Glieder gefahren.«

»Das ist Kasperle«, riefen alle wie aus einem Mund und rannten in die Hütte. Und es war wirklich Kasperle. Das saß in einem Kessel voll dicker Sahne, die just anfing warm zu werden. Bei seinem Purzelbaumschießen war das Kasperle in den Schornstein geraten, und nun saß es in dem dicken Sahnenbrei, aus dem es nicht herauskonnte.

Er heulte jämmerlich, der kleine, unnütze Kerl, und die Sennerin, die sich auch wieder in die Hütte traute, sagte: »Man könnt glauben, daß es ein Teufli ist, das da drin sitzt.«

»Ist es aber nicht, es ist ein Kasperle!«

Von so einem Ding hatte die Sennerin noch nie etwas gehört, und Florizel und Bob erklärten es ihr, während sie Kasperle aus dem Käsekessel zogen. Aber ein lustiger kleiner Irrwisch, wie sie sagten, war jetzt das Kasperle wirklich nicht. Es hatte heute doch zuviel mitgemacht. In einem Wasserfall herumgewirbelt zu werden, und in einen Käsekessel zu fallen und nicht wieder herauszukommen, ist etwas viel für einen Tag. Dem armen Schelm war es sehr übel zumute. Bob nahm ihn, wusch ihn, zog ihm ein blauseidenes Röcklein an, aber alles machte ihm jetzt keinen Spaß. Er jammerte, er möchte schlafen, und Mister Stopps jammerte: »Kasperle stirbt!«

»Nä, ich stirbse nicht, aber ich hab das Reisen satt!«

»Ich auch«, rief Mister Stopps. »Uir gehen in meine Haus.«

»Nach England?« fragte Bob erstaunt.

»O no, nach Lugano!«[137]

»Wo liegt Lugano?« Kasperles Äuglein glitzerten schon wieder.

»An einem See!«

»Kann man da 'reinfallen?«

»Ja, wenn man ein kleiner Dummkopf ist wie du«, sagte Florizel.

»Heidi! dann fall ich nicht 'rein, ich bin ein Gescheitle«, rief Kasperle stolz. Und auf einmal machte es ein blitzdummes Gesicht, weil es zeigen wollte, wie gescheit es sei.

»Hahahaha!« Die Sennerin, die sich ganz scheu in eine Ecke gesetzt hatte, lachte plötzlich aus vollem Halse. Sie lachte und lachte, und je mehr sie lachte, desto komischere Gesichter schnitt das Kasperle.

Da merkte das Gritli doch, was für ein merkwürdiges Ding so ein Kasperle ist, und es ging ihr wie vielen andern: sie hätte das Kasperle am liebsten behalten. Doch Bob trug es in den Wagen und legte es bequem hin, und der kleine Schelm schlief sofort ein. Nicht einmal eßlustig war er. Mister Stopps, Angela, Florizel und Bob setzten sich auf eine schöne Bergwiese und schmausten. Martin und der Kutscher saßen auf dem Bock und erzählten sich von ihren vielen Fahrten im ganzen Land herum.

So sehr schwatzten sie, daß sie gar nicht merkten, wie jemand leise, leise den Wagen aufmachte und das Kasperle herausholte. Gritli schleppte das schlafende Kasperle flink in ihren Hühnerstall, und dann trug sie ein dickes Strohbündel in den Wagen. Es merkte wirklich niemand, daß kein Kasperle unter der Decke lag, sondern ein Bündel Stroh. Nach dem Essen stieg Mister Stopps ein. Bob, Angela und Florizel setzten sich hinten auf den Rücksitz. Wie die Heringe saßen sie, aber das hinderte Florizel nicht, lustig zu sein und zu singen.[138]

Er spielte, und als sich der Wagen in Bewegung setzte, sang er:


»O blauer See, o schöner See,

Wie freu ich mich, wenn ich dich seh,

Im Herzen –«


Kikeriki, gagagag, gagagag, ging es da in Gritlis Hühnerstall los, und dazwischen ertönte ein schreckliches Gebrüll.

Gritli wußte nichts davon, wie sehr ein Kasperle brüllen konnte, und wie sehr es Hühner zu erschrecken vermochte. Der Hahn krähte sich bald den Hals wund, die Hühner gackerten, als hätte jedes zehn Eier auf einmal gelegt, und als Florizel, der auf den Lärm hin vom Wagen geklettert war, die Stalltür aufriß, da purzelten Kasperle, Hahn und[139] Hühner, alles mit einem Mal heraus, auch ein ganzer Korb voll Eier kam ins Wanken. Gritli schrie, aber da begann Bob sie auszuschelten, aber ordentlich, es war ein richtiges Hagelwetter, und Gritli verkroch sich zuletzt vor Angst in ihre Hütte. Sie dachte: In meinem Leben stehle ich kein Kasperle mehr.

»Oh, mein armes Kahs–pärle!« klagte Mister Stopps. »Uünsch dir uas zum Trost!«

Kasperle wollte gerade seinen Mund auftun und schreien: »Eine große, große Zuckertüte«, als Bob ihm den Mund zuhielt und rief: »Überlege es dir! Wünschen darf man nicht so schnell!« Kasperle merkte es Bob an, daß der etwas wußte. Was es wohl sein mochte? Kasperle dachte darüber nach, und darüber war es auf einmal eingeschlafen, es wußte nicht wie. Es war wirklich zuviel, selbst für ein Kasperle: Wasserfall, Käsekessel und dann noch Hühnerstall. Was zuviel ist, ist zuviel![140]

Quelle:
-, S. 129-141.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anonym

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.

298 Seiten, 15.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon