Achtundvierzigstes Kapitel.

[103] Die Worte des Apostels hatten den Christen ihre Zuversicht wiedergegeben. Das Ende der Welt erschien ihnen zwar nahe, sie fingen aber doch an zu glauben, daß das Schreckensgericht nicht unmittelbar über sie hereinbrechen werde und daß sie vorher vielleicht noch das Ende von Neros Herrschaft, die sie für die Herrschaft des Antichrists hielten, und die Strafe Gottes für seine die Rache des Himmels herausfordernden Verbrechen erleben würden. Getrösteten Herzens begannen sie daher nach Beendigung der Andacht die Höhle zu verlassen[103] und nach ihren jetzigen Zufluchtsorten zurückzukehren, selbst auf das jenseitige Ufer des Tiber, weil sich die Kunde verbreitet hatte, das an mehreren Stellen erloschene Feuer habe sich infolge einer Drehung des Windes dem Flusse wieder zugewandt und aufgehört sich auszudehnen, nachdem es zerstört hatte, was zu zerstören war.

Der Apostel hatte in Vinicius' und Chilons Begleitung ebenfalls die Höhle verlassen. Der junge Tribun wagte nicht, ihn in seinem Gebete zu stören, und ging daher eine Zeitlang schweigend neben ihm her, nur einen flehenden Blick im Auge und vor Erregung zitternd. Viele traten noch herzu, um dem Apostel die Hände und den Saum seines Mantels zu küssen, Mütter hielten ihm ihre Kinder hin; einige knieten in dem dunklen, langen Gange nieder, erhoben die Kerzen und baten um seinen Segen, andere begleiteten ihn unter Gesang, so daß sich kein ruhiger Augenblick zu einer Frage oder Antwort ergab. So war es in dem engen Gange. Erst als sie an einen freieren Platz gelangten, von dem aus man schon die brennende Stadt sehen konnte, segnete Petrus seine Begleiter dreimal und wandte sich an Vinicius.

»Habe keine Furcht; die Hütte des Steinbrechers, in der wir Lygia samt Linus und ihrem treuen Diener finden werden, liegt in der Nähe. Christus, der sie dir bestimmt hat, hat sie dir auch gerettet.«

Vinicius wankte und stützte sich mit der Hand gegen die Felswand. Der Ritt von Antium her, die Ereignisse vor den Stadtmauern, das Suchen nach Lygia inmitten der brennenden Häuser, die Schlaflosigkeit und die fürchterliche Unruhe um die Geliebte hatten seine Kräfte erschöpft, und den Rest davon hatte ihm die Kunde geraubt, daß das, was ihm das Teuerste auf Erden war, in seiner Nähe weile und daß er Lygia bald sehen werde. Es überkam ihn plötzlich eine solche Schwäche, daß er zu den Füßen des Apostels niedersank, seine Kniee umklammerte und in dieser Stellung liegen blieb, ohne ein Wort hervorbringen zu können.[104]

Der Apostel wehrte aber seinen Dank und seine Ehrfurchtsbezeugung ab und sagte: »Nicht mir, nicht mir, sondern Christus mußt du danken.«

»Welch guter Gott!« fiel Chilon mit leiser Stimme ein. »Ich weiß aber nicht, was ich mit den beiden Maultieren beginnen soll, die dort unten warten.«

»Stehe auf und komm mit mir,« sagte Petrus, indem er dem jungen Manne die Hand reichte.

Vinicius erhob sich. Bei dem Feuerscheine konnte man die Tränen sehen, die ihm über sein blasses Gesicht flossen. Die Lippen bewegten sich wie zum Gebete.

»Gut; wir wollen gehen!« antwortete er.

Aber Chilon wiederholte nochmals seine Frage: »Herr, was soll ich mit den Maultieren anfangen? Vielleicht will der würdige Prophet hier lieber reiten als gehen.«

Vinicius wußte selber nicht, was er antworten sollte; da er aber von Petrus gehört hatte, daß die Hütte des Steinbrechers in der Nähe liege, erwiderte er: »Bringe sie zu Macrinus zurück.«

»Gestatte, Herr, daß ich dich an das Haus in Ameriola erinnere. Angesichts dieses schrecklichen Brandes könnte eine solche Kleinigkeit leicht in Vergessenheit geraten.«

»Du sollst es erhalten.«

»O Urenkel des Numa Pompilius, ich war stets davon überzeugt, aber jetzt, wo auch dieser hochherzige Apostel dein Versprechen gehört hat, will ich dich nicht einmal daran erinnern, daß du mir auch einen Weinberg versprochen hast. Pax vobiscum. Auf Wiedersehen, Herr! Pax vobiscum!«

»Friede sei auch mit dir!« antworteten sie beide. Dann wandten sie sich bergaufwärts nach rechts. Unterwegs sagte Vinicius: »Herr, reinige mich in dem Bade der Taufe, damit ich mich einen wahren Anhänger Christi nennen darf, denn ich liebe ihn mit aller Kraft meiner Seele. Taufe mich bald, denn ich bin im Herzen dazu bereit. Was er mir befiehlt,[105] will ich tun; sage du mir aber, was ich noch außerdem tun kann.«

»Liebe die Menschen wie deine Brüder,« entgegnete der Apostel; »denn nur durch Liebe kannst du ihm dienen.«

»Ja, ich verstehe dies schon und fühle es. Als Kind glaubte ich an die römischen Götter, ohne sie zu lieben; aber diesen einen Gott liebe ich so, daß ich mit Freuden mein Blut für ihn hingeben könnte.«

Er blickte zum Himmel empor und fuhr voller Begeisterung fort: »Denn er ist der eine! er ist gütig und barmherzig! Mag daher nicht nur die Stadt, sondern die ganze Welt untergehen, ihn allein will ich verehren und zu ihm allein beten.«

»Und er wird dich und dein Haus segnen,« fiel der Apostel ein.

Inzwischen waren sie in einen anderen Hohlweg eingebogen, an dessen Ende ein trübes Licht brannte.

Petrus deutete mit der Hand darauf und sagte: »Dort liegt die Hütte des Steinbrechers, der uns ein Obdach gewährt hat, als wir mit dem kranken Linus aus dem Ostrianum zurückkehrten und nicht in seine Wohnung jenseit des Tiber gelangen konnten.«

Nach einiger Zeit hatten sie ihr Ziel erreicht. Die Hütte war eher eine Höhle zu nennen, die in den Abhang des Berges gegraben und nach außen durch eine Wand aus Lehm und Rohr abgegrenzt war. Die Tür war verschlossen, aber durch eine Öffnung, welche die Stelle des Fensters vertrat, konnte man in das erleuchtete Innere blicken.

Eine dunkle Hünengestalt erhob sich beim Herannahen der beiden Ankömmlinge und fragte: »Wer seid ihr?«

»Diener Christi,« erwiderte Petrus. »Friede sei mit dir, Ursus.«

Ursus verneigte sich vor dem Apostel bis zur Erde und ergriff, als er Vinicius erkannte, dessen Hand und zog sie an seine Lippen.[106]

»Auch du, Herr?« fragte er. »Gesegnet sei der Name des Lammes um der Freude willen, die du Kalline bringst.«

Dann öffnete er die Tür, damit sie eintreten konnten. Auf einem Strohbündel lag der kranke Linus mit abgezehrtem Gesicht und einer Haut, gelb wie Elfenbein. Am Herde saß Lygia mit einer Anzahl an einer Schnur befestigter kleiner Fische, die offenbar für die Abendmahlzeit bestimmt waren.

Sie war mit dem Ablösen der Fische von der Schnur beschäftigt und sah überhaupt nicht auf, da sie glaubte, es sei Ursus, der zurückkehre. Vinicius näherte sich ihr, rief ihren Namen und breitete die Arme nach ihr aus. Jetzt erhob sie sich rasch; ein Strahl erstaunter Freude erhellte ihr Gesicht, und wortlos, wie ein Kind, das nach tagelanger Angst und Qual Vater oder Mutter wiederfindet, stürzte sie sich in seine geöffneten Arme.

Er umarmte sie und hielt sie lange an seine Brust gepreßt, ebenfalls mit einem Entzücken, als sei sie durch ein Wunder gerettet. Dann ließ er sie los, faßte sie bei den Schläfen und küßte sie auf Stirn und Augen, umarmte sie abermals und wiederholte ihren Namen; dann beugte er sich tief auf ihre Hände hernieder und begrüßte sie mit schmeichelnden und verehrungsvollen Worten. Seine Freude war in der Tat grenzenlos, ebenso wie seine Liebe und sein Glück.

Endlich begann er zu erzählen, wie er aus Antium hergeeilt sei, wie er sie vor den Toren und in Linus' raucherfülltem Hause gesucht, was er gelitten und erlebt und wie er sich abgemartert habe, bevor der Apostel ihn zu ihrem Zufluchtsorte geführt habe.

»Jetzt aber,« sagte er, »wo ich dich gefunden habe, lasse ich dich nicht länger hier im Angesicht dieses Feuers und der rasenden Menge. Die Menschen schlagen einander vor den Stadtmauern tot, die Sklaven empören sich und plündern; Gott allein weiß, was für Prüfungen noch Rom beschieden sind. Aber ich werde dich und euch alle retten. Geliebte! ...[107] Wollt ihr mit mir nach Antium kommen? Dort besteigen wir ein Schiff und segeln nach Sizilien. Meine Güter, meine Häuser gehören euch. Höre mich an! In Sizilien treffen wir Aulus und Pomponia; ich werde dich zu ihnen zurückbringen, um dich wieder aus ihren Händen zu empfangen. Habe keine Furcht mehr vor mir, o carissima! Die Taufe hat mich zwar noch nicht gereinigt, aber du kannst Petrus fragen, ob ich ihm nicht jetzt eben auf dem Wege zu dir gesagt habe, ich möchte ein wahrer Anhänger Christi werden, und ob ich ihn nicht gebeten habe, mich zu taufen, sei es auch in der Hütte des Steinbrechers hier. Vertraue mir und vertraut mir alle.«

Freudestrahlenden Gesichts lauschte Lygia seinen Worten. Alle lebten sie hier in beständiger Unruhe und Sorge, früher aus Anlaß der Verfolgungen seitens der Juden, jetzt infolge des Brandes und der durch dieses Unglück verursachten Verwirrung. Eine Übersiedelung nach dem friedlichen Sizilien würde aller Unruhe ein Ende machen und eine neue Epoche des Glücks in ihrem Leben eröffnen. Hätte Vinicius nur Lygia mitnehmen wollen, so würde sie sicher der Versuchung widerstanden haben, da sie den Apostel Petrus und Linus nicht verlassen mochte; aber Vinicius hatte ja zu den beiden gesagt: »Kommt mit mir; meine Güter und Häuser gehören euch!«

Dann beugte sie sich auf seine Hand herab, um sie zum Zeichen ihres Gehorsams zu küssen, und sprach: »Dein Herd ist der meine.«

Verwirrt darüber, daß sie die Worte gebraucht hatte, die nach römischer Sitte die Braut erst bei der Vermählung aussprach, errötete sie und stand nun gesenkten Hauptes im Scheine des Feuers da, ungewiß, ob man sie ihr verübeln werde.

Aber in Vinicius' Zügen spiegelte sich nur unbegrenzte Verehrung wider. Er wandte sich sofort an Petrus und begann von neuem: »Rom ist auf Befehl des Cäsars in[108] Brand gesteckt worden. Schon in Antium klagte er, noch nie eine große Feuersbrunst gesehen zu haben. Wenn er aber vor einem solchen Verbrechen nicht zurückgeschreckt ist, so bedenkt, was da noch alles geschehen kann. Wer weiß, ob er nicht Truppen zusammenzieht und die Bürger niederhauen läßt? Wer weiß, was für Ächtungen bevorstehen, wer weiß, ob auf das Unglück des Brandes nicht das Unglück des Bürgerkrieges, Mordes und Hungers folgt? Verbergt euch darum und helft mir Lygia in Sicherheit bringen. Dort in Sizilien könnt ihr in Ruhe den Sturm abwarten; ist er vorüber, so könnt ihr ja hierher zurückkehren, um euer Samenkorn auszustreuen.«

Wie um Vinicius' Befürchtungen zu bestätigen, erscholl draußen vom Ager Vaticanus her fernes Wut- und Schreckensgeschrei. In demselben Augenblicke trat auch der Steinbrecher, dem die Hütte gehörte, ein, verschloß sorgfältig die Tür und sagte: »Beim Neronischen Zirkus herrscht Mord und Totschlag. Sklaven und Gladiatoren greifen die Bürger an.«

»Hört ihr?« fragte Vinicius.

»Das Maß ist übervoll,« erwiderte der Apostel, »Prüfungen werden hereinbrechen wie ein uferloses Meer.«

Dann wandte er sich an Vinicius und fuhr fort: »Nimm das Mädchen, das Gott dir beschieden hat, und rette sie. Auch Linus, der krank ist, und Ursus sollen mit euch gehen.«

Vinicius, der den Apostel mit der ganzen stürmischen Kraft seines jugendlichen Wesens lieben gelernt hatte, rief: »Ich schwöre dir, Meister, daß ich dich hier deinem Verderben nicht aussetzen werde.«

»Der Herr segne dich für deine Absicht,« erwiderte der Apostel; »hast du aber nicht gehört, daß Christus mir dreimal am See das Gebot wiederholte: Weide meine Lämmer?«

Vinicius schwieg.

»Wenn du, dem niemand die Sorge um mich anvertraut hat, sagst, du wollest mich nicht dem Verderben aussetzen, wie willst du dann, daß ich meine Herde am Tage der Prüfung[109] verlasse? Als der Sturm auf dem See raste und wir uns in unserem Herzen fürchteten, da hat er uns auch nicht verlassen; wie darf ich, der Diener, dem Beispiel meines Herrn ungehorsam werden?«

Jetzt erhob Linus sein abgezehrtes Antlitz und fragte: »Und warum soll ich, Statthalter des Herrn, deinem Beispiele nicht folgen dürfen?«

Vinicius strich sich mit der Hand über die Stirn, als kämpfe er mit sich und seinen Entschlüssen, dann faßte er Lygia bei der Hand und sprach mit einer Stimme, aus der die ganze Entschiedenheit eines römischen Kriegers herausklang: »Höret mich, Petrus, Linus und auch du, Lygia. Ich sprach, wie es mir mein menschlicher Verstand eingab, ihr jedoch habt einen davon verschiedenen, der nicht auf die eigene Gefahr, sondern auf die Gebote des Erlösers achtet. Ja! ich hatte das nicht begriffen und befand mich im Irrtum, denn noch ist die Binde nicht von meinen Augen genommen und die frühere Natur lebt in mir auf. Allein ich liebe Christus und will sein Diener werden, und obgleich es sich um ein Wesen, das mir teurer ist als mein eigenes Leben, handelt, kniee ich hier nieder und schwöre vor euch, das Gebot der Liebe erfüllen und meine Brüder am Tage der Prüfung nicht verlassen zu wollen.«

Bei den letzten Worten fiel er auf die Kniee, und plötzlich erfaßte ihn überirdische Begeisterung: er hob Augen und Hände zum Himmel und rief aus: »Verstehe ich dich jetzt, Christus? bin ich deiner würdig?«

Die Hände zitterten ihm, seine Augen standen voll Tränen, sein Körper erschütterte unter dem Schauer des Glaubens und der Liebe. Da ergriff Petrus ein irdenes Gefäß mit Wasser, trat zu ihm heran und sagte feierlich: »So taufe ich dich denn im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen!«

Religiöse Begeisterung erfüllte alle Anwesenden. Es war, als sei die Hütte von überirdischem Lichte erhellt, als vernähmen[110] sie eine überirdische Musik, als öffne sich die Felshöhlung über ihren Häuptern, als schwebten Engelsscharen vom Himmel hernieder, und als sähen sie hoch oben ein Kreuz und durchbohrte segnende Hände.

Draußen aber erscholl unterdessen das Geschrei kämpfender Menschen und das Geheul der Flammen in der brennenden Stadt.

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 2, S. 103-111.
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