Siebzehntes Kapitel.

[188] Es mußte Chilon wirklich daran liegen, Glaukos aus dem Wege zu räumen, da dieser, obgleich bejahrt, doch durchaus kein gebrechlicher Greis war. In dem, was Chilon Vinicius erzählt hatte, lag ein beträchtlicher Teil Wahrheit. Er hatte seinerzeit Glaukos gekannt, ihn verraten, an Räuber verkauft, ihm seine Familie und sein Vermögen geraubt und Mördern ausgeliefert. Aber die Erinnerung an diese Ereignisse bereitete ihm wenig Unruhe, denn er hatte ihn nicht in der Herberge, sondern auf freiem Felde bei Minturnae sterbend zurückgelassen und nur das eine nicht vorausgesehen, daß Glaukos von seinen Wunden genesen und nach Rom kommen könne. Als er im Bethause seiner ansichtig wurde, erschrak er wirklich und hätte im ersten Augenblicke am liebsten die Nachforschungen nach Lygia aufgegeben. Anderseits[188] aber fürchtete er sich noch viel mehr vor Vinicius. Er erkannte, daß er zwischen der Furcht vor Glaukos und der Rache eines mächtigen Patriziers, dem ohne Zweifel ein noch Mächtigerer, Petronius, zu Hilfe kommen werde, zu wählen habe. Angesichts dieser Alternative konnte Chilon nicht länger schwanken. Er hielt es für besser, ohnmächtige Feinde zu haben, als mächtige, und obgleich seine feige Natur sich einigermaßen vor blutigen Mitteln scheute, hielt er es doch für nötig, Glaukos durch fremde Hand aus dem Wege räumen zu lassen.

Es handelte sich jetzt nur noch um die Wahl der Leute, und auf diese gerade bezog sich der Vorschlag, den er Vinicius gemacht hatte. Bei seinem nächtlichen Umhertreiben in den Weinschenken und seinem Verkehr mit obdachlosen Leuten ohne Ehre und Gewissen wäre es ihm ein leichtes gewesen, darunter auch solche zu finden, die zu jeder Tat bereit waren, noch leichter freilich aber solche, die, wenn sie bei ihm Geld bemerkten, sich bereit erklären würden, den Mord zu begehen, dann aber nach Empfang des Geldes die ganze Summe von ihm mit der Drohung erpressen würden, ihn den Händen des Gerichts zu übergeben. Übrigens empfand Chilon bereits seit einiger Zeit Widerwillen gegen das zerlumpte, abstoßende und zugleich gefährliche Gesindel, das sich in den verdächtigen Häusern in der Subura oder jenseits des Tiber zusammendrängte. Da er alles nach sich beurteilte und weder die Christen noch ihre Religion genau genug kannte, so glaubte er auch unter ihnen willige Helfershelfer zu finden; da sie ihm auch zuverlässiger als andere zu sein schienen, so beschloß er, sich an sie zu wenden und die Angelegenheit auf eine Weise darzustellen, daß sie die Tat nicht nur der Belohnung willen, sondern auch aus Frömmigkeit unter nehmen würden.

Mit diesem Entschlusse begab er sich abends zu Euricius, von dem er wußte, daß er ihm aus ganzer Seele ergeben sei und daß er alles zu seiner Unterstützung tun werde. Da er[189] jedoch von Natur vorsichtig war, gedachte er keineswegs ihm in seine wahren Absichten einzuweihen, die ja in offenem Widerspruch zu dem Glauben des alten Mannes an seine Tugend und Gottesfürchtigkeit standen. Er brauchte Leute, die zu jeder Tat bereit waren, und wollte mit diesen über die Sache in einer Weise sprechen, daß sie in ihrem eigenen Interesse nie ein Wort darüber verlautbaren würden.

Der alte Euricius hatte sich nach dem Loskaufe seines Sohnes einen jener kleinen Kramläden gemietet, die sich in der Nähe des Circus Maximus befanden, und verkaufte darin den Zuschauern der Spiele Oliven, Bohnen, ungesäuertes Brot und Honigwasser. Chilon traf ihn zu Hause, wie er seinen Laden einrichtete, begrüßte ihn im Namen Christi und begann mit ihm von der Angelegenheit zu sprechen, wegen der er zu ihm gekommen war. Er erinnerte ihn an die Wohltat, die er ihm erwiesen hatte, und sagte, er müsse sich dafür dankbar zeigen. Er brauche zwei bis drei starke, unerschrockene Männer, um eine Gefahr abzuwehren, die nicht nur ihm, sondern sämtlichen Christen drohe. Er sei freilich arm, da er fast alles, was er besessen habe, Euricius gegeben habe; trotzdem würde er diese Leute für ihre Dienste bezahlen, vorausgesetzt, daß sie ihm vertrauten und seine Weisungen pünktlich befolgten.

Euricius und sein Sohn, Quartus, hörten ihm als ihrem Wohltäter beinahe andächtig zu. Beide versicherten, sie selbst seien bereit, alles zu tun, was er von ihnen verlange, da sie glaubten, ein so heiliger Mann könne ihnen nichts zumuten, was nicht mit der Lehre Christi übereinstimme.

Chilon versicherte sie, daß dem so sei, hob die Augen zum Himmel empor und schien zu beten; in der Tat überlegte er jedoch, ob er nicht gut täte, das Anerbieten anzunehmen, das ihm möglicherweise tausend Sesterzen ersparen konnte. Aber nach einiger Überlegung verwarf er es. Euricius war alt, vielleicht nicht so sehr durch das Alter gebeugt wie durch Kummer und Krankheit geschwächt, Quartus zählte[190] erst sechzehn Jahre, während Chilon gewandte und vor allem starke Männer brauchte. Was die tausend Sesterzen betraf, so hoffte er, dank dem Plane, auf den er verfallen war, auf jeden Fall einen beträchtlichen Teil für sich behalten zu können.

Sie bestanden jedoch eine Zeitlang auf ihrem Anerbieten, gaben aber nach, als er es bestimmt ablehnte.

»Ich kenne den Bäcker Demas, Herr, in dessen Mühlen Sklaven und Tagelöhner arbeiten. Einer von diesen letzteren ist so stark, daß er es nicht nur mit zwei, sondern sogar mit vier anderen aufnehmen könnte; ich selbst habe gesehen, wie er einen Stein aufhob, den vier Männer nicht von der Stelle bewegen konnten.«

»Wenn er ein gottesfürchtiger Mann ist und den Brüdern eine Wohltat erweisen will, dann mache mich mit ihm bekannt,« sagte Chilon.

»Er ist Christ, Herr,« entgegnete Quartus, »da bei Demas in der Mehrzahl Christen arbeiten. Es gibt dort Nacht- und Tagarbeiter; jener Mann ist für die Nacht gedungen. Wenn wir jetzt gehen, dürften wir sie beim Abendessen treffen, und du könntest dann ungehindert mit ihm sprechen. Demas wohnt am Emporium.«

Chilon willigte sofort ein. Das Emporium lag am Fuße des Aventinhügels, daher nicht allzuweit vom Circus Maximus entfernt. Man konnte, statt über den Hügel zu gehen, dem Laufe des Flusses folgen und hatte dabei noch einen bedeutend kürzeren Weg.

»Ich bin alt,« sagte Chilon, als sie unter der Kolonnade entlang schritten, »und mitunter leide ich an Gedächtnisschwäche. Ja! ich weiß wohl, daß unser Herr Christus durch einen seiner Jünger verraten worden ist, aber auf dessen Namen kann ich mich im Augenblicke nicht entsinnen.«

»Judas, Herr, der sich erhängt hat,« entgegnete Quartus, der sich in seinem Innern etwas wunderte, daß man diesen Namen vergessen konnte.

»Ja, richtig! Judas! Ich danke dir,« versetzte Chilon.[191]

Eine Zeitlang schritten sie schweigend weiter. Als sie zum Emporium kamen, das geschlossen war, gingen sie daran vorbei um die Speicher herum, in denen Getreide an die Bevölkerung verteilt wurde, und wandten sich dann nach links, den Gebäuden zu, welche die Via Ostiensis einschließen, bis zu dem Mons Testaceus und dem Forum Pistorium. Hier blieben sie vor einem hölzernen Schuppen stehen, aus dessen Innerem das Geklapper von Handmühlen drang. Quartus ging hinein, Chilon aber blieb draußen, da er es nicht liebte, sich vor einer größeren Menschenmenge zu zeigen, und in beständiger Furcht schwebte, der Zufall könne ihn mit dem Arzte Glaukos zusammenführen.

»Ich bin auf diesen Herkules gespannt, der in dieser Mühle arbeitet,« sprach er zu sich selber, indem er zu dem hellscheinenden Mond emporblickte. »Ist er ein geriebener Halunke, so wird er mich etwas kosten; ist er aber ein tugendhafter Christ und ein dummer Kerl dazu, so wird er alles umsonst tun, was ich von ihm verlange.«

In seinen weiteren Betrachtungen wurde er durch Quartus gestört, der in diesem Augenblicke mit einem anderen Manne heraustrat. Dieser war nur mit einer Tunika, Exomis genannt, bekleidet, die so getragen wurde, daß sie den rechten Arm und die rechte Brust unbedeckt ließ. Dieses Gewand, welches dem Körper völlig freie Bewegung gestattete, trugen namentlich die Arbeiter. Als Chilon den Ankömmling gewahr wurde, atmete er erleichtert auf, denn noch nie in seinem Leben hatte er solche Schultern und eine solche Brust gesehen.

»Dies ist der Bruder, Herr, den du zu sehen wünschtest,« sagte Quartus.

»Der Friede Christi sei mit dir,« erwiderte Chilon, »Quartus, sage du dem Bruder, ob ich Glauben und Vertrauen verdiene, und dann geh in Gottes Namen nach Hause, denn dein ergrauter Vater soll nicht länger allein bleiben.«[192]

»Dies ist ein heiliger Mann,« sagte Quartus, »der sein ganzes Vermögen hingab, um mich, den er gar nicht kannte, loszukaufen. Unser Herr und Heiland möge ihm dafür seinen Lohn im Himmel geben.«

Als der hünenmäßige Arbeiter dies hörte, beugte er sich herab und küßte Chilons Hand.

»Wie heißt du, Bruder?« fragte der Grieche.

»In der heiligen Taufe erhielt ich den Namen Urban, ehrwürdiger Vater.«

»Urban, mein Bruder, hast du Zeit, um mit mir ungestört zu sprechen?«

»Unsere Arbeit beginnt um Mitternacht, und jetzt wird erst unser Abendbrot zubereitet.«

»Dann haben wir Zeit genug. Laß uns zum Flusse gehen, dort wirst du hören, was ich dir zu sagen habe.«

Sie gingen hin und setzten sich auf die steinerne Ufereinfassung. Es herrschte tiefes Schweigen, das nur durch das entfernte Geräusch der Handmühlen und durch das Rauschen des Flusses unterbrochen wurde. Chilon betrachtete nun das Gesicht des Arbeiters, das ihm trotz des etwas ernsten und traurigen Ausdrucks, wie ihn gewöhnlich die Gesichter der in Rom lebenden Barbaren zeigten, dennoch gutmütig und ehrlich erschien.

»Recht so!« sagte er zu sich selbst. »Dies ist ein guter, einfältiger Mensch, der Glaukos umsonst totschlagen wird.«

Dann fragte er: »Urban, liebst du unseren Herrn Christus?«

»Ich liebe ihn aus tiefster Seele,« erwiderte der Arbeiter.

»Und deine Brüder, deine Schwestern, jene, die dich in der Wahrheit und im Glauben an Christus unterwiesen haben?«

»Auch sie liebe ich, Vater.«

»Dann sei Friede mit dir.«

»Auch mit dir, Vater.«[193]

Von neuem trat Schweigen ein – nur in der Ferne klapperten die Mühlen, und unten rauschte der Fluß.

Chilon blickte zu dem rein und klar am Himmel stehenden Monde empor und begann mit leiser, flüsternder Stimme von Christi Tod zu sprechen. Es war, als rede er nicht zu Urban, sondern rufe jenen Tod sich nur selbst ins Gedächtnis zurück oder vertraue dieses Geheimnis der schlummernden Stadt an. Es lag darin etwas Gewaltiges und dabei Rührendes. Der Arbeiter weinte, und als Chilon nun zu seufzen und zu beklagen begann, daß sich beim Tode des Erlösers niemand gefunden habe, der ihn, wenn auch nicht gegen die Kreuzigung, so doch wenigstens gegen die Schmähungen der Landsknechte und Juden verteidigt hätte, da begannen sich die riesigen Barbarenfäuste vor Schmerz und unterdrückter Wut zu ballen. Der Tod erschütterte ihn nur, aber bei dem Gedanken an jenen Pöbel, der das Lamm auf seinem Wege zur Kreuzigung verhöhnt hatte, empörte sich seine kindliche Seele, und wilde Rachgier ergriff ihn.

Chilon fragte nun plötzlich: »Urban, weißt du, wer Judas war?«

»Ich weiß, ich weiß! aber er hat sich erhängt!« rief der Arbeiter.

In seiner Stimme lag etwas wie Bedauern, daß der Verräter sich selbst sein Urteil gesprochen hatte und ihm daher nicht mehr in die Hände fallen konnte.

Chilon fuhr fort: »Wenn er sich nun aber nicht erhängt hätte und ihm einer der Christen zu Lande oder zu Wasser begegnete, müßte dieser dann nicht die Marter, das Blut, den Tod des Erlösers an ihm rächen?«

»Wer würde dies nicht tun, ehrwürdiger Vater!«

»Friede sei mit dir, du treuer Diener des Lammes. Ja! wir dürfen die Kränkungen, die uns selbst zugefügt werden, verzeihen; wer aber hat das Recht, die Kränkungen, die gegen Gott verübt werden, zu verzeihen? Wie die Schlange eine Schlange erzeugt, wie Sünde aus Sünde und Verrat aus[194] Verrat entsteht, so ist aus Judas' giftigem Samen ein anderer Verräter entsprossen, und wie jener den Heiland an die Juden und römischen Kriegsknechte verriet, so will dieser, der unter uns weilt, Christi Schafe den Wölfen überliefern, und wenn niemand dem Verrate vorbeugt, wenn niemand beizeiten der Schlange den Kopf zertritt, so droht uns allen der Untergang, und mit uns wird auch zugleich die Verehrung des Lammes ausgerottet.«

Der Arbeiter sah ihn mit furchtbarem Entsetzen an, als glaube er nicht recht zu hören; der Grieche aber verbarg seinen Kopf unter einem Zipfel seines Mantels und sprach mit einer wie aus den Tiefen der Erde herauftönenden Stimme: »Wehe euch, ihr Diener des wahren Gottes, wehe euch, ihr Christen und Christinnen!«

Wieder trat Schweigen ein; wieder hörte man nur das Klappern der Mühlen, den dumpfen Gesang der Mühlknechte und das Rauschen des Flusses.

»Vater,« fragte endlich der Arbeiter, »was ist das für ein Verräter?«

Chilon erhob sein Haupt. Was das für ein Verräter sei? Ein Sohn des Judas, ein Sohn seines giftigen Samens, der vorgebe, Christ zu sein, und in die Bethäuser gehe, nur um die Brüder beim Caesar zu verklagen, daß sie den Caesar nicht als Gott verehrten, daß sie die Brunnen vergifteten, Kinder schlachteten und die Stadt zerstören wollten, daß kein Stein auf dem anderen bleibe. In einigen Tagen würden die Prätorianer den Befehl erhalten, Greise, Frauen und Kinder einzukerkern und hinzurichten, genau so, wie sie die Sklaven des Pedanius Secundus zum Tode führten. Und all dies habe jener zweite Judas getan. Wenn aber niemand den ersten Judas bestraft, wenn niemand Rache an ihm genommen und Christus in der Stunde der Marter beschützt habe, wer werde diesen bestrafen, wer die Schlange zertreten, bevor der Caesar auf ihr Zischen gehört habe, wer werde ihn aus dem Wege räumen, wer werde die[195] Brüder und den Glauben an Christus vor dem Untergange retten?

Urban, der immer noch auf der steinernen Brustwehr saß, sprang plötzlich auf und rief: »Ich werde es tun, Vater.«

Chilon erhob sich ebenfalls, betrachtete einen Augenblick prüfend das vom Monde beschienene Gesicht des Arbeiters, dann erhob er seinen Arm und legte langsam seine Hand auf dessen Kopf.

»Geh unter die Christen,« sagte er feierlich; »geh in die Bethäuser und frage die Brüder nach dem Arzte Glaukos, und wenn sie dir ihn zeigen, dann töte ihn im Namen Christi! ...«

»So ... Glaukos?« wiederholte der Arbeiter, als wollte er sich den Namen ins Gedächtnis prägen.

»Kennst du ihn vielleicht?«

»Nein, ich kenne ihn nicht. Es gibt Tausende von Christen in ganz Rom, und sie kennen sich nicht alle untereinander. Aber morgen nacht versammeln sich alle Brüder und Schwestern im Ostrianum, weil ein großer Apostel Christi gekommen ist, um uns zu unterweisen, und dort werden mir die Brüder Glaukos zeigen.«

»Im Ostrianum?« fragte Chilon. »Das ist doch wohl außerhalb der Stadttore? Die Brüder und sämtliche Schwestern? nachts? außerhalb der Stadttore im Ostrianum?«

»Ja, Vater; dort ist unser Friedhof zwischen der Via Salaria und der Via Nomentana. Wußtest du denn nichts davon, daß uns der große Apostel dort unterweisen wird?«

»Ich war zwei Tage lang von Hause fort und habe daher seinen Brief nicht zu Gesicht bekommen. Ich weiß jedoch nicht, wo das Ostrianum liegt, da ich erst vor kurzem aus Korinth gekommen bin, wo ich die Christengemeinde leitete ... Aber es ist gut, und sobald Christus es dir eingibt, so geh in der Nacht nach dem Ostrianum, mein Sohn, dort wirst du mitten unter den Brüdern Glaukos treffen und ihn auf dem Rückwege nach der Stadt töten. Dafür werden dir alle[196] deine Sünden vergeben werden. Und nun: Friede sei mit dir ...«

»Vater ...«

»Ich höre, Diener des Lammes.«

Auf dem Gesicht des Arbeiters spiegelte sich Verlegenheit und Unschlüssigkeit. Kurz zuvor hatte er einen Menschen, vielleicht auch zwei getötet, und die Lehre Christi verbietet das Töten. Er hatte sie nicht zu seiner eigenen Verteidigung getötet, aber selbst dies wäre verboten gewesen. Auch aus Gewinnsucht hatte er es nicht getan, Christus bewahre ihn davor. Der Bischof selber hatte ihm Brüder zum Beistand gegeben, aber nicht erlaubt, jemand zu töten. Er hatte aber gegen seinen Willen getötet, denn Gott hat ihn mit zu großer Kraft ausgerüstet ... Und jetzt büßt er schwer dafür ... Andere singen während des Mahlens, aber er, der Unselige, denkt an seine Sünde, an die Kränkung, die er dem Lamme zugefügt hat ... Wieviel hat er schon gebetet und geweint! wieviel zum Lamme gefleht! Und doch fühlt er, daß er immer noch nicht genug gebüßt hat ... Und jetzt hatte er wieder versprochen, einen Verräter zu töten ... Gut! Es ist nur erlaubt, selbsterlittene Kränkungen zu verzeihen; darum wird er ihn töten, und wäre es auch vor den Augen sämtlicher Brüder und Schwestern, die im Ostrianum versammelt sind. Aber zuvor soll Glaukos von den Ältesten unter den Brüdern, von dem Bischof oder von dem Apostel verurteilt werden. Töten ist nicht schwierig, und einen Verräter töten ist so angenehm wie einen Wolf oder einen Bären erlegen. Aber wenn Glaukos unschuldig ums Leben käme? Wie kann er sich einen neuen Mord, eine neue Sünde und eine neue Beleidigung des Lammes auf sein Gewissen laden?

»Zu einer Untersuchung fehlt die Zeit, mein Sohn,« erwiderte Chilon; »denn der Verräter wird vom Ostrianum geradeswegs zum Caesar nach Antium gehen oder sich im Hause eines gewissen Patriziers, in dessen Diensten er sich befindet, verbergen. Aber ich will dir hier ein Zeichen geben.[197] Wenn du dieses, nachdem du Glaukos getötet hast, vorzeigst, so werden der Bischof und der große Apostel deine Tat segnen.«

Bei diesen Worten holte er eine Münze hervor und suchte dann im Gürtel nach einem Messer. Als er es gefunden hatte, kritzelte er in das Metall der Sesterze das Zeichen des Kreuzes und übergab sie dem Arbeiter.

»Hier ist das Urteil gegen Glaukos und das Zeichen für dich. Wenn du es nach Glaukos' Tode dem Bischof vorzeigst, so wird er dir diesen Totschlag vergeben, den du gegen deinen Willen verübt hast.«

Der Arbeiter streckte unwillkürlich seine Hand nach der Münze aus; da er aber den ersten Mord noch allzufrisch im Gedächtnis hatte, zog er sie wie im Gefühl des Schreckens plötzlich zurück.

»Ehrwürdiger Vater,« sagte er mit zitternder Stimme, »wirst du diese Tat auf dein Gewissen nehmen, und hast du selbst gehört, wie Glaukos die Brüder verriet?«

Chilon sah ein, daß er irgendwelche Beweise bringen, irgendwelche Namen nennen mußte, denn sonst hätten im Herzen des Riesen leicht Zweifel erwachen können. Plötzlich schoß ihm ein glücklicher Gedanke durch den Kopf.

»Höre, Urban,« sagte er; »ich wohne in Korinth, komme aber von Kos, und hier in Rom unterweise ich eine Sklavin aus meinem Lande, namens Eunike, in der Lehre Christi. Sie dient als Vestiplica im Hause eines Freundes des Caesars, eines gewissen Petronius. Dort, in jenem Hause habe ich gehört, wie Glaukos sich anheischig machte, alle Christen zu verraten, und außerdem einem anderen Ohrenbläser des Caesars, Vinicius, versprach, unter den Christen für ihn ein gewisses Mädchen zu suchen ...«

Hier brach er ab und blickte erstaunt auf den Arbeiter, dessen Augen auf einmal wie die eines wilden Tieres aufflammten, während das Gesicht den Ausdruck rasender Wut und Erbitterung annahm.

»Was ist dir?« fragte er beinahe erschreckt.[198]

»Nichts, mein Vater. Morgen töte ich Glaukos!«

Der Grieche schwieg; nach einiger Zeit ergriff er den Arm des Arbeiters und drehte ihn so, daß das Mondlicht voll auf sein Gesicht fiel, und begann ihn aufmerksam zu beobachten. Augenscheinlich schwankte er, ob er ihn weiter ausfragen und sich über alles Klarheit verschaffen oder sich für jetzt mit dem begnügen solle, was er erfahren hatte oder vermutete.

Endlich siegte die ihm angeborene Vorsicht. Er atmete ein paarmal tief auf und fragte dann, indem er von neuem seine Hand auf den Kopf des Arbeiters legte, in feierlichem, eindringlichem Tone: »In der heiligen Taufe gab man dir also den Namen Urban?«

»Jawohl, mein Vater.«

»Dann sei Friede mit dir, Urban.«

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 1, S. 188-199.
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