Abendgefühle

[82] In der Wehmuth süßem Schmerz

Wall' ich hier alleine,

Leise Ahnung hebt mein Herz,

In der Dämm'rung Scheine.

Wie die Nacht so traut und schön

Ueber Meereswogen,

Unter'm Nachtigallgetön,

Kommt daher geflogen!


Ernst und düster weih't sie mich

Ein zu stiller Trauer,

Meine Blicke wölken sich,

Und ein leiser Schauer

Weht mich an und preßt mein Herz,

Meine Schritte wanken:

Von der Erde himmelwärts

Fliehen die Gedanken.
[83]

Aber, ach! gebunden sind

Meines Geistes Schwingen,

Wie, gebeugt vom Abendwind,

Meine Nelken hingen:

So ist meines Geistes Blick

Matt und hingesunken;

Nur an künft'ger Welten Glück

Hängt er wonnetrunken.


Wenn kein Staub mich mehr umwallt,

Ueber Stern' und Sonnen,

In der Seel'gen Aufenthalt

Einst mein Tag begonnen,

Nimmt mich, wenn mein Lauf vollbracht,

Göttliches Erbarmen,

Nach durchweinter banger Nacht,

Auf mit Mutter-Armen!

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 82-84.
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