An meine Lina

[172] Dein gedenk' ich, wenn am jungen Tage

Rosenglanz die Silberwolken malt,

Wenn bei Filomelens spätem Schlage

Luna in mein ödes Zimmer stralt;

Dein gedenk' ich, wenn der holde Frühling

Mir zu neuen süßen Freuden winkt;

Dein gedenk' ich, wenn mein Geist entfesselt

Sich empor zum Thron' der Gottheit schwingt.


Dein gedenk' ich, wenn, im Hochgefühle

Einer schönen That, mein Busen glüht;

Dein gedenk' ich, wenn im Weltgewühle

Hie und da mir noch ein Blümchen blüht;

Dein gedenk' ich, wenn in heil'ger Stille

Holder Musen Nähe mich entzückt,

Mich in hohen dichterischen Träumen

Eine selbstgeschaffne Welt beglückt!
[173]

Dein gedenk' ich, wenn die laute Freude

Die Natur in ihre Arme nimmt;

Dein gedenk' ich, wenn im Schmuck der Freude

Der Olymp in blauen Fluthen schwimmt,

Wenn im Schauer ernster Mitternächte

Furcht und Zweifel wechselnd mich ergreift,

Und der Engel mit gesenkter Fackel

Die Fantome meines Geistes häuft.


Dein gedenk' ich, wenn in dunklen Tagen

Bange Schwermuth traurig mich beschleicht,

Und Dein Name tönt in meine Klagen,

Wenn durch Schmerz mein stilles Leiden steigt.

O dann heben Liebe und Verlangen,

Dich zu sehn, empor die bange Brust,

Träumend liegst Du dann an meinem Herzen

Im Entzücken lang' entbehrter Lust.

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 172-174.
Lizenz:
Kategorien: