Lied der Bettler

[14] Wir lagern auf dem harten, magren Boden,

Ein Wind zerrt eisig brüderliche Fetzen;

Tränen, die rastlos unsre Glieder netzen,

Flehen zu Gott, in Gnade uns zu roden.


Da sendet er uns Sterne an die Ränder

Der Nächte, hell in Höhen aufzusteigen,

Und reicht den rissigen Stirnen goldne Bänder:

Nun ahnen wir der blinden Seelen Geigen –


Der Gott ward Güte, der mit Blitzen geißelt;

Er schickte dann aus seinen dunklen Ecken

Den dunklen Menschen, den die Lichte recken,

Der uns den Engel in den Himmel meißelt.


11. Dezember 1911


– – –


In weiten Kreisen deine Flüge grabend:

Durch Finsternis, durch wirren Traum gigantisch,

Durch Qualenstriche, Höhlenraum gigantisch –

Ruhlos gen Morgen, ruhelos gen Abend ...


Drehen dich höher deine wilden Schreie

Aus Vaterfluch und allen Mutterschmerzen;

Bald zündet ewige Zeugung Sternekerzen –:

Und trotzig steigt Erlösung aus der Kleie ...


Dann rühren deine Schwingen jene Riegel,

In deren Kiefern sich manch Hirn zerklemmte;

Du liebst die Sehnsucht, die dich hierhin schwemmte,

Fängst sie und taumelst nieder in den Tiegel.


Wintersonnenwende XI


Quelle:
Reinhard Johannes Sorge: Werke in drei Bänden. Nürnberg 1964, S. 14.
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