[228] Die Sterbezelle des Heiligen zu Portiuncula. Die elf Brüder stehen um Sankt Franziskus, der auf der nackten Erde stirbt. Durch den niedrigen Eingang in der Rückwand der Zelle sieht man ins leuchtende Rot des Abends. – Eine Weile Stille.
DER BRUDER GINEPRO aufrufend.
Mein Vater!
DER BRUDER BERNHARD am Fußende.
Seht der letzte Seufzer hauchte
Ihm hin!
Sie sinken alle in die Knie.
DER BRUDER LEO.
O Vater, bist du hin! Mein Hirte,
Was soll ich Schäfchen ohne dich?
DER BRUDER GINEPRO.
Nicht weinen,
Leo, der gute Vater ist in Freuden!
DER BRUDER MASSEO.
O Vater, bitt für uns!
ALLE BRÜDER.
Bitte für uns!
DER BRUDER EGIDIO.
Bitte für uns den Vater in den Himmeln,
Der unser aller erster, einziger
Herz-Vater ist, oh, bitt Ihn, frommer Vater!
ALLE BRÜDER.
Vater Franziskus, bitte Ihn für uns!
DER BRUDER EGIDIO.
Seht, wie er ruht, wie eine Lilie schlicht
Gelegt!
DER BRUDER GINEPRO.
Wie eine schlichte Armut duftet!
DER BRUDER EGIDIO.
Duft spür auch ich, so wie im Frühling morgens
Frühe die Rosen duften, die der Tau netzt.
DER BRUDER LEO.
Der Tau des ewigen Lebens netzt den Vater –[229]
DER BRUDER MASSEO.
Und seine blinden Erde-Augen salbt er –
DER BRUDER BERNHARD.
Mit Fernsicht in die Gottheit salbt sie Gott.
DER BRUDER GINEPRO.
Drum laßt uns alle fröhlich sein wie Englein!
DER BRUDER ANTONIO.
Wie jetzt die Engel unablässig Rosen
Hinstreuen dem, der in seraphischer
Rose erglühend hold sich Christo gibt
In Liebeeinigung der Ewigkeit –,
So wollen wir in Psalmen und in Hymnen
Die ganze Nacht mit unablässigem Preise
Hinbringen, Lilien reichend aus dem Herzen
Im Sang dem Vater zu, der selig ist.
Das Abendglühen in der Pforte wird tiefer brennend.
DER BRUDER GINEPRO.
Ja! Ja! – Doch st! Bernhard, oh darf ich einmal
Zur Ehre Gott und Seinem heiligen
Bettler Franziskus, darf ich ganz klein wenig
Das Tuch der Seite öffnen und verehren,
Was Gott gezeichnet süß und tief und rot?
DER BRUDER BERNHARD.
Tu es, Ginepro!
DER BRUDER LEO.
Hört einmal die Lerchen!
DER BRUDER GINEPRO.
Oh, Dank, Bernhard!
DER BRUDER EGIDIO.
Horcht!
Sie knien alle lauschend, nur Ginepro lüftet entzückt die Seite des Vaters.
DER BRUDER LEO.
Wahrlich, lauf ich hin,
Das wundersam Gezwitscher ins Gesicht
Zu fassen –!
Er tritt in das Tor, schaut hinauf und breitet die Arme weit.
Oh! O seht! Schwärzliche Striche[230]
Lerchen streichen den Himmel hin von Nacht her,
Von Westen und von Osten und von Mittag;
In Kreuzesform sie ziehn –
DER BRUDER GINEPRO.
Du heilige Seite!
Pforte der Liebe, Rubinrot in Gott,
Vom Speer durchstochen; fünfmal stach die Flamme
Sengender Liebeslohe dich am Leib,
Fünf Wunden brachen auf, fünf Küsse schmolzen
In einer Woge roten Mitleids eins
Mit Christi Malen, als am Holz Er hing.
DER BRUDER LEO indes die andern mit betend erhobenen Angesichtern im zart roten Dämmer knien.
Der Himmel steht gekreuzt in Lerchenvögeln:
Die unvernünft'ge Kreatur gedenkt
Des Schöpfers, der für die Erneuerung
Auch ihres armen Leibes-Tier
Sprengte Sein Blut, erfüllend so im Opfer,
Was jene Tiere vorbedeutend taten,
Im alten Bund.
DIE KNIENDEN BRÜDER gen oben blickend.
O Wunder über Wunder!
Ganz Licht erwarb sich Sankt Franziskus sterbend.
Mit Last des heiligen Leidens sühnte er
Aufs neu die Schuld vor Gott in Seinem Christus.
Zwingend den Tod, zieht er die Lerchen alle
Zum Kreuzesflug in Paradiesesdemut.
Er zwang den Tod, mit seiner Male fünf
Bestrahlend diese ungeheure Weltnacht
Ins Morgenrote einer neuen Schöpfung.
Dort stirbt der Abend zwar, der Heilige sendet
Pfeile des Morgens in die Gottheit hin.
Die Gottheit wirkt durch ihn des Morgens Pfeile
Zu neuer Erde, Pfeile süßer Sehne,
Pfeile der Liebe, die das Weltall baut.
ALLE hymnisch.
Amen! Amen! Ora pro nobis, pater!
Ende[231]
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