[213] Vor der Scala Santa beim Lateran. Der Heilige kniet vor der untersten Stufe tief bis zum Boden und Bruder Leo hinter ihm bis zum Boden.
DER HEILIGE.
Dies also sind die Stufen, Bruder Leo!
Oh, vielfach benedeit! Mein Herz will brechen![213]
Hier schrittest Du, unschuldig auserkornes
Und gottgeweihtes Lamm,
Gebückt, zwischen zwei eisernen Römern, hin.
Und nun der Abstieg! Oh, du süße, himmels-
Wonnige Liebe! Striemen heiß bedeckten
Den Leib Dir, Deines Vaters Zornesküsse,
Mit welchen Er Dich herzte, nach der Schuld
Der stumpfen, bleiernen, schuldvoller Menschen.
Oh, süße Liebe, süße Liebe! Leis
Beträufelte der blutige Regen weißen
Marmor; und unsre Herzen, unsre Herzen
Bissen Dich wund, wie Mörder-Ungetüme!
Er schluchzt tief auf.
Und ich, der Bruder Franz, dies arme Wenig
Von Menschennot, ich immer noch Zuviel,
Darf Deinen süßen Schritten meine nachtun!
O sel'ge Gnade! Sel'ge Gnade! Nein,
Innig Geliebtester, ich bin nicht würdig!
Ach, nur dies Wissen, daß Dir wohlgefällig
Diese Verdemüt'gung,
Bestimmt mich auf die Stufen, auf die Stufen,
Die, sprachlos, noch vom Hall der Liebe zittern,
Die sie betrat, die immer Liebe schwingen
Hin in den Raum, noch überreich von damals;
Die immer Liebe klingen für das Lauschen
Der Engel. Sel'ge Gnade! Sel'ge Gnade!
O armer Wurm, bekniest die erste Stufe!
Er kniet tief auf der ersten Stufe, sie immerfort küssend – Stille.
DER BRUDER LEO rückt kniend ihm nach.
Ich tu dir nach, mein Vater, ich bin deine
Fußspur, ich armer Leo!
DER HEILIGE.
Küsse! Küsse!
Ach, gäben meine Lippen Flammen her!
Oh, kaltes Herz! Oh, kaltes Herz! Mein Heiland!
Du Bräutigam der Liebe, Liebe Du,
Von Schmach ganz überhäufter, atemlos
Aus Liebesübermaß, Du wankender Himmel![214]
Hinwankend unterm Schmerz, mit leeren Händen,
Du übervolle Hand, durch die das All
Rollend Bestand hat! Süßer, Lieber! Ach!
Er kniet auf der zweiten Stufe, Bruder Leo alsbald auf der ersten.
Ach, meine Zunge ist unwürdig –
Und möcht doch immer bilden, immer bilden
Den süßen Namen Jesu! Immerzu
Ein ganzes Leben lang und weit darüber
Nur immer Jesus lallen, Jesus, Jesus!
Du nie erhörtes Wort! Du Himmelssalbe!
Du Born, Du unsre Wiege, Menschen-Freund!
Du reinste Lust, Du Engelhüpfen, Du –
Oh, süßes Rinnen! Süßes Rinnen! Wie
Der Liebliche mir niederkommt, mich tränkt
Mit Milch der Gnaden! Weiße Milch der Himmel,
Einst tränkst Du mich für ewig, immerzu!
Da ist nur immer Tränken, da heißt Dasein
Tränken aus himmlisch süßer Milch. Und meine
Irdische Zunge darf dann Himmelfeuer
Zu Gottes Lobe spein. Darf Regenbogen
Verkünden über Ozean der Güte
Und ewiger Seligkeit. O heiß Geliebter!!
Er ruht sprachlos mit dem Kopf auf der Stufe.
DER BRUDER LEO.
Ach, Jesus!
Der Heilige kniet auf der dritten Stufe, Bruder Leo folgt nach.
DER HEILIGE.
O Leo! Hier ist Blut! Hier sind zwei Tropfen!
Ach Wunder! Wunder! Übermaß von Wunder!
Noch sind sie sichtbar, Edelsteine, schimmernd
Im Weißen. Heil'ge Treppe! Heil'ge Treppe!
Ich werde küssen, Blut des hoch Erwählten,
Dich, innig Unterpfand zukünftigen Lachens.
Mein Gott, mein Alles! Der Du alles mir
Gegeben: Hauch und Atem, reine Regung,
Gesicht und Hand, mich durch und durch beseelst,
O unschätzbares Gut: gott-einiges Leben![215]
Ich will Dich küssen und im Kuß umhauchen
Mich lassen von der angestammten Macht
Der Liebe, die Dich sehnend niederzog
Ins Weltenweh, o leidender Beseliger!
Denn diese Stufen durch Dein bitter banges
Weh, wurden sie die Leiter in den Himmel
Durch das geliebte Naß. O Heiland! Heiland!
Dein rot durchstochner
Herzschlag hält stark hier die gesamten Stufen,
Auf denen Dir jetzt ein Beleidiger,
Ein Herzdurchbohrender herzdurchbohrt nachfolgt!
O Gott, ich will hinzusteigen zu Deinem
Altar im Himmel, zum Altar des Lammes –
DER BRUDER LEO.
Zu Gott, der meine Jugend durchzückt –
Franziskus bückt sich im Kusse.
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