Erstes Capitel.

[1] Ein Jahr nach diesen Ereignissen stieg ein einsamer Wandersmann den abfallenden Rücken eines der Haidehügel empor, welche die gute Stadt Uselin nach der Landseite hin umschließen. Er ging langsam, wie Jemand, der von einem weiten Marsche ermattet ist, und seine Füße nur noch mühsam durch jenen grobkörnigen Sand schleppt, mit welchem das Meer seine Schwelle zu bestreuen liebt.

Aber der Wandersmann war gar nicht ermüdet; er hatte während des ganzen Tages nur wenige Meilen zurückgelegt, und für ihn wäre auch wohl eine doppelt so große Anstrengung Kinderspiel gewesen. Das Bündel, das er an einem Stocke auf der Schulter trug, konnte ihn auch nicht drücken, denn es war winzig klein, und doch schritt er langsam und langsamer, je näher er den drei Tannen kam, welche den Rücken des Hügels krönten; ja, er blieb wiederholt stehen und legte die Hand auf das Herz, als ob ihm der Athem fehlte zu den paar Schritten, die noch übrig waren.

Und jetzt stand er oben unter den Tannen; der Stock sammt dem Bündel entglitt seinen Händen; er breitete die Arme weit aus nach dem Städtchen, das von dem Strande des Meeres, mit dem Meere, zu ihm heraufschimmerte. Dann warf er sich – der große starke Mann – unter die Tannen in das Haidekraut und schluchzte und weinte wie ein Kind, und dann richtete er sich, kopfschüttelnd, halb auf, stützte den Ellenbogen auf den Boden, und so blieb er eine lange Zeit, immerfort schauend nach dem Hafenstädtchen zu seinen Füßen, auf dessen spitzen Giebeln und steilen Dächern die Abendsonne röthlich lag.

Was für Gedanken mochten dem Einsamen da oben durch den Kopf gehen? Was für Empfindungen seine sich unruhig hebende und senkende Brust erfüllen?[1]

So mancher Poet, der seinen Helden leichtsinnig in eine ähnliche Situation gebracht hat, mag die Beantwortung dieser Fragen nicht ganz unbedenklich finden; für mich hat sie keine Schwierigkeit, denn glücklicherweise bin ich selbst der Wanderer dort in dem Haidekraut unter den Tannen, und seitdem ich da lag, sind noch nicht so viel Jahre verflossen, daß der Ort und die Stunde und was sie brachten, meinem Gedächtnisse entfallen sein könnten.

Was sie brachten?

Einen Schwarm von Erinnerungen aus den Jahren, als der Mann noch ein wilder Knabe war, und Alles, was er hier vor sich liegen sah, der Tummelplatz seiner Spiele: die Stadt von dem tiefsten Grunde der halbverschütteten Wallgräben bis in die Thurmknöpfe hinauf; die Gärten, Felder, Wiesen und Haiden, die sie umgaben, bis hier zu den Hügeln; dort der Hafen mit seinen Schiffen und das schimmernde Meer, auf welches er im gebrechlichen Kahn hinauszurudern liebte, während die Thürme der Stadt, wie jetzt, der rothe Abendschein umspielte.

Hierhin und dorthin schweiften meine Blicke, und hier und dort und überall trafen sie auf Punkte, die wie alte Bekannte zu mir herübergrüßten. Aber sie blieben auf keinem Punkte lange haften, wie wenn man in einem bekannten Buche nach einer besonderen Stelle blättert, und Blatt um Blatt durch die Finger gleitet und jede Zeile, auf die das Auge trifft, uns bekannt ist und doch immer die Stelle nicht kommen will, nach der wir suchen. –

Freilich, es war ja so nieder und klein das alte einstöckige Haus mit dem schmalen Giebel in der engen Hafengasse, und die Hafengasse lag tief, verdeckt von den größeren Häusern der mittleren Stadt – wie konnte ich das kleine Haus mit dem schmalen Giebel von dieser Stelle aus sehen wollen!

Und doch! weshalb hatte ich den Weg gemacht, die vier Meilen hierher aus dem Gefängniß – den ersten Weg des wieder freien Mannes – als, um das Haus zu sehen, und wenn es das Glück wollte, durch eine Ritze in dem Fensterladen vielleicht, den, der es bewohnte! Denn vor ihn hinzutreten, ihm Aug' in's Auge zu schauen, ihm die Arme um den Nacken zu schlingen, wie mein Herz mich hieß – das wagte ich nicht zu hoffen, durfte ich nach dem, was geschehen, nicht zu hoffen wagen. Hatte doch in den kurzen Briefen,[2] mit denen er meine Briefe beantwortete, während der langen sieben Gefängnißjahre nie ein Wort der Liebe, des Trostes, der Verzeihung gestanden! Ja, mein letzter Brief vor acht Tagen, in welchem ich ihm zu seinem siebenundsechzigsten Geburtstage im Voraus Glück wünschte, und daß dieser Tag der Tag meiner Befreiung sein werde, und ob ich wagen dürfe, an diesem Tage – ein anderer und hoffentlich besserer Mensch – vor ihn zu treten – dieser Brief, den ich, nassen Auges, mit zitternder Hand geschrieben, er war nicht beantwortet worden.

Von den hohen Dächern und spitzen Giebeln, von den flatternden Wimpeln der Schiffe im Außenhafen, von den beiden Kirchthürmen endlich war der rothe Abendschein geschwunden; leichter Nebel stieg aus den Wiesen und Feldern, die sich von den Haidehügeln zur Stadt zogen. Auf der mit schlanken jungen Pappeln besetzten Chaussee fuhr die Post vorüber; ich verfolgte den langsam dahin rollenden Wagen von Baum zu Baum, bis er hinter den ersten Häusern der Vorstadt verschwand. Hier und da auf den schmalen Fußpfaden zwischen den Feldern bewegten sich die Gestalten von Arbeitern nach der Stadt zu, und auch sie verschwanden. Tiefer sank der Abend herein, dichter wurden die Nebel auf den Gründen; nichts Leben des war noch zu erblicken, nur ein paar Hasen, die auf einem Stoppelfeld Männlein machten, und ein ungeheurer Schwarm von Krähen, der aus dem benachbarten Tannenwalde, wo ich sonst mit meinen Kameraden »Räuber und Gensd'arm« gespielt, krächzend im schwärzlichen Gewimmel, dunkel sich abhebend von dem lichteren Abendhimmel, nach den alten Kirchthürmen zog.

Jetzt war die Stunde gekommen.

Ich richtete mich auf, hing das Bündel wieder über den Stock und ging langsam den Hügel hinab durch die nebeligen Felder den Weg zur Stadt. Auf einer abgelegenen Stelle der Anlagen machte ich noch einmal Halt – es war mir noch nicht dunkel genug. Ich fürchtete mich vor Niemand und brauchte mich vor Niemand zu fürchten. Selbst vor meinem großen Feinde, dem Justizrath Heckepfennig, wenn ich ihm begegnet wäre, ja vor den unnahbaren Männern Luz und Bolljahn, den Stadtdienern, hätte ich nicht die Augen niedergeschlagen oder mich auf die Seite gedrückt, und dennoch – es war mir noch nicht dunkel genug.[3]

Und nun rauschte es lauter in der halbentblätterten Krone des Ahorn, an dessen Stamm ich lehnte, und aufblickend, sah ich einen Stern durch die Zweige schimmern – nun mochte es sein.

Wie dumpf meine Schritte in den leeren Gassen hallten! und wie dumpf mir das Herz schlug in der gepreßten Brust! Als ich durch die Rathhaushalle ging, stand Vater Rüterbusch, der Nachtwächter, – noch im bloßen Kopf und ohne sein Wehr und Waffen – vor dem Wachlokal und schaute nachdenklich auf den leeren Tisch und die ausgeschnittene Tonne von Mutter Möller's Kuchenstand, während über uns die Glocke auf dem Thurm der Nikolaikirche acht schlug. War Mutter Möller gestorben, daß Vater Rüterbusch so nachdenklich auf die leere Tonne blickte, und nicht einmal ein Auge hatte für seinen alten Bekannten aus der Custodie?

Gestorben? Warum hätte sie nicht sterben können? es war eine alte Frau gewesen, als ich sie zuletzt gesehen, just so alt wie mein Vater – sie hatte es mir einst selbst gesagt, als ich mein Taschengeld bei ihr vernaschte. So alt wie mein Vater! – Ein rauher Wind strich durch die Halle: mich schauderte vom Kopf bis zu den Füßen, und mit eiligem Schritt, der beinahe zum Laufen wurde, hastete ich über den kleinen Marktplatz die abschüssigen Straßen hinunter nach dem Hafen.

Da war die Hafengasse und da war das Haus! Gott sei Dank! Es schimmert Licht durch die Läden der beiden Fenster linker Hand. Gott sei Dank!

Und jetzt wollte ich, jetzt mußte ich thun, was ich damals gemußt und auch gewollt, und doch nicht gethan; hineingehen zu ihm und zu ihm sprechen: vergieb mir!

Ich faßte den Messinggriff der Thür – wieder lag er wie Eis so kalt in meiner heißen Hand. Die Glocke an der Thür that einen schrillen Ruf und bei dem Ruf erschien auf der Schwelle des Zimmerchens zur rechten Hand, just wie an jenem verhängnißvollen Abend, das treue Riekchen. Nein, nicht just wie an jenem Abend. Ihre kleine, altergekrümmte Gestalt war in ein schwarzes Gewand gekleidet und ein schwarzes Band war an der schneeweißen Haube, deren breite Frisur strahlenförmig das runzlige Gesicht umgab. Und aus dem runzligen Gesicht flirrten die rothen, verweinten Augen nach dem Ankömmling.[4]

»Rieke,« sagte ich – es war Alles, was ich hervorbringen konnte!

»Georg, guter Gott!« schrie die Alte, mit hocherhobenen Händen auf mich zuwankend, »Georg!«

Sie hatte meine beiden Hände ergriffen und starrte schluchzend, während ihr die Thränen stromweise über die gefurchten Wangen rollten, mit bebenden Lippen, sprachlos zu mir auf. Sie brauchte nicht zu sprechen; ich fragte nicht, was geschehen sei; ich fragte nur: »wann?«

»Heute sind es acht Tage,« schluchzte die Alte, »nicht einmal seinen Geburtstag hat er noch erleben dürfen.«

»Woran ist er gestorben?«

»Ich weiß es nicht, und keiner weiß es; Doctor Balthasar sagt ja, er könne es nicht begreifen; er ist nicht wieder gesund gewesen, seitdem Du fort warst, und es ist schlechter geworden und immer schlechter, obgleich er es nie zugeben wollte. Heute vor vierzehn Tagen hat er sich gelegt und hat immer so still vor sich hingeblickt und nur manchmal in seinem Hausbuch geschrieben, noch am Abend vorher, und als ich am Morgen kam, ist er todt gewesen und das Buch hat auf seiner Bettdecke gelegen. Ich habe es an mich genommen, und es auch Niemand gezeigt, als sie kamen und Alles versiegelten; ich meinte immer, ich müsse es für Dich aufheben, er hat manchmal Deinen Namen so vor sich hingesagt, wahrend er schrieb; was er geschrieben weiß ich nicht, ich kann ja nicht lesen. Ich will es Dir holen.«

Sie öffnete dienstwillig die Thür nach des Vaters Stube. Es war sauber dort, wie immer, peinlich sauber, aber noch unwohnlicher, – die weißen Streifen über den Schlüssellöchern des Secretairs und des alten braunen Spindes in der Ecke blickten mich geisterhaft an.

»Weshalb brennt die Lampe auf dem Tisch?« fragte ich.

»Sie wollen ja heute Abend kommen.«

»Wer will kommen?«

»Sarah und ihr Mann und die Kinder, glaube ich. Weißt Du es denn nicht?«

»Ich weiß von Nichts, von Nichts! Und da liegt ja auch mein letzter Brief – unerbrochen! nicht einmal den hat er noch gelesen!«

Ich ließ mich in dem Stuhl nieder, der vor dem Schreibtische stand. Ich hatte nie in diesem Stuhl gesessen, kaum[5] ihn zu berühren gewagt – eines Königs Thron würde mir minder ehrwürdig erschienen sein. Das fuhr mir jetzt durch den Kopf und viele, viele andere schmerzliche Gedanken, und mein Kopf sank in die Hände; ich hätte gern geweint, aber weinen konnte ich nicht.

Da stand die Alte neben mir mit dem Buch, von dem sie gesprochen. Ich kannte es wohl; es war ein dickes Buch in Quart, mit Ledereinband und Haken zum Schließen, und ich hatte es oft in des Vaters Händen gesehen, des Abends, nachdem er seine Arbeit gethan; aber nie hatte ich gewagt, einen Blick hineinzuwerfen, selbst wenn ich es einmal gekonnt hätte, was freilich nicht oft der Fall gewesen war, denn der Vater pflegte es sorgfältig zu verwahren. Jetzt lag es geöffnet vor mir; eines nach dem andern wandte ich die Blätter des groben, rauhen Papiers um, deren Seiten mit der überaus sauberen, pedantisch gradlinigen, mir so wohlbekannten Hand meines Vaters bedeckt waren. Die Hand hatte sich nicht verändert, trotzdem die Aufzeichnungen über vierzig Jahre reichten und die Tinte auf den ersten Seiten bereits vollständig vergilbt war. Nur auf den letzten schien diese rüstige Kraft gebrochen: die Schriftzüge wurden immer eckiger, machtloser; es waren nur noch traurige Ruinen von dem, was sie einst gewesen; das letzte Wort kaum noch lesbar. Es war mein Name.

Und wie häufig auf den Blättern, die den letzten sieben und zwanzig Jahren gehörten, war mein Name!

»Heute ist mir ein Sohn geboren – ein derber Junge, die Hebamme sagt, so derb hat sie ihr Lebtag keinen gesehen, der sei ja wie der heilige Georg. Und so soll er auch Georg heißen und soll eine Freude werden meines Lebens und eine Stütze meiner alten Tage. Das walte Gott!«

»Georg schlägt gut ein,« stand auf einer andern Seite; »er ist schon größer als des Herrn Steuerraths Arthur, der doch auch nicht klein ist, und scheint einen guten Kopf zu haben: er hat mit seinen drei Jahren Einfälle, daß es zum Verwundern ist. Er wird wohl bald in die Schule müssen.«

Und wieder auf einer andern: »Küster Volland ist voll Lobes über meinen Georg; mit dem Lernen könnte es vielleicht besser sein; aber das Herz, sagt der alte Herr, sitzt dem Jungen auf dem rechten Fleck; das wird einmal ein braver[6] Mann werden; ich werde es nicht erleben, aber Sie werden es, und dann denken Sie daran, daß ich es Ihnen gesagt habe.«

So ging es noch über manche Seite; »Georg! – mein Prachtjunge! – der Hauptkerl, der Georg!«

Dann kamen andere Zeiten; Georg war nicht mehr sein drittes Wort, und Georg war nicht mehr sein Prachtjunge und sein Hauptkerl. Georg wollte nicht gut thun, nicht in der Schule und nicht im Hause und nicht auf der Straße und nirgendwo. Georg war ein Taugenichts! Nein, nein, das wäre zu viel, er hätte nur besser sein können, sein müssen; und er würde sich gewiß noch bessern, ganz gewiß!

Und dann kamen viele Seiten, und Georgs Name war nicht mehr darauf. So manches Familienereigniß war notirt, der Tod der Mutter, die Schreckensnachricht von dem Tod des Bruders, und daß die Tochter Sarah wiederum – zum dritten – zum vierten Male – ihm einen Enkel, eine Enkelin geboren habe, und daß er zum Rendanten befördert und Zulage und hin und wieder eine Gratification erhalten; – aber Georgs Name war und blieb verschwunden.

Blieb verschwunden, selbst auf den letzten Blättern, die sich wieder mit »ihm« beschäftigten: daß »er« im Gefängniß von Allen so wohl gelitten sei, und daß der Herr Director von Zehren wieder angefragt habe, ob »er« noch immer nicht der Verzeihung des Vaters würdig scheine?

»Ich habe versucht, ihm heute zu schreiben, wie mir's um's Herz ist; aber ich kann mich nicht über winden; ich will es ihm sagen, wenn er zurückkommt und ihm an meiner Liebe, an eines alten, gebrochenen Mannes Liebe noch etwas liegt; aber schreiben kann ich es nicht.«

Und auf der letzten Seite stand: »Es ist nicht wahr; es ist gewiß nicht wahr! Sechs und ein halbes Jahr soll er sich gut, soll er sich musterhaft gehalten haben und in der zweiten Hälfte des siebenten soll er auf einmal nichts mehr taugen!«

»Ich höre nicht viel Gutes von dem neuen Director! der Verstorbene – das war ein edler Herr und er war immer voll des Lobes über ihn; nein, nein, was man auch von ihm denken mag! schlecht ist mein Junge nicht, nicht schlecht.«[7] Und ganz zuletzt: »In acht Tagen ist er frei; er wird mich auf dem Krankenbette finden, wenn er mich noch findet. Um seinetwillen wünsche ich es; es würde ihm doch am Ende schmerzlich sein, fände er mich nicht mehr. Ich habe alle diese Jahre gedacht, er habe mich nicht lieb, der Junge, weil er mich sonst nicht so gekränkt haben würde; aber eben träumte ich, daß er hier war, und ich ihn in meinen Armen hielt. Ich sagte zu ihm: ›Georg –‹«

Ich starrte mit brennenden Augen auf das nun leere Blatt, als müßten Worte hervorkommen, die mein Vater im Traum zu mir gesagt; aber die Worte kamen nicht, so eifrig ich starrte, und endlich sah ich nichts mehr vor der Thränenfluth, die aus meinen Augen brach.

»Du mußt nicht so weinen, Georg,« sagte die gute Alte; »ich weiß es, daß er Dich doch lieber gehabt hat, als die Andern, viel, viel lieber! Und wenn er auch vor Gram und Herzeleid über Dich gestorben ist, – er war ja ein alter Mann, und da ist ihm wohl, viel wohler als hier, obgleich der liebe Gott weiß, daß ich keinen andern Gedanken gehabt habe, diese zwanzig Jahr, als es ihm recht zu machen.«

»Ich weiß es, ich weiß es auch und danke Dir tausend-, tausendmal!« rief ich, ihre welken, braunen Hände ergreifend, »Und nun sag', was hast Du vor? was kann ich für Dich thun?«

Sie sah mich an und schüttelte den Kopf; es mochte ihr sonderbar vorkommen, daß der Georg aus dem Gefängnisse etwas für sie thun wollte.

Ich wiederholte meine Frage.

»Ach, Du armer Junge,« sagte sie, »Du wirst Deine liebe Noth haben, Dich selber durchzubringen, denn viel ist es gewiß nicht, was er hinterlassen hat; er war zu gut, er mußte ja überall helfen, und mich hat er in das Beguinen-Stift eingekauft für die paar Jahre, die ich vielleicht noch zu leben habe. Das geht nun auch ab, und Sarah hat schon sehr darüber gescholten; sie haben gedacht, sie würden Alles bekommen, aber es soll ganz gleich zwischen Euch getheilt werden, das habe ich aus seinem eigenen Munde, und ich kann es beschwören und werde es beschwören, wenn sie Dir es abstreiten sollten, weil er ja kein Testament hinterlassen hat.«

In diesem Augenblicke wurde stark an der Hausthür geschellt.[8]

»Ach, Du guter Gott,« rief die Alte, die Hände zusammenschlagend, »da sind sie schon.

Sie trippelte aus dem Zimmer, dessen Thür offen blieb. Ich dachte daran, wie ich meine Schwester nie geliebt, in welcher Feindseligkeit ich mich vor Jahren von ihr getrennt und wie ich in der Zwischenzeit keineswegs gelernt hatte, sie zu lieben – aber was sollte das Alles jetzt? Jetzt, wo sie und ich den Vater verloren hatten, wo sie und ich über das Grab des Vaters hinweg uns die Hände reichen mußten.

Ich trat auf den kleinen Flur, der von den Angekommenen beinahe ausgefüllt war: eine große, hagere, blasse Frau in schwarz und ein kleiner, runder, rother Mann in der Steuerofficianten-Uniform, und so viel ich in der Eile sehen konnte, ein halbes Dutzend Kinder von zwölf oder zehn Jahren bis herab zu einem Säugling, welchen die große, hagere Frau in dem Momente, als ich auf der Schwelle erschien, fest an sich drückte, indem sie mich dabei mit ihren großen, kalten Augen mehr feindselig als erschrocken anblickte. Der kleine, dicke Mann in Uniform trat, Verlegenheit auf dem runden Gesicht, zwischen mich und die Gruppe der Mutter mit den Kindern, und sagte, die plumpen Hände ängstlich übereinander reibend: Wir haben Sie hier nicht erwartet, ehem! – Herr Schwager! – ehem! – aber es ist ja sehr schön, daß Sie hier sind! ehem! Wir gehen wohl derweile in des seligen Vaters Stube, da können wir ja Alles in Ruhe besprechen. Nicht wahr, liebe Frau?«

Der kleine Mann drehte sich auf den Hacken nach seiner lieben Frau um, welche statt aller Antwort, ihre Kinder vor sich herschiebend, in das Zimmerchen der alten Magd drängte. Er drehte sich wieder auf den Hacken um, rieb sich noch verlegener als zuvor die Hände und sagte noch einmal: »ehem!«

Wir traten in das Zimmer; ich setzte mich in des Vaters Arbeitsstuhl, mein Schwager war in seinem Gemüth zu verstört, um sitzen zu können. Er ging mit kurzen, schnellen Schritten in dem Gemach auf und ab, und blieb, so oft er an die Thür kam, einen Augenblick stehen, mit seitwärts gebeugtem Kopf lauschend, ob seine liebe Frau drüben ihn etwa gerufen habe, und sagte dann, um die Pause schicklich auszufüllen: »ehem!«

Es war eine lange Auseinandersetzung, die mir der kleine[9] Mann während dieser seiner rastlosen Wanderung von der Thür nach dem Ofen und wieder vom Ofen nach der Thür zum Besten gab, und was er sagte, war so plump und ungeschickt, wie er selbst. Es schien, daß er und seine liebe Frau sich halb und halb Hoffnung gemacht hatten, ich würde nie wieder aus dem Gefängnisse herauskommen, besonders, nachdem mir über meine Zeit hinaus ein halbes Jahr Disciplinarstrafe zudictirt war. Er freute sich ja sehr, daß seine und seiner lieben Frau Befürchtungen sich nun doch nicht verwirklicht, aber das müsse ich zugeben, daß es ein hartes Ding für einen königlichen Beamten sei, einen Schwager zu haben, der im Zuchthause gesessen. Ob ich glaube, daß ein Beamter mit einer solchen Verwandtschaft Carriere machen könne? Es sei ganz schrecklich, so zu sagen, unverantwortlich; und wenn er das hätte voraussehen –

Der kleine Mann warf einen scheuen Blick auf mich. Ich saß so still da und blickte ihn so starr an, und war ein Riese im Vergleich zu ihm, und kam eben aus dem Gefängniß! Es war am Ende doch nicht gerathen, in diesem Tone mit mir zu sprechen, und nun kam eine lange Litanei von dem traurigen Leben, das ein kleiner Beamter mit einer starken Familie an der polnischen Grenze führe. Freilich habe er sich jetzt auf den Wunsch seiner lieben Frau, die ihren alten Vater pflegen wollte, hierher versetzen lassen; aber nun habe der alte Herr, der sich ihrer gewiß recht angenommen hätte, sterben müssen, und hier sei das Leben so viel theurer, und dann die Reise mit den vielen Kindern, und der Kleine sei erst sechzehn Wochen alt, und wenn sie auch nun die Erbschaft gemacht, so sei Zwei ein starker Divisor, wenn der Dividendus nicht groß sei und –

Ich hatte genug, mehr als genug gehört.

»Kennen Sie vielleicht von früher her dieses Buch?« sagte ich, die Hand auf den Deckel von des Vaters Tagebuch legend.

»Nein,« erwiederte der kleine Mann.

»Lassen Sie mir das Buch; ich will weiter nichts von des Vaters Erbschaft. Es ist des Vaters Tagebuch, das für Sie kein Interesse hat. Wollen Sie?«

»Ja wohl; das heißt! ehem! ich weiß nicht, ob meine liebe Frau – man müßte doch erst einmal sehen –« erwiederte mein Schwager, sich verlegen die Hände reibend[10] und mit den kleinen verschwollenen Aeuglein nach dem Buch schielend.

»So sehen Sie!« sagte ich.

Ich begann jetzt meinestheils die Wanderung durch das Zimmer, während der Mann seiner lieben Frau sich an den Tisch setzte, das verdächtige Buch einer genaueren Inspection zu unterwerfen.

Es schien, als ob er demselben auf dem gewöhnlichen Wege der Lectüre kein besonderes Interesse abgewinnen könne; er versuchte es deshalb auf eine andere Weise, indem er es oben an den beiden Deckeln ergriff und die herunterhängenden Blätter eine halbe Minute lang energisch durcheinanderschüttelte. Da auch diese Methode zu keinem Resultat führte, gab er die Sache als hoffnungslos auf, legte das Buch wieder hin, erhob sich, rieb sich die Hände und sagte: »Ehem! – ja, gewiß – freilich – so zu sagen – versteht sich – das heißt, wir müßten die Sache doch schriftlich machen – ein paar Zeilen nur – um vorläufig einen Anhalt zu haben – man könnte es ja später notariell –«

»Was Sie wollen, wie Sie wollen« – sagte ich. »Hier!«

Der kleine Mann blickte in das Papier und blickte auf mich, während ich das Buch in mein Bündel schnürte und Bündel und Stock in die Hand nahm. Er wußte entweder nicht, was er aus mir machen sollte, oder er hielt mich auch – was nach dem Ausdruck seines Gesichts wahrscheinlicher war – einfach für verrückt; auf jeden Fall war er ausnehmend froh, mich los zu werden.

»Schon fort!« sagte er, »wollen Sie nicht meiner lieben Frau –«

Es verlangte mich nicht mehr, seine liebe Frau zu sehen; ich murmelte etwas, das als Entschuldigung gelten mochte, ging zum Zimmer hinaus, drückte auf dem Flur im Vorübergehen der alten Rieke die Hand und stand auf der Gasse.

Ich habe nur eine dunkle Erinnerung von der folgenden Stunde. Es ist kein Traum, aber es ist mir wie ein Traum, daß ich in dieser Stunde auf dem Kirchhof draußen in der Mühlenvorstadt gewesen bin und den alten Todtengräber herausgeklopft habe, der sich eben zu Bett legen wollte; und daß ich an einem frischen Grabe gekniet und dem alten Mann,[11] der mit der Laterne abseits stand, hernach Geld gegeben und ihn gebeten habe, morgen in aller Frühe den Hügel mit Rasen zuzudecken; – daß ich dann wieder zurückgegangen und vor dem Thore an der Villa des Commerzienraths vorüber gekommen bin, wo alle Fenster erleuchtet waren und an den erleuchteten Fenstern tanzende Paare vorüberhuschten nach einer Musik, die ich nicht hörte; – und daß ich mich fragte, ob die kleine Hermine auch wohl da oben tanze, und mir dann einfiel, daß das hübsche Kind jetzt siebenzehn Jahr alt sein müsse, wenn sie nicht auch bereits gestorben sei.

Mir wurde unsäglich traurig zu Muth; es war mir, als wäre die ganze Welt ausgestorben und ich sei der einzige Lebende, und die Schatten der Todten tanzten um mich her, nach einer Musik, die ich nicht hörte.

So wankte ich in die Stadt zurück, die menschenleeren, todtstillen Gassen entlang dem Hafen zu, mechanisch denselben Weg einschlagend, der mir von Jugend auf der liebste gewesen war.

Der Seewind wehte mir entgegen – er that meiner brennenden Stirn so wohl! Ich sog mit vollen Zügen die kräftige Luft in meine gepreßte Brust. Nein, nein, die Welt war nicht ausgestorben, ich war nicht der einzige Lebende, und es gab auch noch eine Musik, eine köstliche Musik, mir köstlicher als jede andere: die Musik des Windes, der durch die Raaen und durch das Tauwerk pfiff, und der Wellen, die gegen den Hafendamm und um den Bug der Schiffe plätscherten! Nein, nein, sie war nicht ausgestorben; es gab noch Menschen, die mich liebten, die ich aus ganzer Seeele wiederlieben durfte!

Auf der Landungsbrücke, wo das Dampfschiff nach St. anzulegen pflegte und auch gerade jetzt wieder lag, stand eine dichte Gruppe von Menschen. Mir fiel ein, daß ich meine Fahrt nach der Hauptstadt am zweckmäßigsten auf dem Dampfer hier beginnen könnte.

Als ich, dies bei mir überlegend, vor der Brücke stand, wurde eben ein Korb, wie er zum Transport von schwer Kranken benutzt zu werden pflegt – nur daß der Deckel fehlte, den man in der Eile vergessen oder in der Nacht nicht für nöthig erachtet haben mochte, – an mir vorüber getragen, auf die dichte Gruppe zu.

»Was giebt's?« fragte ich die Männer.[12]

»Der Heizer auf der ›Elisabeth‹ hat sich das Bein gebrochen,« brummte der Eine, in welchem ich jetzt meinen alten Freund, den Stadtdiener Luz erkannte.

»Und wir sollen ihn in das Spittel bringen,« sagte der Zweite, der kein Anderer als der gefürchtete Bolljahn war.

»Der arme Mensch,« sagte ich.

»Ja,« sagte Luz, »und seine Frau ist eben niedergekommen.«

»Und acht waren schon da,« brummte Bolljahn.

»Nein, sieben,« sagte Luz.

»Nein, acht,« versicherte Bolljahn.

Die Gruppe, welche auf der Brücke stand, setzte sich in Bewegung.

»Da liegt er schon,« sagte Luz.

»Nein, acht,« sagte Bolljahn, der einen einmal behaupteten Streitpunkt nicht sobald aufgeben zu können schien.

Luz hatte recht; man hatte den Verunglückten bereits auf dem Schiffe auf die Brücke geschafft. Es war ein sehr großer, starker Mann, an dem ihrer Vier zu tragen hatten und der doch, so stark er war, vor Schmerzen stöhnte und wimmerte. Die Beiden setzten den Korb nieder; man wollte den Kranken hineinheben und mußte dabei sehr ungeschickt zu Werke gehen, denn er schrie laut auf. Ich stieß ein paar Gaffer bei Seite und trat herzu. Sie hatten ihn wieder auf den Boden niedergelassen; ich fragte ihn, wie er es haben wolle, und legte selbst mit Hand an. »Gott sei Dank!« murmelte der Aermste, »da ist doch ein vernünftiger Mensch.«

Sie trugen ihn fort; ich ging noch eine Strecke nebenher, ein wenig nach dem Rechten zu sehen. Ob er es warm genug habe? er hatte es warm genug; ob sie ihn gut trügen? ein bischen weniger könne es schon schütteln. »Hier ist etwas für Sie, und Sie,« sagte ich, meinen alten Freunden ein paar Geldstücke in die Hand drückend, »und nun tragt ihn, als ob es Euer Bruder wäre, oder ein Junge von Euch,« und dann beugte ich mich über den Kranken und flüsterte ihm etwas in's Ohr, das die Herren Luz und Bolljahn nicht zu hören, und gab ihm etwas, das die Herren Luz und Bolljahn nicht zu sehen brauchten, und kehrte dann wieder um, auf die Gruppe zu, die noch immer am Laufbrett stand und den merkwürdigen Fall discutirte. In demselben[13] Augenblicke kam der Kapitän über das Laufbrett und rief zu der Gruppe gewandt: »Will Einer von Euch für den Karl Riekmann eintreten und für die eine Fahrt; ich will es gut bezahlen!«

Die Leute sahen einander an. »Ich kann nicht, Karl,« sagte der Eine, »kannst Du nicht?« »Nein, Karl,« sagte der Angeredete; »aber Du, Karl!« – »Ich kann auch nicht,« sagte der dritte Karl.

»Ich will,« sagte ich.

Der vierschrötige Kapitän blickte zu mir hinauf.

»Na!« sagte er, »leisten wirst Du es schon.«

»Ich denke,« sagte ich.

»Und kannst Du gleich bleiben?« sagte er.

»Mich hält hier Nichts!« sagte ich.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 1-14.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Hammer und Amboß
Hammer Und Amboss; Roman. Aus Hans Wachenhusen's Hausfreund, XII (1869 ) (Paperback)(English / German) - Common
Friedrich Spielhagen's sämtliche Werke: Band X. Hammer und Amboss, Teil 2
Hammer Und Amboss; Roman in 5 Banden Von Friedrich Spielhagen
Hammer Und Amboss: Roman... Volume 2
Hammer & Amboss (German Edition)

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon