Fünftes Capitel.

[48] In einer anderen Abtheilung unserer Fabrik waren durch die Verschiebung eines Treibriemens ein paar Leute mehr oder weniger gefährlich verletzt worden. Wir hatten in unserer Werkstatt erst kurz vor dem Mittagessen Kunde von dem Unglück erhalten, und die Leute blieben auf dem Hofe stehen, um sich die Einzelheiten abzufragen und mitzutheilen. Ich war an eine der Gruppen herangetreten und hörte eifrig zu, als ich einen kleinen Mann sich durch die Gruppen drängen sah, der seinen Hut in der Hand trug, und dessen großer, kahler Schädel, welcher bald da, bald hier zwischen dunklen Gestalten auftauchte, dem vollen Monde glich, der durch schwarze Wolken eilt. Dieser Vollmondschein-Schädel konnte nur einem Menschen gehören. Ich eilte dem kahlen Schädel nach, und erreichte ihn an dem Thor in dem Momente, wo er mit einem Filzhut bedeckt wurde, welcher während der Zeit, daß ich ihn nicht gesehen, auch nicht besser geworden war. Ich folgte dem Filzhut noch ein paar Schritt in die Straße und trat dann mit einem Schritt seinem Träger in den Weg.

»Mit Verlaub, Herr Doctor,« sagte ich.

Doctor Snellius hob seine runden Brillengläser zu mir auf, und starrte mich mit dem Ausdruck äußerster Verwunderung an.

»Es ist keine Hallucination, Doctor,« sagte ich; »ich bin es wirklich.«

»Georg, Mammuth, Mensch, wo kommen Sie her? und in dieser fragwürdigen Gestalt?« rief der Doctor, indem er mir seine beiden Hände entgegenstreckte.

»Still, Doctor,« sagte ich; »ich bin hier incognito, und muß mir die Freude versagen, Sie auf der Stelle zu umarmen.«

»Sie sind doch nicht weggelaufen, trotzdem ich es Ihnen ausdrücklich verboten?« sagte der Doctor geheimnißvoll.

Ich beruhigte ihn über diesen Punkt.

»Gott sei Dank,« sagte er, »oder vielmehr mir sei Dank; oder auch ihr. Wie haben Sie sie gefunden?«

»Ich habe sie noch gar nicht gesehen, Doctor.«

»Und sind schon zwei Wochen hier? Schändlich, unglaublich![49] Wo ist meine Laterne, daß ich sie entzweischlage, denn nun gebe ich die Hoffnung, einen Menschen zu finden, definitiv auf. Gehen Sie! Ich will Sie nie wieder sehen!«

»Wann darf ich zu Ihnen kommen, Doctor?«

»Sobald Sie wollen oder können. Sagen wir heute Abend? he? Ein Glas Grog, halb und halb, in der alten Weise, he?«

Und bei einem Glase Grog halb und halb in der alten Weise saßen Doctor Snellius und ich uns gegen über am Abend desselben Tages in des ersteren geräumiger Wohnung, und sprachen von vergangenen Zeiten, von dem, was wir zusammen erlebt und erlitten, wie eben zwei gute Freunde, die sich seit längerer Abwesenheit zum ersten Male wiedersehen, zu sprechen pflegen.

Der Doctor gab mir eine drastische Schilderung von seiner großen Scene mit dem Major a. D., und wie Herr von Krossow dazu gekommen sei und wie er den Herren gesagt, daß Drei zwar ein Collegium machten, er aber um alles in der Welt mit ihnen kein Collegium machen und sich ihnen deshalb für nun und immer bestens empfohlen haben wolle. Ich erwiederte lachend, daß ich mir jetzt erst recht die Gehässigkeit erklären könne, mit welcher Herr von Krossow, dem ich doch persönlich nie zu nahe getreten sei, mich hernach verfolgt habe.

»Sie irren, mein Guter,« sagte der Doctor. »Das Reptil hatte andere und bessere Gründe, mit seinen Giftzähnen nach Ihnen zu hauen. Ich kann es Ihnen jetzt sagen, wo Sie nicht mehr Gefahr laufen, dem Ungethüm den Hals umzudrehen So hören Sie; aber vorerst brauen Sie sich noch ein Glas; man bekommt es, ohne einen guten Schluck dabei zu thun, nicht herunter. Also: er hat schon früher einmal um sie angehalten, um Paula von Zehren angehalten, und hat sich, da ihm der alte Korb schon zu abgetragen sein mochte, einen neuen holen zu müssen geglaubt, und keine Zeit passender erachtet, als die Tage der Verwirrung und des Jammers nach dem Tode unseres Freundes; dabei auch nicht anzudeuten vergessen, daß der neue Director sein sehr guter Freund und der Regierungs-Präsident sein Vetter sei, und daß er durch diese Beiden, so zu sagen, Paulas und der Ihrigen Zukunft in der Hand habe, denn die Pensions-Ansprüche ihrer Mutter seien, wie sie wohl selbst wisse, sehr[50] fraglich; aber die Sache werde sich machen lassen; und wenn er selbst auch kein Vermögen habe, so seien seine Verbindungen gut, und seine Aussichten nicht schlecht, zumal unter dem neuen König, der wahrhaft ein Gesalbter des Herrn sei. Wie finden Sie das?« krähte Doctor Snellius, indem er aufsprang und einen grotesken Tanz durch das Zimmer vollführte.

Die Erzählung des Doctors hatte mich mit Unwillen und mit Erstaunen erfüllt. Ich hatte in der That keine Ahnung davon gehabt, daß der scheinheilige Pfaff jemals gewagt habe, seine gleißnerischen Augen zu Paula zu erheben; und dabei mußte ich daran denken, wie wahrscheinlich es sei, daß ich nach einer anderen Seite auch nicht scharfsichtiger gewesen sein werde. Ich verfiel in ein düsteres Schweigen; aber der Doctor mußte mir durch seine großen, runden Brillengläser die Gedanken von der Stirn lesen.

»Sie meinen, es wird ihr keine große Mühe gekostet haben, den Priester abzuweisen, da ihr Herz schon von dem Ritter eingenommen war? Wir haben damals manchmal darüber gesprochen, und uns gegenseitig bange gemacht, aber es war dummes Zeug, ich versichere Sie, dummes Zeug! Paula denkt nicht daran, den Adonis zu heirathen, so wenig als mich alten Satyr.«

Der Doctor blickte mich bei diesen Worten von der Seite an und lächelte dann ironisch, als ich mich nicht enthalten konnte, ein leises Gott sei Dank! aus tiefster Seele zu murmeln.

»Aber frohlocken Sie nicht zu früh,« fuhr er fort, und das Lächeln wurde immer diabolischer; »man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, und Sie kennen mein Wort, daß bei den Menschen Alles möglich ist. Arthur ist wirklich ein bezaubernder Junge, und da es ihm gelungen ist, in die diplomatische Laufbahn hineinzukommen, kann er auch ebenso gut als unser Botschafter in London sterben. Es ist schließlich derselbe Bettel, und den verstehen sie; der tausend! wie sie den verstehen; besonders der Alte, der ist ein wahres Genie in der edlen Kunst. Von seinem Schneider, dem er so lange um den Bart geht, bis der Mann ihm die Rechnung stundet, bis zum König hinauf, den er mit einem Fußfall um ein Darlehn anfleht, welches es ihm möglich machen soll, seine Schulden zu bezahlen und seinen Arthur in der neuen Carrière vorwärts zu bringen – keiner ist vor ihm sicher,[51] keiner! Ich sage Ihnen, halten Sie sich die Taschen zu, wenn Sie dem Edlen auf der Straße begegnen.«

»So lebt er auch hier?«

»Natürlich lebt er hier! Das Feld ist nicht so bald erschöpft, und ein großer Mann, wie der Herr Steuerrath, braucht überall viel Boden. O, diese Stirnen, diese ehernen Stirnen!«

»Warum sprechen wir so viel von dem Gesindel?« rief ich. »Erzählen Sie mir lieber von ihr! wie lebt sie? wie geht es mit ihrer Malerei? Hat sie große Fortschritte gemacht? Und hat sie Verkäufer für ihre Bilder gefunden?«

»Ob sie hat!« rief der Doctor. »Ei der tausend! da kommen Sie schön an; ich sage Ihnen, sie ist auf dem besten Wege, ein Vermögen zu machen. Man reißt sich um ihre Bilder.«

»Doctor,« sagte ich; »ich sollte meinen, der Gegenstand vertrüge keinen Scherz!«

Der Doctor, der die letzten Worte in seinen höchsten Tönen gesprochen hatte, stimmte sich mit einem energischen ehem! zwei Octaven tiefer und sagte:

»Sie haben Recht; es sollte auch kein Scherz sein, nur eine Lüge; aber ich sehe, das Lügen habe ich noch immer nicht besser gelernt, und so ist es denn auch wohl jedenfalls das Beste, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, oder vielmehr zeige. Kommen Sie.«

Er entzündete zwei Lichter, die unter dem Spiegel standen und führte mich in ein Nebenzimmer, welches er erst aufschließen mußte.

»Ich habe sie hierher gebracht;« sagte er, – auf die Wand deutend, welche mit größeren und kleineren Bildern behängt war; – »weil ich wo anders vor den Jungen nicht sicher bin. Nun, wie finden Sie sie?«

Ich überzeugte mich, indem ich dem Doctor die Lichter abnahm und über die Bilder leuchtete, daß dieselben sämmtlich von Paula's Hand waren. Hatte ich sie doch zu lange in ihrem Streben verfolgt und mich zu tief in ihre Art zu sehen, und das Gesehene wieder zu geben, hineingedacht!

Es waren drei oder vier Köpfe, idealisirte Köpfe, zu denen ich die Originale zu kennen glaubte, zwei oder drei Genrebilder. Scenen aus dem Gefängnisse, die ich selbst schon in der Untermalung gesehen und endlich eine größere Strandpartie[52] mit bewegtem Meer, von welcher ich ebenfalls die Skizze noch sehr wohl in Erinnerung hatte. Ich verstand damals noch herzlich wenig von der Malerei, und am wenigsten war ich im Stande, meine Meinung zu begründen. Jetzt darf ich sagen, daß ich an jenen Bildern einen bedeutenden Fortschritt wahrnehmen konnte, sowohl in der Technik, als in der freieren, großartigeren Auffassung; besonders waren die Köpfe von einer seltenen Vorzüglichkeit, und ich sprach das, so gut ich es vermochte, mit begeisterten Worten gegen den Doctor aus.

»Ja wohl,« erwiederte er, den Kopf bald auf die rechte, bald auf die linke Schulter neigend und mit wehmüthigem Stolz auf die Bilder blickend, – »Sie haben Recht, vollkommen Recht; sie ist ein Genie, aber was hilft die Genialität dem, welcher keinen Namen hat? Die Welt ist dumm, mein Freund, unglaublich dumm; sie findet das Große und Schöne ganz sicher; wenn die paar erleuchteten Köpfe, die ein Jahrhundert hervorbringt, einer nach dem andern dafür Zeugniß abgelegt haben, dann ist die Sache ein Glaubensartikel, den jeder Junge auf der Schulbank herbeten kann und den die Spatzen von den Dächern pfeifen. Aber wenn die Narren über das Buch eines Autors urtheilen sollen, dessen Namen sie noch nie gehört, über das Bild eines Malers, der zum ersten Male erscheint – so ist ihr Latein zu Ende und sie trauen sich selbst nicht über den Weg. Wie lange hätten diese Bilder auf den Ausstellungen umherreisen oder bei dem Kunsthändler hangen können, wenn ich sie dort hätte hangen lassen. So sind sie denn alle in meinen Besitz gewandert, und nicht nach Amerika, England und Rußland, wie die gute Paula glaubt. Aber sehen Sie mich nur nicht so neidisch an! Meine Mäcenatenrolle hat nicht lange gedauert; ihr neuestes Bild auf der Kunstausstellung – Sie kennen es und sind ja auch selbst darauf – Richard Löwenherz, krank in seinem Zelte, von einem arabischen Arzte besucht – nun wohl, das Bild hat, wie ich heute erfahren, der Commerzienrath, Ihr Commerzienrath gekauft – merkwürdigerweise, denn der Mensch versteht von Malerei gerade so viel, wie ich vom Geldmachen, und Paula hatte, auf meinen Antrieb, für das Bild einen bedeutenden Preis gefordert. Sie sehen: ich bin überflüssig. Sic transit gloria.«

Der Doctor seufzte tief und schritt, die beiden Lichter in[53] den Händen, vor mir her und auf seinem kahlen Schädel zitterten wehmüthige Reflexe.

Wir saßen uns wieder hinter den Groggläsern gegenüber. Der Doctor schien eine tiefe Melancholie, die sich seiner bemächtigt hatte, durch eine möglichst kräftige Mischung bekämpfen zu wollen; auch ich saß in mich versunken da. Der Umstand, daß der Commerzienrath das Bild Paula's gekauft hatte, ging mir im Kopf herum. Wie vollkommen gleichgültig der Mann gegen Alles war, was Kunst hieß, glaubte ich von früher her zu wissen, und daß er sich bei dem Ankauf durch verwandtschaftliche Rücksichten hätte bestimmen lassen, sah ihm so unähnlich als möglich. So war es denn kein sehr kühner Schluß, daß die Tochter vielleicht an der Sache betheiligter sei, als der Vater, und ich gestehe, daß während ich die Wahrscheinlichkeiten dieser Annahme summirte, mir das Blut heiß und heißer in die Wangen stieg. Freilich stand und fiel die ganze Hypothese mit einem bestimmten Punkte, der vorläufig noch im Dunklen war. Ich athmete tief auf, that einen großen Trunk und fragte:

»Hat denn König Richard noch immer einige Aehnlichkeit mit –«

»Mit Ihnen, verehrtester Freund, mit Ihnen – geniren Sie sich nicht;« erwiederte der Doctor mit einer Schnelligkeit, die zu beweisen schien, daß unsere Gedanken irgendwie sich begegnet waren; – »der einzige Vorwurf, den ich Paula mache, ist gerade, daß sie geglaubt zu haben scheint, sie brauche Sie nur eben zu nehmen, wie Sie da sind, und ein König sei fertig. Thun Sie mir nur den einzigen Gefallen und schieben Sie nicht auf Ihre Rechnung, was schließlich doch nur eine Armuth an Erfindung ist.«

»Ich glaube, ich habe Ihnen noch keine Veranlassung gegeben, mich für ausnahmsweise eitel zu halten,« sagte ich.

»Nein, das soll Gott wissen; Sie verdienten wahrlich viel eher als Säulenheiliger, denn als der löwenherzige Richard auf die Nachwelt zu kommen.«

»Sie sagen das so bitter, Doctor, als ob Sie alles Ernstes mit mir unzufrieden wären.«

»Ja, das bin ich auch, mein Guter,« rief der Doctor. »Was ist das wieder für eine abenteuerliche Idee, sich mit seiner Hände Arbeit ernähren zu wollen, wenn man von seinem Kopfe leben kann? Wissen Sie, Herr, daß mir unser[54] dahingeschiedener Freund noch kurz vor seinem Tode gesagt hat, Sie seien eines der vorzüglichsten mathematischen Talente, die ihm vorgekommen, und Sie könnten jeden Tag in der Prima eines Gymnasiums dociren? Denken Sie, daß Ihr Kopf in demselben Maße feiner wird, als Ihre Hände gröber werden? Sie werden sagen, wie der Schneider zu Herrn von Talleyrand: il faut vivre, und ein Schmiedegesell fände leichter zu leben, als ein Lehrer der Mathematik? Wohl! aber haben Sie keine Freunde, die Ihnen helfen können? Weshalb sind Sie nicht sogleich zu mir gekommen? Weshalb haben Sie dem Zufall überlassen, ob unsere Wege sich kreuzen würden?«

Ich versuchte, den Aufgeregten zu beschwichtigen, indem ich auseinandersetzte, wie ich keineswegs aus Noth, sondern aus Ueberzeugung den Weg, den ich jetzt gehe, eingeschlagen habe; er wollte das Alles nicht gelten lassen.

»Wozu geben Sie sich mir gegenüber die Mühe,« rief er, »aus der Noth eine Tugend zu machen? Die Noth ist Ihr Rathgeber gewesen, die Noth und höchstens noch Ihr verfluchter Stolz. Sie wurden ganz anders aufgetreten sein, wenn Sie ein Vermögen hinter sich gehabt hätten.«

»Aber ich habe doch keines, Doctor.«

»Widersprechen Sie mir nicht, Sie hirnloses Mammuth! ein Freund, der ein Vermögen hat, das er Ihnen zur Disposition stellt, ist auch ein Vermögen. Ich bin Ihr Freund, ich habe ein Vermögen und stelle es Ihnen zur Disposition. Wer weiß, ob ich damit nicht ein gottgesegneteres Werk thue, als wenn ich es im Sinne meines alten Vaters zur Unterstützung von Waisenhäusern und dergleichen kinderreichen Zwecken benutzte. Sie sind ja auch eine Waise; ich handle also, indem ich Sie unterstütze, wenn auch nicht in dem Sinne, so doch nach den Worten des frommen Mannes, und würde mich für mein Theil vollkommen dabei beruhigen.«

»Aber ich mich nicht,« erwiederte ich lachend.

»Lachen Sie nicht, Sie Ungethüm!« rief der Doctor; »Sie scheinen nicht begreifen zu können, wie ernst es mir mit meinem Vorschlage ist. Nehmen Sie mein Geld – es sind fünfzigtausend Thaler oder dergleichen – associiren Sie sich mit dem Commerzienrath, oder lieber, gründen Sie selbst eine Concurrenzfabrik und heben Sie den Mann aus dem Sattel; werden Sie in wenigen Jahren Deutschlands erster Fabrikant und Maschinenbauer, und –«[55]

Dem Doctor war, während er dies mit fieberhafter Lebendigkeit sprach, das Blut in beängstigender Weise in den Kopf gestiegen; auch brach er plötzlich ab, und ich habe erst viel später erfahren, was er mir in diesem Augenblicke mit solcher Anstrengung verschwiegen hatte. Mag sein, daß mein Kopf in Folge des langen Sitzens hinter dem Grogglase auch nicht mehr der klarste war; ich kann mir wenigstens nur so die Hartnäckigkeit erklären, mit welcher ich auch jetzt noch dem Doctor widersprach und behauptete, daß meine Liebe zur Selbstständigkeit mir nie erlauben würde, das Vermögen und die Hülfe eines Anderen zu Fundamentsteinen meiner Existenz und meines Glückes zu machen.

»Wissen Sie, was Sie damit proklamiren?« rief der Doctor in seinen allerhöchsten Tönen, indem er dabei voller Zorn auf den Tisch schlug, – »daß Sie ein Lump bleiben wollen, ein ganz erbärmlicher Lump, denn das ist noch ein Jeder geblieben, der die Dummheit gehabt hat, sich mit der eigenen Faust an dem eigenen Zopf aus dem Sumpfe zu ziehen. Nein, nein, mein Guter! die Kunst ist, Andere für sich arbeiten zu lassen. Wer das nicht versteht, ist ein Lump und bleibt ein Lump.«

»Was würde unser großer Freund sagen, wenn er Sie so reden hörte!« sagte ich kopfschüttelnd.

»Hat er nicht im Leben und im Sterben die Wahrheit meines Satzes bewiesen?« kräht der kampflustige Doctor. »Heißt das als ein vernünftiger Mann gelebt haben, wenn man, sterbend, das Liebste, was man auf der Welt hatte, in Dürftigkeit und Armuth hinterläßt? Und welches sind denn die großen Erfolge einer so langen, opferfreudigen, heroischen Arbeit für das Gemeinwohl? Er hat geglaubt, dieser Hohepriester der Humanität, sein Beispiel würde genügen, eine totale Reform des Gefängnißwesens herbeizuführen. Und da hat nur ein alter Pedant von König die schläfrigen Augen zuzumachen brauchen, und seinem Gebäude war das Fundament entzogen, und als er selbst die Dummheit beging, zu sterben, stürzte es zusammen wie ein Kartenhaus. Ist das nicht Narretei, so weiß ich nicht, wie laut die Schellen klingen müssen!«

»Ich kenne Jemand, dessen Kappe mindestens ebenso bunt ist,« sagte ich, dem Doctor voll in die Augen sehend. »Oder wie wollen Sie einen Mann nennen, der, als der einzige Sohn eines alten reichen Vaters, welcher den Sohn liebt und[56] ihn gewähren läßt, obgleich er ihn nicht zu begreifen vermag, mit der bestimmten Aussicht auf ein bedeutendes Vermögen Jahre und Jahre lang das mühselige Amt eines Gefängnißarztes für den geringsten Lohn bekleidet; der, nachdem er in den Besitz dieses Vermögens gekommen ist, als Arzt der Armen und Aermsten, seine Haut zu Markte trägt, der schließlich, weil sie ihn allzu sehr drückt, die Last seines Vermögens dem Ersten Besten in den Schooß wirft, um – nun ja, um als der unverbesserliche Lump zu sterben, als welcher er gelebt hat.«

»Habe ich je prätendirt, etwas anderes zu sein,« sagte mein Gegner, nicht ohne einige Verlegenheit in Blick und Miene. »Ja, wenn es so einfach wäre, ein Kind der Klugheit zu werden! Dazu gehören Generationen, denn die Klugheit will in den Familien gezüchtet sein, wie die langen Beine bei den Rennpferden. Nehmen Sie den Commerzienrath, der ist ein klassisches Beispiel, wie stetig die Klugheit wächst und gedeiht, wenn sie erst einmal richtig auf den Stamm einer Familie oculirt ist. Der Großvater des Mannes ist ein Nadler gewesen, der in S. seinen kleinen Laden am Hafenthor gehabt hat; mein Großvater hat ihn noch wohl gekannt. Es ist ein disreputirlicher alter Kerl gewesen, der vorne im Laden Nägel und Nadeln verkauft und in der Hinterstube auf Pfänder geliehen hat. Dann kam sein Sohn, der war schon um einen Kopf größer oder um ein paar. Der konnte schon lesen und schreiben und noch ein gut Theil besser rechnen als der Alte. Er ist in Ihre Vaterstadt übergesiedelt und hat Schiffsparten gekauft und zuletzt ganze Schiffe und hat seinem Sohn, welcher der Oberste ist unter ihnen, die Wege geebnet. Des Sohnes Glanzzeit fällt unter Napoleon. Napoleon und die Continentalsperre und der Schmuggel haben ihn zum reichen Manne gemacht. Ja, der Schmuggel, derselbe Schmuggel, der Ihrem Freunde das Leben gekostet hat. Als der Herr Commerzienrath schmuggelte, da war der Schmuggel, so zu sagen, eine patriotische That, und die armen Teufel, die ihr Leben dabei auf's Spiel setzten und verloren, Märtyrer der guten Sache. Gott mag wissen, wie viel Menschen er auf der Seele hat! und wenn später die Leute, die sich einmal an das Gewerbe gewöhnt, nicht mehr davon lassen wollten und auch nicht konnten, weil sie sonst hätten verhungern müssen – er hatte sich salvirt, er hatte sein Schäflein im[57] Trocknen und konnte sich in's Fäustchen lachen. Dann kam die Zeit der Armeelieferungen, und das war wiederum keine schlechte Zeit, und so hat dieser Egel sich fort und fort an dem Blut seiner Mitmenschen dick und voll gesogen. Es ist ihm Alles geglückt, was er nur unternommen: der Nadlerenkel und Maklersohn ist Millionär geworden, hat eine ›Geborene‹ zur Frau gehabt, hat Titel, Orden, Alles, was das Herz begehrt. Sehen Sie, das ist ein Kind der Klugheit, das ich Ihnen zur Nacheiferung empfehle.«

»Damit ich Ihre und aller Guten Freundschaft verliere.«

»Was nützt Ihnen meine Freundschaft? meine Freundschaft ist höchstens fünfzigtausend Thaler werth! Sie haben ganz recht, wenn Sie um solche Bagatelle sich nicht derangiren wollen. Heirathen Sie Hermine Streber – da wissen Sie doch, weshalb Sie ein Lump werden.«

»Es scheint, daß man dieser Kategorie verfällt, so bald man gar kein Geld oder sehr viel Geld hat,« rief ich, meine Verlegenheit über die brüske Zumuthung hinter einem lauten Lachen verbergend.

»Allerdings,« eiferte der Doctor, »die Extreme berühren sich und deshalb meine ich auch, daß Ihr Schicksal unvermeidlich ist. Es handelt sich nur noch darum, wie Sie dem Alten beikommen; mit der Tochter sind Sie ja wohl halb oder mehr als halb im Reinen. Ihr Rencontre auf dem Dampfschiff war ja allerliebst, und nun dieser Richard Löwenherz in effigie, so lange man ihn noch nicht in natura hat –«

»Doctor,« sagte ich aufstehend, »ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns gute Nacht sagen.«

»Wie Sie wollen,« sagte der Doctor; »Sie wissen so außerordentlich genau, was Ihnen gut ist, daß Sie auch dies wissen müssen.«

Der Doctor war ebenfalls aufgestanden und fuhr jetzt im Zimmer auf und ab, und schnitt dabei ganz entsetzliche Gesichter.

»Doctor,« sagte ich, ihm in den Weg tretend.

»Gehen Sie!« kreischte er, einen Bogen um mich herum machend.

»Ich gehe,« sagte ich, und ich ging wirklich.

Aber an der Thür blieb ich stehen und blickte noch einmal nach dem seltsamen Manne, der sich jetzt wieder in seinen Stuhl geworfen hatte, und mich durch seine runden Brillengläser[58] zornig anstarrte: »Doctor, Sie haben mir einmal gesagt, daß Sie nur vier Gläser gut vertragen können, und Sie haben heute sechs getrunken. So will ich denn die unfreundliche Weise, in welcher Sie mich jetzt, ich weiß nicht warum, verabschieden, auf das fünfte und sechste Glas rechnen, und nun leben Sie wohl!«

Ich verließ das Zimmer, ohne daß er einen Versuch gemacht hätte, mich zurückzuhalten, ja ich hörte, als ich die Thür hinter mir schloß, sein lautes, krähendes Gelächter.

Das kommt davon, wenn man sein Maß nicht einhält, sagte ich entschuldigend.

Aber als ich unten auf der Straße stand und mir die frostkalte Nachtluft um das erhitzte Gesicht wehte, kam es mir vor, als ob ich selbst mein gehöriges Maß nicht genau eingehalten hätte. Mein Schritt, die mangelhaft erleuchteten, menschenleeren Gassen entlang, durch die ein heftiger Dezemberwind fegte, war weniger fest als sonst wohl, und dabei gingen mir allerlei wunderliche Gedanken durch den Kopf, und hatte ich allerlei kuriose Einfälle, die denn doch ihre Entstehung wohl nur auf den Grund so vieler geleerter Gläser zurückführen konnten. So mußte ich einmal ganz laut lachen, denn ich glaubte die Stimme des dicken, kleinen Commerzienraths zu hören, die ganz deutlich sagte: Lieber Sohn, wir müssen uns zusammennehmen, sonst finden wir uns am Ende gar nicht nach Hause und unsere Hermine ängstigt sich.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 48-59.
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