Dreiundvierzigstes Capitel

[462] In der Williamsstraße, der vornehmsten Straße der Residenz, war kurz vor Neujahr durch den Hausmeister des Fürsten Waldernberg ein großes schönes Hotel, dessen Besitzer vor einiger Zeit gestorben war, gekauft worden. Der Fürst selbst,[462] der bald darauf von Grünwald eintraf, hatte die innere Einrichtung überwacht und trotz der verschwenderischen Pracht, mit welcher sie ausgeführt wurde, so gefördert, daß er schon Ende Januar mit seiner zahlreichen Dienerschaft und seinem Marstall aus dem Hotel in der Bärenstraße, wo er bis dahin residirt hatte, in die Wohnung übersiedeln konnte. Er bezog den einen Flügel des Erdgeschosses. Der andere Theil blieb vorläufig leer, da der Fürst in der Einrichtung desselben dem Geschmack und den Wünschen seiner Braut, die nebst ihrer Mutter Anfang Februar von Grünwald erwartet wurde, nicht vorgreifen wollte. Mit desto größerem Eifer ließ er an der Ausstattung der Beletage arbeiten, deren prachtvolle Räume für die Fürstin Mutter, die den übrigen Theil des Winters in der Residenz zuzubringen gedachte, so wie zur Aufnahme der erwarteten Gäste bestimmt waren.

Der Fürst hatte die Freude, auch diese Arbeit vollendet zu sehen, als er am 1. März die Residenz verließ, um seine Mutter von Stettin abzuholen, wo das Dampfschiff, welches sie von Petersburg nach Deutschland brachte, am nächsten Tage ankommen mußte. Zu gleicher Zeit waren durch seinen Hausmeister für seinen Vater, den Grafen Malikowsky, der von München aus seine bevorstehende Ankunft angekündigt hatte, in dem Hotel de Russie Unter den Akazien eine Reihe von Zimmern gemiethet worden.

In einem der prachtvollen Salons des Hotels Waldernberg, in einem weichgepolsterten Lehnstuhl, der nahe an den Kamin gerückt war, in welchem ein lustiges Feuer brannte, saß die Fürstin Letbus. Dicht neben ihr, die hohe Gestalt zu ihr herabgebeugt, wie um der Mutter selbst die Anstrengung des lauteren Sprechens zu ersparen, stand der Fürst.

Adieu, liebe Mama, sagte der Fürst, indem er sich noch tiefer herabbeugte und die feine, welke Hand der Mutter an seine Lippen führte, es ist Zeit, daß ich gehe, wenn ich die Ankunft des Zuges nicht versäumen will.

Adieu, mein lieber Sohn, erwiderte die Fürstin; heiße Deine Braut in meinem Namen willkommen. Sage ihr, daß[463] ihr meine Mutterarme geöffnet sind. Hat der Graf zugesagt, sich an dem Empfange der Damen zu betheiligen?

Ja, liebe Mama?

Nun denn, mein lieber Sohn, gehe mit Gott, der Deinen Ausgang und Deinen Eingang segnen möge!

Sie hauchte einen Kuß auf die Stirn des Fürsten, der sich erhob und über die dicken Teppiche des Fußbodens geräuschlos zur Thür hinausschritt.

Die Fürstin blieb, nachdem der Sohn sie verlassen hatte, in dem Lehnstuhl zusammengekauert sitzen. Es waren keine tröstlichen Gedanken, die in diesem Augenblicke durch ihr Hirn zogen, denn der Ausdruck ihres bleichen Gesichtes wurde immer düsterer und düsterer, und immer starrer blickten die schwarzen Augen in die Flamme des Kamins, so daß sie in dem Widerschein des Feuers unheimlich funkelten und blitzten. Zuletzt schauderte sie aus dieser Starrheit auf und drückte auf die Feder der silbernen Glocke, die dicht neben ihr auf einem Tischchen stand.

Unmittelbar darauf trat ihre erste Kammerfrau Nadeska herein.

Was befiehlt meine Fürstin? sagte Nadeska, mit einer Stimme, durch deren leisen unterwürfigen Ton eine gewisse Vertraulichkeit hindurchklang.

Laß die Lichter in den Zimmern anzünden, Nadeska, und hörst Du, Nadeska, daß die ganze Dienerschaft sich zum Empfang der Damen in dem Hausflur aufstellt. Wen hast Du zu ihrer speciellen Bedienung bestimmt?

Ich dächte: Katinka, Mademoiselle Virginie und von den deutschen Mädchen Marie und Louise.

Es ist gut. Du selbst empfängst die Damen an der Thür und begleitest sie auf ihr Zimmer.

Hat meine Fürstin sonst nichts zu befehlen?

Nein, Nadeska.

Die Kammerfrau verneigte sich und ging nach der Thür. Als sie dieselbe beinahe erreicht hatte, rief die Fürstin sie zurück. Sie trat wieder an den Stuhl.[464]

Hast Du den Grafen heute Vormittag beobachtet, Nadeska?

Ja, meine Fürstin.

Hast Du nichts Besonderes bemerkt?

Er schien noch stutzerhafter und geschminkter als früher.

Sonst nichts?

Nein.

Nadeska, ich habe eine unbeschreibliche Angst, daß er etwas gegen uns im Schilde führt.

Sie haben diese Angst stets gehabt, meine Fürstin, so oft der Graf einen Besuch machte, und haben sie jetzt mehr als sonst, weil Sie ganz bestimmt erwarteten, daß er der Einladung des Fürsten nicht folgen würde.

Ja, sieht es nicht wie Hohn aus, daß er kommt? Was will er hier? Aber es ist nicht das allein. Er hat gestern wiederum eine enorme Summe von mir verlangt.

Die Sie ihm hoffentlich gegeben haben.

Nein, Nadeska. Meine Geduld ist erschöpft, wie meine Casse. Michail sagte mir, daß er das Geld nicht schaffen könne.

Er muß es schaffen. Bedenken Sie, was auf dem Spiele steht!

Aber diese Tyrannei ist unerträglich! rief die Fürstin, und die großen schwarzen Augen leuchteten im Wiederschein des Feuers wie glühende Kohlen.

Nadeska zuckte die Achseln.

Was wollen Sie dagegen thun! Sie wissen, der Graf haßt Sie eben so sehr wie den Fürsten. Wenn er seinem Hasse nicht nachgiebt und das Wort ausspricht, das Mutter und Sohn auf immer trennen würde, so ist es nicht Furcht vor der Schande – wann hätte sich der Graf jemals etwas aus der Schande gemacht! – sondern nur Furcht vor der Armuth, die er noch mehr haßt, als Mutter und Sohn zusammengenommen. Lassen Sie ihn heute erfahren, daß ihm sein Schweigen nichts mehr einbringt, und er wird es morgen brechen.[465]

Die Gräfin ächzte wie eine Gefolterte, indem sie ihre mageren Hände zusammenpreßte.

O, Nadeska, Nadeska, wimmerte sie; warum mußte der Graf in jenem unglückseligen Augenblick kommen! warum mußtest Du Deinen Posten verlassen in dieser einen Stunde, die Alles entschied! Nur fünf Minuten vorher gewarnt, und der Graf hätte mich allein gefunden, und wie groß auch sein Verdacht sein mochte, er hätte auch diesmal keine Beweise gehabt.

Nadeska stand seitwärts und etwas hinter der Gebieterin. Sie konnte also ungestraft eine höhnische Fratze ziehen, bevor sie in noch demüthigerem Tone antwortete:

Verzeihen Sie, Fürstin! dieses Mal war doch auch ohne das ein sehr sprechender Beweis da. Freilich, ein böser Zufall war es immer, daß die Geburt des Fürsten neun Monate nach der Nacht erfolgte, in welcher er von einem fremden Manne, den er im Zimmer seiner Gemahlin fand, zwanzig Fuß hoch durch das Fenster auf den Schnee geworfen wurde.

Die Erinnerung an diesen Vorfall verscheuchte für diesen Augenblick die Melancholie der Fürstin. Die lächerlichen, abscheulichen Scenen jener tollen Nacht zogen mit Klarheit an ihrem inneren Auge vorüber, und das Bild des Helden derselben, des Mannes aus dem Volke, den die hochgeborene Dame mit ihrer Gunst beehrt hatte, erschien ihr wieder, wie es ihr damals erschienen war: ein Ideal übermüthiger Jugend und Manneskraft.

Ob er wohl noch lebt? fragte sie, ganz in diese Erinnerung verloren.

Wer, meine Fürstin? fragte Nadeska, die recht gut wußte, an wen die Gebieterin jetzt dachte.

Die Fürstin antwortete nicht, und Nadeska begann geräuschlos die Lichter in dem Salon anzuzünden. Eine wollüstige Dämmerung verbreitete sich in dem Gemache, die heller und heller wurde, ohne den sanften Charakter zu verlieren, denn sämmtliche Lichter brannten in Kelchen von rosigem Glase. Es war dies das einzige Licht, welches die reizbaren Nerven der Fürstin ertragen konnten; auch am Tage, der für sie erst spät[466] am Nachmittage anfing, waren die Fenster stets mit rosenrothen Vorhängen geschlossen; Spötter behaupteten, die Fürstin scheue das freche Licht des Tages nur, weil es für ihren durch eine ausschweifende Jugend und ein frühes Alter verwüsteten Teint allzu ungünstig sei.

Nadeska hatte eben die letzte Kerze angezündet, als die diensthabende Kammerzofe in das Gemach schlüpfte und ihr etwas in's Ohr flüsterte.

Was giebt's, Nadeska? fragte die Fürstin.

Der Graf läßt sich melden, erwiderte die Vertraute.

Die Fürstin schrak zusammen.

Was kann er wollen? sagte sie; er sollte jetzt auf dem Bahnhofe sein!

Er wird sich in der Zeit geirrt haben.

Möglich. Laß ihn kommen, aber bleib' im Zimmer.

Auf einen Wink Nadeska's entfernte sich die Kammerzofe, die in demüthiger Haltung an der Thür gewartet hatte. Gleich darauf trat raschen Schrittes der Graf Malikowsky herein, kam auf die Fürstin zu, küßte ihr verbindlich die Hand und sagte, indem er sich in einen der Lehnstühle, die um den Kamin herum standen, sinken ließ:

Sie wundern sich, Alexandrine, daß ich nicht mit den Andern zugleich erscheine –

In der That.

Glauben Sie nicht, daß es Mangel an Aufmerksamkeit für die Braut meines Sohnes ist – der Fürst sprach dies letztere Wort mit ganz besonderer Betonung und zeigte dabei seine falschen weißen Zähne – im Gegentheil! gerade die zarte Sorge, die ich dem Wohl des jungen Paares widme, treibt mich, ich kann sagen, athemlos hierher. Eine Entdeckung, die ich heute – aber, darf ich bitten, Alexandrine, daß sich Ihre Kammerfrau entfernt; meine Mittheilung erfordert unbedingtes Geheimniß – flüsterte der Graf, sich zu seiner Gemahlin hinüberbeugend.

Laß und allein, Nadeska, aber bleib' im Nebenzimmer, sagte die Fürstin.[467]

Alexandrine, sagte der Graf, als sich die Kammerfrau entfernt hatte, um in dem Nebenzimmer ihr Ohr an das Schlüsselloch zu legen; Sie hatten gestern nicht die Güte, meiner, durch hartnäckige Verluste im Spiel erschöpften Casse mit der geringen Summe, um die ich Sie bat, auszuhelfen. Nun hätte ich das übel nehmen können in Anbetracht des eigenthümlichen Verhältnisses, in welchem wir zu einander stehen; indessen: ich für meine Person weiß mich einzuschränken und möchte um Alles in der Welt nicht Ihnen, oder meinem Sohne beschwerlich fallen. Um so mehr thut es mir leid, daß ich schon wieder Ihre Casse in Anspruch nehmen muß, diesmal freilich nicht für mich, sondern für Jemand, der allerdings größere Ansprüche machen kann, als ich.

Ich bin nicht so glücklich, den Sinn Ihrer Worte auch nur zu ahnen, erwiderte die Fürstin, sich mit halb geschlossenen Augen in die Kissen ihres Stuhles zurücklehnend.

Vielleicht, sagte der Fürst, indem er in die Tasche seines Fracks faßte und einen Brief herausnahm, den er mit den in gelbe Glacéhandschuh gepreßten zitternden Händen auf seinem Knie entfaltete, wird dieser Brief, der mir vor einer halben Stunde durch einen jungen Menschen überbracht wurde, die gewünschte Aufklärung geben. Erlauben Sie, daß ich Sie mit der Lectüre desselben behellige.

Der Graf wartete keine Antwort ab, sondern klemmte seine goldene Lorgnette auf die Nase und las, indem er dabei von Zeit zu Zeit über die Gläser weg auf die Fürstin hinüberblickte:

Hochgeborner Herr Graf! In dem Augenblicke, wo Se. Durchlaucht der Fürst Waldernberg seine junge Braut, Baroneß Helene von Grenwitz, in die Arme der Fürstin Mutter führt, ist es gewiß wünschenswerth, daß unter allen Mitgliedern der Familie die Harmonie walte, ohne welche auch weniger wichtige Feste leicht einen unerfreulichen Charakter annehmen. Sie selbst, hochgeborener Herr Graf, haben, indem Sie über gewisse Vorgänge, welche in der Nacht vom 21. bis 22. September 1824 im Hotel Letbus in St. Petersburg stattfanden,[468] den Schleier christlicher Liebe und weiser Vergessenheit fallen ließen, ein Beispiel gegeben, dem ich gern folgen würde, wenn die Umstände es mir erlaubten. So aber bleibt mir nur die Alternative, meine Angelegenheit bei Sr. Durchlaucht selbst zu befürworten, oder Denjenigen, welche Ursache haben, gewisse Dinge vor Sr. Durchlaucht zu verheimlichen, mit derselben beschwerlich zu fallen. Ich erlaube mir deshalb, mich an Se. Excellenz den Grafen Malikowsky, als die zur Vermittelung des Geschäfts geeignetste Person zu wenden, mit dem Ersuchen, mir unverzüglich 50,000 (schreibe fünfzigtausend) Silber-Rubel bei einem der hiesigen Banquiers anzuweisen, widrigenfalls ich mich eben genöthigt sehen würde, Sr. Durchlaucht selbst in Person meine Aufwartung zu machen.

In der Zwischenzeit (die ich auf acht Tage de dato bestimmen möchte) verharre ich u.s.w.

Director Caspar Schmenckel aus Wien.


P.S. Sollten Sie vorziehen, persönlich mit mir zu verhandeln, so bin ich jeden Abend von 7 Uhr an im »Dustern Keller«, Gertrudenstraße Nr. 15. zu finden.

D.O.


Nun, was sagen Sie, Alexandrine? fragte der Graf, indem er seine Lorgnette fallen ließ und den Brief wieder in die Tasche steckte.

Daß das Ganze ein schlecht erfundenes Märchen von Ihnen ist.

Comment? rief der Graf in einem Erstaunen, das diesmal nicht affectirt war.

Glauben Sie wirklich, mein Herr, sagte die Fürstin, zitternd vor Wuth und einer heimlichen Furcht, es könne doch etwas Wahres an der Sache sein, daß ich in eine so plumpe Falle gehen werde? daß ich nicht sehe, wo das Alles hinaus soll? daß Sie auf diese schamlose Erfindung nur deshalb gefallen sind, weil ich Ihrer tollen Verschwendung nicht auch noch den Rest meines Vermögens opfern will?

Wahrhaftig, Alexandrine, wer Sie so hörte, sollte glauben, daß Ihr Gewissen so rein wäre, wie meine Handschuhe. Der[469] Zorn macht Sie ja blind, Theuerste! Bemerken Sie doch gütigst, daß in dem Briefe Dinge vorkommen, von denen ich gar keine Ahnung habe, noch haben kann, zum Beispiel: der so überaus aristokratische Name des betreffenden Ehrenmannes. Bekanntlich hatte ich bis jetzt noch nicht die Ehre, zu wissen, wessen Blut in den Adern meines Sohnes fließt. Und übrigens haben Sie ja ein unfehlbares Mittel, die Echtheit dieses Briefes zu ermitteln. Lassen Sie sich den Verfasser – ich meine den des Briefes – kommen! er wird sich doch in den fünfundzwanzig Jahren so sehr nicht verändert haben, daß Sie ihn nicht wieder erkennen sollten.

Sie denken, ich werde das nicht thun? Sie irren sich. Ich bestehe darauf, daß Sie mir diesen Popanz, mit dem Sie mich einzuschüchtern versuchen, vorführen. Geben Sie mir den Brief!

Warum nicht? erwiderte der Fürst; hier! Aber, Alexandrine, ich hoffe, daß diese Zusammenkunft in meinem Beisein geschieht, sonst würde ich mich vor Eifersucht nicht zu lassen wissen.

Teufel!

O, mein Engel, nennen Sie so den Mann, dem Sie so viel Dank schuldig sind?

Dank schuldig? Ihnen? Ich, der ich Sie aus dem Elend aufgelesen habe!

Wofür ich Ihnen einen ehrlichen Namen gab.

Einen ehrlichen Namen, der durch jedes schnödeste Laster und jede schändlichste Sünde geschleift –

Und doch immer noch gut genug war für die Freundin –

Hüten Sie sich!

Weshalb? der Himmel ist hoch und der Czar ist weit. Uebrigens haben Sie recht, zu verlangen, daß auf dieses eine Verhältniß kein übermäßiger Werth gelegt werde. Weiß doch Jedermann, daß Ihnen in einer gewissen Beziehung jeder Rang und Stand gleich war.

Das geht zu weit, ich –

Beruhigen Sie sich, ma chère! Ich höre so eben einen[470] Wagen vorfahren. Jedenfalls sind es die lieben Unsrigen. Wir müssen Ihnen ein Beispiel ehelicher Liebe und Freundschaft geben.

Es war ungefähr zwei Stunden später. Helene von Grenwitz wanderte, nachdem sie die Kammerfrau verlassen hatte, unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Die Baronin, welche von der Reise sehr angegriffen war, hatte sich bereits in ihr Schlafgemach begeben. Helene konnte nicht schlafen. Ihre Seele war von einer unbestimmten und deshalb um so fürchterlicheren Angst bedrückt. Sie kam sich inmitten der Herrlichkeit, die sie umgab, vor, wie ein Kind in einem verzauberten Schlosse, wo aus jedem Winkel, in welchen der Schein der Lichter weniger hell fällt, hinter jeder seidenen Gardine, die der Luftzug leise bewegt, ein unsägliches Grauen hervortreten kann. War das die Erfüllung ihrer stolzen Hoffnungen! Sie vermochte den Eindruck, den der Empfang im Salon der Fürstin auf sie gemacht hatte, nicht wieder los zu werden. Noch immer fühlte sie die eisig kalten Lippen der Fürstin auf ihrer Stirn; noch immer sah sie das widrig freche Lächeln des Grafen und die finstere Miene des Fürsten. Es war ein unheimlicher Geist, der durch dieses Haus ging. Und diesem Geist hatte sie sich ergeben, hatte sie ihre Freiheit, ihre Mädchenträume, ihre Zukunft geopfert! Um was dafür zu gewinnen? hohe Stellung, Reichthum! – Wie wenig begehrenswerth ihr das Alles in diesem Augenblicke vorkam! wie gern sie das Alles hingegeben hätte, ein Ahnung des seligen Glücks zurückzurufen, das in dem Sommer des vergangenen Jahres ihr Herz erfüllt hatte, wenn sie aus ihrem kühlen Gemach in den goldigen Morgensonnenschein des Parkes hinaustrat und, langsam zwischen den Blumenbeeten auf – und abwandelnd, bei jeder Wendung um ein dichteres Bosquet Oswald zu begegnen hoffte. Wie weit, wie unerreichbar weit lag jetzt dies Alles hinter ihr! weit, wie das Paradies der Kinderjahre, das kein Sehnen und kein Frühling zurückbringt!

Wieder und immer wieder schweiften ihre Gedanken nach Grenwitz; tausend kleine Scenen, die sie vergessen zu haben[471] glaubte, erwachten in ihrer Erinnerung, – ein Spaziergang mit Bruno und Oswald durch die Felder, als die Abendsonne tief am Horizont wie ein ungeheurer Feuerball in dem goldstrahlenden Aether hing und über dem reifenden Korn glänzende Lichter wogten, während hoch über ihnen, verloren im tiefen Blau des Himmels, die Lerchen jubelten; ein anderes Mal, als sie am heißen Nachmittage, ermüdet von dem monotonen Summen und Schwirren der Insekten, auf einer Bank in einem kühlen Baumgang des Gartens eingeschlummert war und sie in dem Augenblick erwachte, als ihr Jemand – es war Bruno – einen Kranz von dunkelrothen Rosen auf's Haupt setzte, während wenige Schritte davon entfernt ein Anderer – Oswald war's – hinter einem Baum versteckt lauschte. Und immer waren es Bruno und Oswald, welche die friedlichen Bilder belebten – elysische Gestalten in elysischen Gefilden! Waren doch Beide todt; – Helene hatte, als Oswalds Flucht mit Emilie das unerschöpfliche Thema des Gesprächs in Grünwald war, unbeschreiblich gelitten, denn erst jetzt, als sich eine Welt zwischen ihn und sie gelegt, fühlte sie, wie theuer ihr dieser Mann gewesen war. Zwar bemühte sie sich ernstlich, diese Leidenschaft zu bemeistern und sich mit dem Schicksal, das sie sich doch schließlich selbst bereitet, auszusöhnen; aber nur zu oft ertappte sie sich darauf, daß sie die Persönlichkeit ihres Verlobten mit der Oswalds verglich, um immer wieder zu dem Resultat zu kommen, daß Jenem Alles fehlte, was diesen in ihren Augen so liebenswürdig gemacht hatte: die anmuthig elegante Gestalt und Haltung, die geistvollen und doch so zärtlichen Augen, die tiefe und doch so weiche Stimme, der immer wechselnde und immer interessante Ausdruck des edlen Gesichts. – Nie hatte sie lebhafter als an diesem Abend gefühlt, wie stumm ihr Herz ihrem Verlobten gegenüber war. Sie dachte mit Entsetzen daran, daß, als der Generalmarsch auf der Straße geschlagen wurde, von fern her das Brausen und Toben der Volksmenge ertönte und der Fürst aufsprang, um an seinen Posten zu eilen, sie weiter nichts empfunden hatte,[472] als daß dies eine vortreffliche Gelegenheit sei, sich in ihre Gemächer zurückzuziehen.

Und immer schwerer wurde dem jungen Mädchen das Herz, und immer trüber wurde es vor ihren Augen. Sie kam sich grenzenlos unglücklich vor; sie hatte Mitleid mit sich selbst, daß sie so allein sei, daß Niemand ihren Kummer theile. Aber hatte sie sich denn diese isolirte Stellung nicht selbst bereitet? hatte sie die guten Menschen, die ihr mit offenem Herzen entgegengekommen waren, nicht mit kühler Höflichkeit zurückgewiesen? Wie sehnte sie sich jetzt nach dem braven alten Fräulein Bär, nach der klugen, herzigen Sophie Robran! Aber war nicht Sophie in der Residenz? konnte sie die Freundin, die sie in der letzten Zeit in Grünwald so vernachlässigt hatte, hier nicht wieder aufsuchen? Helene klammerte sich an diesen Gedanken wie an einen Rettungsanker, und fragte sich seufzend, während sie ihr schönes Haupt in den seidenen Kissen verbarg, ob sie denn wirklich die stolze Helene sei, die gemeint hatte, einsam ihre Bahn, wie ein Stern über den Himmel, ziehen zu können, unbekümmert um das Treiben der Menschlein da unten in den niederen Menschenhütten!

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 462-473.
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