Sechszehntes Capitel

[171] Oswald war vor einigen Stunden in Grünwald angekommen. Der frühe Herbstabend brach bereits herein, als er sich auf der Chaussee der alten Stadt näherte. Die hohen Thürme dämmerten wie Ossianische Riesenleiber durch den wogenden grauen Nebel; Nebel zog auf den tiefen Wiesen zwischen der Chaussee und dem Meere; Nebel wallte auf der weiten Wasserfläche zwischen dem Festlande und der Insel.

Oswald hüllte sich fröstelnd dichter in seinen Mantel und drückte sich in die Ecke des Cabriolets. Was wollte er in Grünwald? Er wußte es selber nicht. Auch die kleinen von den Nordoststürmen kahlgefegten Bäume an der Westseite, die an seinem dumpfen Blick in öder Monotonie vorüberhuschten, wußten es nicht; auch die starkknochigen Postgäule, die von der Nässe triefend, vornübergebeugten Kopfes mechanisch dahintrotteten, wußten es nicht; auch der alte, schnauzbärtige Conducteur, der vor lieber langer Weile eine Passagierliste zum hundertstenmale aus der Seitentasche herausholte und durchblätterte, wußte es nicht. Es wußte es eben Keiner, es hätte denn die Krähe sein müssen, die sich im Walde verspätet hatte und jetzt einsam und melancholisch über den Postwagen weg zur Stadt zog und im Nebel verschwand.[171]

Einsam und melancholisch! und doch durfte sie sicher sein, in den Thürmen der altersgrauen Kirchen, auf den langen Dächern der hohen Giebelhäuser eine Schaar von Brüdern und Schwestern zu finden, die sie mit heiserem Gekrächz willkommen heißen würden; und irgendwo ein Mauerloch, in welchem sie über Nacht, während der kalte Nachtwind durch die Schalllöcher und um die Schornsteine pfiff, von dem sommerlichen Leben im grünen Tannenwalde behaglich träumen konnte. Wer aber harrte seiner in der ganzen öden Stadt? wo sollte er einen Ruheort finden?

Und die Bäume tanzen immer gespenstiger an dem Wagen vorüber; und die Gäule schütteln immer ungeduldiger die schweren Kummete, und der Nebel ballt sich immer dichter und finsterer zusammen, und durch den dichten, finstern Nebel schauen trübäugig einzelne Lichter, und jetzt schlägt der Huf der müden Pferde auf das Pflaster, und jetzt rollt der Wagen über die Zugbrücke, durch das enge Thor in die engen, winkligen, schlechtgepflasterten Straßen der Stadt und hält vor dem Postgebäude still. Die plötzliche Ruhe nach dem viele Stunden lange Klappern, Schütteln und Stoßen ist unendlich süß für den, welcher das Ziel seiner Reise erreichte, und unbeschreiblich unheimlich für den, dessen Reise kein Ziel hatte, oder dem das erreichte Ziel kein erwünschtes ist. Er möchte, das Klappern, Schütteln und Stoßen begönne von Neuem, und es klapperte, schüttelte und stieße ihn weiter und weiter, von allen Menschen weit in die ewige Nacht.

Ein ödes, unwohnliches Gemach; zwei eben angezündete Kerzen auf dem Tisch vor dem Sopha; ein Koffer auf dem Gestell, eine Hutschachtel auf dem Stuhl daneben; rings umher Stille, nachdem der Tritt des Kellners auf dem langen, schmalen Corridor verhallte – Oswald fand diese Situation wenig dazu angethan, einen Melancholischen heiter zu stimmen. Er beeilte sich, aus dem Gemache und aus dem Hause zu kommen.

Es war ursprünglich seine Absicht gewesen, Franz aufzusuchen, den einzigen in Grünwald, von dem er eines herzlichen[172] Empfanges, eines freudigen Willkommens versichert sein durfte; aber er gab diese Absicht bald wieder auf und wanderte ziellos und zwecklos durch die Straßen. Er hatte sich niemals eben sehr heimisch gefühlt in Grünwald; aber so wildfremd, wie heute, war ihm die Stadt selbst in den allerersten Tagen seines ersten Aufenthalts nicht erschienen. War es nur die Folge seiner düsteren Stimmung, war es der dunkle, neblige Abend – er erkannte die Straßen, die Plätze, durch die er doch schon so oft gewandert war, gar nicht wieder, und wenn er sich wirklich an Dies oder Jenes zu erinnern glaubte, so war es nur, wie man in einem Traum Unbekanntes und Weites, Nahes und Fernes chaotisch durcheinander mischt. Endlich gerieth er in eine der Straßen, die nach dem Hafen führen. Hier war er mehr zu Hause, denn der Hafen mit seinem Gewimmel von Booten und Schiffen, seinem Meerdunst und Theergeruch, seinen monoton klingenden Matrosenliedern und rastlos klopfenden Hämmern und Beilen und knirschenden Sägen war ihm der liebste Punkt der Stadt und das beinahe tägliche Ziel seiner Spaziergänge gewesen.

Aber auch an dieser sonst belebtesten Stelle der alten Hansestadt war es heute Abend öde und todt. Hier und da schimmerte durch ein Kajütenfenster ein Licht; dann und wann erscholl von dem Verdeck eines Schiffes das Bellen eines Hundes oder der heisere Ruf eines Matrosen – sonst Nacht und Schweigen überall.

Er wanderte auf dem weit in's Meer hineingebauten Damme, an welchem nach der Seeseite zu Fahrzeug neben Fahrzeug ankerte, bis zu der äußersten Spitze. Hier stand er, in dumpfes Brüten und Sinnen versunken, lange Zeit und schaute mit untergeschlagenen Armen in die dichte Finsterniß hinaus, die auf dem Meere lagerte, und horchte auf das leise, gleichförmige Plätschern des Wassers, das unter ihm unaufhörlich an den Quadern des Dammes leckte und züngelte. War, was da vor ihm lag, sein vielgeliebtes Meer, auf dem sich seine Träume, seine Hoffnungen so oft dem Fluge der Möven gewiegt hatten? war es der dunkle Abgrund,[173] in den seine Hoffnungen und Träume wie die Schätze eines gescheiterten Schiffes auf immer unwiederbringlich gesunken waren?

Drüben, jenseits der schwarzen Wasserwüste, lag die Insel, so nah und doch so fern, wie die Zeit, die er dort verlebte, die kurze Spanne Zeit, die Alles umschloß, was er von Glück und Frieden je im Leben gekannt hatte. Ein Fährboot, das von der Insel herüberkam, fuhr dicht an der äußersten Spitze des Dammes, auf der er stand, vorüber. Er hörte das taktmäßige Eintauchen der schweren Ruder in's Wasser und das eigenthümliche dumpfe Kreischen derselben gegen die Pflöcke; er hörte die verworrenen Stimmen der nächtigen Passagiere.

Er ging in die Stadt zurück, und kam über den Marktplatz. Er blieb vor dem Hause stehen, in welchem Berger gewohnt hatte. Es war kein Licht in den Fenstern. Er konnte bei dem Schein einer Laterne sehen, daß die grünen Jalousien geschlossen waren, wie in einem Hause, in welchem der Besitzer gestorben ist. Von dem Thurm der Nicolaikirche tönten die feierlichen Accorde eines Chorals, mit dem man, alter Sitte gemäß, in Grünwald allabendlich um neun Uhr dem dahingeschwundenen Tag Lebewohl sagt.

Oswald hörte zu, bis der letzte Ton verklungen war. Er dachte an den Tod und an das große Geheimniß, welches das Grab nicht erschließt, sondern nur noch dunkler macht, und wie glücklich doch die Menschen sein müßten, die in dem Glauben an den Heiland und Erlöser ihre Zuversicht finden.

Das langgezogene Heraus! des Postens vor der Hauptwache riß ihn aus seinen Träumereien. Eine quäkende Stimme kommandirte: Gewehr auf! Gewehr ab! Helme ab zum Gebet! Frömmigkeit auf Commando – Herzensergießung nach dem Paragraphen des Wachtdienstes! In einem wohlgeordneten Staate muß Alles geregelt sein.

Warum bist du, sprach Oswald weiter bei sich, während er nach dem Thore schritt, nicht ein Pedant unter Pedanten, da dir das Schicksal nun einmal mißgönnt, unter Römern ein[174] Römer zu sein? Weshalb sträubst du dich gegen den Kamm, über den sich alle diese guten Schafe geduldig scheeren lassen? Du könntest es ja doch auch bequemer haben, wie Andere! Es mag sich Alles in Allem, gar nicht so schlecht in dem Großvaterstuhl eines Amtes, wie Berger es ausdrückt, sitzen; die Schlafmütze einer Würde mag vor manchem Rheumatismus, der einen sonst aus der windigen Welt anweht, schützen, und wer ein tugendsam Weib hat, der lebt noch einmal so lange, und wenn er dann nun doch endlich gestorben, so blasen sie hoch vom Thurm, daß die ganze Stadt es vernimmt und für das Heil seiner Seele betet.

Ueber ihm rauschten die Bäume, mit denen die Vorstadtsstraße, in welcher die Pensionsanstalt des Fräulein Bär lag, besetzt war. Der Nachtwind hatte die Nebeldecke zerrissen und die Sichel des zunehmenden Mondes schwankte durch die gespenstisch flatternden Wolken. Ein Reiter jagte nach der Stadt zu an ihm vorüber. Das Thier schnaufte und die Funken sprühten. Im nächsten Moment hallte der Hufschlag auf dem Pflaster schon dumpf und fern, wieder lauter und wieder dumpfer und verhallte endlich ganz. »Gewiß Jemand, der nach dem Arzt reitet – ein Gatte vielleicht, dessen Frau in Kindesnöthen, ein Vater vielleicht, dessen einziger Sohn im Sterben liegt.« – Oswald dachte an die Nacht, in welcher Bruno starb, und an den grausigen Ritt über die Haide von Grenwitz nach Faschwitz. Wenn Bruno am Leben geblieben wäre! Es war Oswald, als würde dann Alles anders gekommen sein; als wäre er erst durch den Tod des vielgeliebten Knaben so grenzenlos arm geworden; als hätte er mit ihm gegen eine Welt in Waffen ankämpfen können. Mit ihm und für ihn! Für Bruno wäre ihm kein Opfer zu schwer gewesen, selbst nicht das Opfer seiner Liebe zu Helene. Bruno, aber auch nur ihm, hätte er das schöne Mädchen gern und willig gegeben. Gegeben? was hatte er denn zu vergeben? er, der Bettler?

Da stand er vor dem Hause, welches er suchte, und lehnte sich an das eiserne Gitter des Gartens. In dem Hause war[175] kein Fenster mehr erleuchtet. Die Bewohnerinnen mußten schon zur Ruhe gegangen sein. Er dachte an die Sommernächte, wenn er im Park von Grenwitz stundenlang nach dem offenen Fenster mit den heruntergelassenen Vorhängen emporschaute, aus dem die Töne des Claviers durch die stille, weiche Luft zu ihm herüberwehten; und dann noch stundenlang, wenn das Licht hinter den rothen Vorhängen erloschen und die Musik verstummt war, zwischen den Beeten und unter den Buchen des Walles auf und nieder wandelte, manchmal bis der erste Purpurstreifen des Frühroths den östlichen Horizont säumte und die Vögel in dem dichten Gezweig über ihm schlaftrunken zu zwitschern begannen.

Ein Windstoß sauste durch die beiden hohen Pappeln rechts und links von der Pforte und zischelte unheimlich in den dürren Blättern. In dem Hause klappte ein Fensterladen – ein Hund in einem Nachbarhause begann zu heulen.

Oswald schauderte, wie im Fieber. Die momentane Aufregung nach einer langen Fahrt im Postwagen war vorüber; er fühlte sich matt und krank. Er knöpfte seinen Ueberrock fester zu und wandte sich, in die Stadt zurückzukehren. Ein Wagen kam ihm im schnellsten Rollen entgegen. Ein Reiter mit einer Laterne in der Hand sprengte vorauf – derselbe wohl, der vorhin, wie toll, durch die schwarze Nacht in die Stadt gejagt war.

Sollte es wohl Doctor Braun sein, der da fährt? – der Gedanke, den Freund möglicherweise nicht zu Haus zu treffen, erweckte in Oswald den Wunsch, ihn zu sehen und zu sprechen. In wenigen Minuten – denn die Entfernungen in Grünwald sind nicht eben bedeutend – stand er vor dem Hause, welches ihm vom Kellner als Franz' Wohnung bezeichnet war. Das Mädchen, welches die Hausthür öffnete, sagte, der Herr Doctor sei nebenan beim Geheimrath; er sei des Abends stets beim Geheimrath. Oswald erfuhr, daß Herr Bemperlein im Salon sei – Bemperlein, der Einzige, mit Ausnahme des alten Baumann, der von seinem Verhältnisse zu Melitta wußte, der Einzige, vor dessen Begegnung er zurückbebte, dessen[176] vorwurfsvoller Blick – im Fall er von den letzten Ereignissen noch nicht unterrichtet war – ihm gleicherweise peinlich sein mußte.

Auf der Straße besann er sich erst, daß sein Fortgehen, nachdem er einmal dagewesen war, geradezu unerklärlich und lächerlich sei. Das verstimmte ihn womöglich noch mehr, als er es schon war. Er hätte sich am liebsten in den Tiefen der Erde verbergen, im Schlaf das Elend des Lebens vergessen mögen? Im Schlaf? weshalb nicht im Wein, wenn der Schlaf nicht zur Hand ist? »The best of life is but intoxication,« sagt Lord Byron und dort, wo die einsame Laterne in der düstern Halle zwischen den Steinpilastern hervordämmert, ist der Eingang zum alten Rathskeller. Hinab die lange breite Treppe mit den niedrigen Stufen, hinab in den Bauch der Erde, wo man nichts fragt nach Gefühlen, die das Herz schwer, und nach Gedanken, die den Kopf wirbeln machen.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 171-177.
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