Der tückische Postwagen

[48] Als Morgenlied pfiff ein Knecht eine Polka, gegenüber im Tenn des Heupalastes, von dessen Dache die Täuberiche gurrten. Dann geschah vom Stalle her ein Poltern und Wiehern, begleitet von melodischem Schellengeläute. Immer neue Glockenspiele stampften heran, in allen musikalischen Farben, bald mit geschüttelten Akkorden, bald mit leise bewegten Einzelgesängen. Und all das Klingeln erzählte Reisemärchen von blauen Bergen und abenteuerlichen Dörfern, in mutiger Schnellfahrt zurückgelegt unter wettsegelnden Wölklein.

»Was ist für Wetter?« erkundigte sich Hansli gähnend.

Gerold schlug argwöhnisch die Augen auf. Die Fensterläden waren geschlossen, so daß es ziemlich dunkel um ihn herum war. Aber oben, hart unter der Zimmerdecke, kreuzte eine Schar Fliegen in scharfen Wendungen aneinander vorbei, und in den Winkeln des Zimmers war es nicht düsterer als in der Mitte, das waren verheißende Zeichen. Als er vollends den schmalen Lichtstrahl zwischen den Fensterläden nicht weiß, sondern gelb sah, verkündete er kühn und bestimmt: »Schönes Wetter.«

»Falsch!« verbesserte Hansli, »ich höre, wie es regnet.«

»Das ist der Brunnen«, urteilte Gerold.

Hansli sprang aus dem Bett und öffnete die Läden. Ein Schwall goldenen Lichtes stürzte durchs Fenster, und gegenüber auf den Ziegeln der Scheune lag ein steifer, rechteckiger Sonnenschein, das Dach halbierend.

Aber etwas noch viel Schöneres lag auf ihren Nachttischlein: Schokolade. Woher die kam, hätten sie leicht erraten, wenn sie gewollt hätten; allein sie wollten nicht raten, aus Besorgnis, der Stolz möchte ihnen sonst verbieten, das Geschenk anzunehmen.[49] Deshalb begnügten sie sich lieber mit der Tatsache und aßens anonym. Derweilen blieben sie liegen, in den Sonnenschein auf dem Scheunendache starrend; der Sonnenschein starrte ihnen ebenfalls entgegen, darüber ermüdeten ihre Augen und schützten sich mit den Lidern.

Bis die fröhliche Tonleiter der Kaffeelöffel auf den Untertassen tänzelte, da sprangen sie hops aus den Betten.


Man hatte den drei Kameraden ein besonderes schmuckes Tischlein im Herrenzimmer gerüstet. Auf diesem prangte in einem geblümten Napfe blonder, sandkörniger, in Zöpfen geflochtener Honig; daneben, in feuchte Weinrebenblätter gehüllt, ein künstlich gestempelter Butterbarren, einen Bären schildernd, der auf einem schrägen Blumenstengel lechzend berganschritt. Während sie sittig um den Tisch herumsaßen, als hätten sie miteinander einen Ferienaufsatz zu ergrübeln, erlitt Hansli einen Rückfall ins Examinatorische. Ob man Brot mit einem d oder einem t schreibe, prüfte er das Mädchen. Sie besann sich ein Weilchen und antwortete dann, solange das Brot frisch und weich sei, schreibe man es mit einem d, wenn es aber alt und hart werde, mit einem t.

»Das ist eine ebenso unehrerbietige wie ungenügende Antwort«, rügte Hansli, »Gesima, du erhältst ein ›schwach‹ in der Orthographie.«

Während dessen guckte ihr Gerold schelmisch in die Augen, da er sich erinnerte, daß sie ihm im Traume eine Woge Wasser ins Gesicht gespritzt hatte.

Als das so fortdauerte, klopfte sie ihm mit dem Löffel auf die Finger. »Trink!« mahnte sie. Da trank er geschwind die Tasse aus.

Aber jetzt fiel ihm wieder ein, wie er sie gestern abend beim Schopf gepackt hatte, und aus Wehmut darüber schaute er ihr abermals in die Augen, um zu erfahren, ob sie es ihm wohl nachtrage. »Iß!« rief sie, und stahl ihm sein Butterbrot.
[50]

Die Türen standen offen zum Empfang der Morgenluft, welche von weitem herkam und würzige Grüße aus fremden Gauen mitbrachte. Drüben in der Bauernstube zog ein Trüpplein Knechte und Mägde ein; ihre heißen Körper und frohen Gesichter zeugten von rüstiger Früharbeit, nüchternen Mutes auf freiem Felde vollbracht. Wie sie so einer um den andern mit roten Backen, glänzenden Stirnen und schweißglitzernden Armen bedächtig in die kühle, schattige Stube traten, war es anzusehen, als ob jeder von ihnen sechs Quadratfuß Sonnenschein und ein paar Eimer Luftessenz um sich hätte.

Zuhinterst, um einen halben Kopf größer als die übrigen, rückte Therese an, aufrecht und zufrieden, in den langen, blaßblonden Zöpfen blaue Bänder, in den Augen Siegesleuchten, in den Scheitelhaaren ein paar Flocken Heu: man spürte es ihr an, daß sie die Lerchen hatte jubeln hören. Sie kam zu den Kindern ins Gastzimmer. Zunächst wünschte sie ihnen einen guten Tag und erkundigte sich, ob sie wohl geruht und gefrühstückt hätten, und ob ihnen nichts mangle. Dann entschuldigte sie die Abwesenheit ihres Vaters; er habe nach Sentisbrugg fahren müssen, schon in der Frühe, vor sechs Uhr; er lasse sie aber herzlich grüßen und ihnen eine glückliche Reise wünschen. Hierauf sah sie ins Leere und ließ endlich einen langen eigentümlichen Blick auf den Buben ruhen.

»Es hat eine Änderung in Sentisbrugg gegeben«, sagte sie in gedämpftem, fast ehrerbietigem Tone zu ihnen, als ob sie zu Erwachsenen redete, »habt ihrs erfahren?«

Und auch Gesima schaute die Knaben scheu an.

»Was für eine Änderung?« fragten diese.

Therese blickte auf den Boden. »Nun, ihr werdets noch immer früh genug vernehmen; genießt nur unbefangen eure letzten Ferientage und seid fröhlich, es ist euer heiliges Recht. – Wohin mit dem Gerold, Hansli?«

»Nur ein wenig auf Entdeckungen ums Haus herum«, antwortete[51] Hansli, »Gesima, du bleibst hier; dich können wir nicht brauchen.«

»Ihr dürft euch aber nicht mehr zu weit entfernen«, mahnte Therese, »denn in einer starken halben Stunde kommt die Post. Und da habt ihr es dann nicht wieder mit einem langmütigen Privatwagen zu tun, der euretwegen einen halben Tag auf dem Fleck wartet, sondern mit einem obrigkeitlichen Fahrplan, der auf niemand Rücksicht nimmt; da geht es strikte nach der Uhr.«

Das mit der Entdeckungsreise ums Haus war nur ein Vierteil der Wahrheit: ein Komplott gegen Gesima heckte Hansli. Kaum hinter den Pappeln bei der Scheune angelangt, hielt er still und zog Gerold ins Vertrauen, indem er sich eng an ihn anschmiegte, um ihn besser zu überzeugen. »Wir wollen suchen«, flüsterte er, »daß wir beide auf den Bock oder auf das Postdach zu sitzen kommen, und Gesima ins Innere des Wagens, dann sind wir sie bis Bischofshardt los.«

Gerold gab keine Antwort, sondern brummte nur.

»Das Allerschönste wäre«, fuhr Hansli fort, »wenn sie den Postwagen verfehlte; freilich müßte man hiefür ein Mittel finden, sie aus dem Haus herauszulocken. Wenn wir ihr zum Beispiel angäben, im Garten wären Himbeeren? Was meinst du?«

Wiederum begnügte sich Gerold mit Brummen. – »Aber ist denn das wirklich schon die Post, dort in der Klus? es ist doch noch viel zu früh.«

Hansli spannte den Blick; er sah weiter und schärfer als sein Bruder. »Bewahre, es ist ja bloß ein einziges Pferd, und gar kein Wagen dahinter.« Plötzlich tat er einen Luftsprung: »Ein Dragoner!« schrie er.

Ärgerlich verwies ihm Gerold die unbesonnene Meldung. Er war durch die Erfahrung gewitzigt; ihm war durch tausend schmerzliche Enttäuschungen der Glaube an leibhaftige Soldaten, geschweige denn an Dragoner, in der gemeinen Alltagswirklichkeit längst abhanden gekommen. Eher noch an den[52] Osterhas glauben als an Dragoner. Ach Gott, wie viele hundert Male hatte er vor Zeiten beim Gepolter jedes Rumpelkarrens gemeint, eine Trommel zu hören, beim Aufschein eines bunten Frauenhutes einen Tambourmajor zu sehen. Und hernach die grausame Enttäuschung! Lieber ein für allemal die Hoffnung aufgeben. – Und doch! Diesmal sieht es wirklich von fern einem Dragoner gleich, es glitzert etwas auf dem Kopf des Reiters, wie ein wahrhaftiger Helm, und etwas an seiner Seite wie eine Säbelscheide. Wenn der Hansli recht hätte! O Bangigkeit, o Hoffnung! Jetzt fragt sichs bloß, hat er Epauletten, hat er einen roten Streifen an den Hosen, einen roten Halskragen? Ja, ja, ja, kein Zweifel mehr, ein leibhaftiger Dragoner. Aber wohin der wundersame Schmetterling schwenken wird, wenn er vollends aus der Klus hervorkommt? seitabwärts in den Gau? oder herwärts nach der Friedlismühle? Atemlos verfolgten ihre Blicke jede Bewegung des Pferdes. Jetzt ist er an der Kreuzung, nun wird sichs entscheiden. »Er kommt.« »Nein, er biegt ab.« »O weh, verloren! er reitet nach dem Gau.«

»Nach!« schrie Hansli.

»Nach!« bestätigte Gerold stöhnend.

Und wie hungrige Wölfe setzten sie sich in Galopp, unbekümmert um die abmahnenden Rufe, die hinter ihnen dreinliefen, um sie zurückzuholen. Der Dragoner trabte scheinbar ganz langsam; trotzdem vergrößerte sich stetig der Zwischenraum, statt sich zu verringern, und schon begann ihnen der Atem auszugehen. Allein es gibt hiezulande Wirtshäuser am Wege; nicht unmöglich, daß er irgendwo absteigt und einkehrt. Dann ist aber auch der Galopp nicht nötig, der Trab tuts auch; also gingen sie in Trab über; und der förderte sie beinahe ebenso flink; abgesehen davon, daß er den Atem weniger in Anspruch nahm. Immer kleiner wurde der fliehende Reiter; nur noch wie ein rotes Schäfchen leuchtete er von Zeit zu Zeit zwischen den Bäumen auf. Aber täusch ich mich? mir scheint, das Schäfchen bleibt gleich[53] groß und behält beständig ein nämliches Häuschen neben sich. »Er sitzt nicht mehr auf dem Pferde«, meldete der scharfsichtige Hansli. Folglich war er abgestiegen, und das Häuschen mußte eine Schenke sein. Also fielen sie mit neugestärktem Mute wieder in Galopp.

Er saß wirklich in der Schenke, der Ersehnte, man konnte seinen Raupenhelm durchs Fenster erblicken; und sein Pferd stand an einem Pfosten angebunden vor der Tür. Nun begannen sie die Liebeswerbung, nicht ohne Zuversicht und Selbstbewußtsein. Sie waren ja doch nicht die ersten besten Buben, sondern Kadetten, sie trugen Uniform mit goldenen Knöpfen, Gerold sogar mit Granaten auf den Knöpfen, sie konnten einen Säbel und eine Patrontasche vorweisen, sie durften sich mithin ein wenig als seine Kameraden betrachten; gewiß wird er ihnen einen freundlichen Gruß, vielleicht gar, o Wonne, ein holdes Wort gönnen. Es galt bloß, sich ihm bemerkbar zu machen. Darum stolzierten sie in militärischer Haltung vor dem Fenster auf und ab, warfen sich in die Brust, hüstelten, sängelten, streckten sich auf den Zehen. »Zeig deinen Säbel«, riet Hansli, »vielleicht macht das Eindruck.« Also zog Gerold den Säbel und salutierte damit vor dem Fenster. Als auch das nichts fruchtete, kletterte Hansli am Sims in die Höhe, um den schwarzen Roßhaarschweif auf seinem Tschako wirken zu lassen.

Jetzt kroch eine mürrische Alte, verdrossen wie das Regenwetter, aus der Haustür. Was sie wollten, fuhr sie die Buben unwirsch an, mit mißtrauischer Miene.

»Nichts; nur den Dragoner ansehen«, antwortete Hansli kleinlaut.

»So kommt ehrlich und rechtschaffen in die Stube«, bellte sie, »und trinkt einen Schoppen Wein, wie sichs gehört, aber nicht wie die Bettler vor dem Wirtshaus herumstreichen ohne einzukehren.«

»Wir trinken keinen Wein.«[54]

»Dann schert euch vom Fenster weg!« und verschwand mit einem Blick des Hasses und der Verachtung.

Nun richteten sie ihre Werbungen an das Pferd, in der Hoffnung, auf diesem Umwege die Gunst des Reiters zu erschmeicheln; liebkosten dem Gaul den Hals, das Maul, das Kreuz, wagten sogar ab und zu den Sattel und die Steigbügel anzurühren, bescheiden, mit heiliger Scheu. Ob dieser Beschäftigung erleuchtete den Gerold ein gescheiter Einfall. Er erinnerte sich gelesen zu haben, ein Freier pflege seine Geliebte mit heimlichen Geschenken zart zu überraschen, Blumensträußen und dergleichen. Einen Blumenstrauß besaß er leider nicht, wohl aber den Fünffrankentaler vom Götti Statthalter. Den schob er nun mit feinfühliger Gebärde behutsam in den Pistolenhalfter des Sattels.

Da schoß der Dragoner mit dem Kopf aus dem Fenster wie der Teufel aus einer Schachtel. Was sie an seinem Gaul zu schaffen hätten, wolle er wissen; der gehöre ihm, nicht ihnen. Darauf nannte er den einen einen Lausbuben, den andern einen Saububen und beide zusammen zwei Krötenbuben. Und wenn sie sich nicht sofort packen, werde er herauskommen und sie bei den Ohren nehmen.

Also mit Schimpf abgefertigt, trabten sie wieder von dannen, niedergeschlagenen Mutes, mit hangenden Köpfen. Neben der Schande der verschmähten Liebeswerbung quälte den Kanonier noch das nutzlos verschwendete Silberstück; nicht sowohl der Verlustschaden selber, als die Gewissenssorge, ob er mit der Dahingabe eines geschenkten Gutes nicht etwas Unrechtes begangen habe, eine Versündigung gegen das achte Gebot: ›Du sollst nicht stehlen.‹ Eigentlich gestohlen war das ja nicht, allein man hatte ihnen ja in der Schule so eindringlich bedeutet, daß die zehn Gebote eine viel größere Tragweite hätten, als ihr Wortlaut zu sagen schien; kaum daß man sich unvorsichtig bewegte, so hatte man sich gegen eines der bösen Zehn versündigt. Zum mindesten hatte er sich einer leichtsinnigen Verschleuderung[55] schuldig gemacht; mithin war er ein Vergeuder wie der verlorene Sohn. »Gelt, du erzählst es keinem Menschen«, bat er seinen Bruder, nachdem er ihm, ohne den Geschwindlauf zu unterbrechen, seine Missetat bekannt hatte. Das gemeinsame Mißgeschick erweichte des Bruders Herz, so daß er ihm unverbrüchliches Schweigen gelobte.

»Wenn wir jetzt nur nicht zu allem noch die Post verfehlen!« seufzte Gerold und drängte zu verdoppelter Eile.

Waren sie weit gelaufen! Die Strecke wollte kein Ende nehmen. »Dort kommt die Post!« ertönte Hanslis Schreckensruf. Richtig, ungefähr zehn Minuten von ihnen entfernt erschien der Postwagen aus der Klus und schwenkte, ihrer verzweifelten Zeichen ungeachtet, nach der Friedlismühle, zwischen den Bäumen verschwindend.

»Zu spät!« jammerten ihre Herzen.

Gerold stellte den Lauf ein und hielt dem Bruder eine Ansprache: »Jetzt nur eines nicht: nur ja nicht hitzig nachlaufen, nachdem es doch einmal zu spät ist; das wäre das Unvernünftigste, was ein Mensch in solchem Fall tun kann. Denn sonst geschieht unfehlbar folgendes: sowie der Postwagen merkt, daß man ihm nachläuft, bleibt er absichtlich stehen, bis man ihm ganz nahe gekommen ist, dann auf einmal fährt er im letzten Augenblick höhnisch davon, und je mehr man sich darüber ärgert, desto mehr freut es ihn. Den Gefallen wollen wir ihm nicht tun. Also nur ganz ruhig und gemächlich im Schritt gehen, es kommt auf das nämliche hinaus.«

Das leuchtete dem Infanteristen ein, und so zogen sie langsam im Schritt weiter, froh, dem tückischen Postwagen seine boshafte Schadenfreude zu vereiteln.

Bald konnten sie ihn von weitem sehen, den abgefeimten Reisekasten, wie er neben der Friedlismühle stille hielt, mit harmloser Miene, als ob er auf sie wartete.

»Trau ihm nur nicht, dem falschen Fritz!« warnte Gerold,[56] »laß dich nicht fangen! er spekuliert einzig darauf, daß wir ihm nachrennen, dann fährt er augenblicklich fort, darauf kannst du dich verlassen.« Und zum Trotz verlangsamten sie nochmals ihre Schritte.

Und immer, immer hielt er noch auf dem Fleck, der Hinterlistige, wie angenagelt, so daß sie ihm, wie zögernd sie auch schlendern mochten, trotzdem stetig näher und näher rückten. Über diese Standhaftigkeit beschlich sie Verwunderung, und in der Verwunderung saß die Hoffnung. »Weißt du, was ich glaube«, rief Gerold, »wenn wir laufen wie der Blitz, so kommen wir trotz allem noch rechtzeitig, aber so schnell als du nur kannst.« Und mit gewaltigen Sprüngen begannen sie einen Hetzlauf zu rennen. Da tönte ein Posthorn und klatschte eine Peitsche, und wackelnd reiste der Postwagen in die Weite.

»Siehst du ihn jetzt, siehst du ihn, den gelben Salamander, den verschmitzten?« knirschte Gerold, »was habe ich dir gesagt? Sobald wir anfingen zu rennen, so lachte er mit dem Schwanze und trottelte höhnisch davon. Wären wir ruhig im Schritt weitergegangen, so hätten wir ihn überrascht.« Und in seiner Wut schleuderte er dem heimtückischen gelben Betrüger seinen Säbel nach.

Hansli spottete über diese ohnmächtige Strafexekution. »Du bist genau so verrückt wie Xerxes, als er das Meer peitschen ließ.« Gesagt, und warf seine Patrontasche hinter dem Säbel drein.

»Das eine Gute ist immerhin dabei«, tröstete Hansli, »jetzt sind wir wenigstens der Gesima los und ledig.«

»Wieso?«

»Weil sie mit der Post davongefahren ist.«

Die Tatsache mußte Gerold als wahrscheinlich zugeben, allein einen merklichen Trost verspürte er nicht darin; eher fast das Gegenteil. Ob sie gleich nur ein Mädchen war, so hatte er sich halt schon ein wenig an Gesima gewöhnt, und mit einem Male kam ihm die ganze Welt langweilig und dumm vor.[57]

»Und was jetzt weiter?« fragte Hansli.

»Mir einerlei«, knurrte der Kanonier.

»Nach meiner Meinung gehen wir einfach zu Fuß nach Bischofshardt.«

»Mir einerlei.«

»O weh, da kommt die Therese, paß auf, jetzt gibt es eine Strafpredigt.«

»Mir einerlei.«

Es gab keine Strafpredigt, bloß eine milde Frage um Aufschluß über ihr rätselhaftes Verhalten. Warum sie so langsam im Schneckentempo angerückt wären, wie wenn sie es absichtlich darauf angelegt hätten, die Post zu verfehlen. Zehn lange Minuten sei es ihr gelungen, den Postillon hinzuhalten, aber länger habe sie es nicht verantworten können. Was sie jetzt beginnen wollten? Das kleine Fräulein wäre der Ansicht, sie könnten alle drei zusammen zu Fuß weiter; sie habe selber schon zweimal den ganzen Weg von Bischofshardt nach Schönthal zu Fuß gemacht. »Also, wenn ihr einverstanden seid –«

»Ja, ist sie denn nicht mit der Post fortgefahren?« fragte Gerold.

»Sie wollte durchaus nicht ohne euch einsteigen. Dort steht sie auf der Treppe.«

»Schöne Geschichte, schöne Geschichte! die Post verfehlt!« spottete Gesima, indem sie die beiden Hände mit gespreizten Fingern erhob.

Darauf machten sie sich alle drei auf den Weg.

»Glückliche Reise«, rief ihnen Therese nach. »Wollt ihr nicht noch etwas zum Essen mitnehmen, ein paar Birnen oder Pflaumen? oder sonst etwas?«

»Nicht nötig. Und vielmal Dank für alles.«

Quelle:
Carl Spitteler: Gesammelte Werke. 9 Bände und 2 Geleitbände, Band 4, Zürich1945–1958, S. 48-58.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon