Die Regimentstochter

[96] War das ein Fest! Pfeilschnell und glatt durch den Forst getragen wie auf einer Eisbahn, ohne einen Ruck, auf dem weichen Kutschersitz, hoch über der Erde, auf halber Höhe der Bäume, an welchen noch die glitzernden Regentropfen hingen! Und wie er mit den Beinen ausgriff, der Braune, feurig, als ob er mit Pulver geladen wäre und nur auf den Zunder wartete, um zu explodieren! Aber sonderbar sah er aus, so von der Kutscherperspektive betrachtet: wie eine Gitarre mit zwei Ohren zum Aufdrehen und mit den Zügeln als Saiten. Ob wohl ein Pferd aus dieser Perspektive, genau so gezeichnet, wie mans sieht, noch als ein Pferd würde erkannt werden, fragte sich Gerold.

Dann ging es ans Betteln. Sie möchten ebenfalls ein wenig leiten dürfen, oder wenigstens die Geißel halten! Der Seppli schnitt ein bedenkliches Gesicht. Das Gevatterspielen mit Zügel und Geißel, meinte er, wenn einer nichts davon verstehe, sei ein gefährliches Vergnügen mit dem Braunen; ohnehin hitzig wie der Teufel – »nicht umsonst hat ihn der Dolf gekauft!« – habe er obendrein noch Hafer gepickt. »Zwar, wenn ihr sehr, sehr vorsichtig sein wollt und mir aufs Wort gehorchen und die Zügel ruhig halten und die Geißel nur brauchen, wenn ichs erlaube, so könnte mans ja versuchen, unter dem Vorbehalt, daß ihr mir augenblicklich die Leitung zurückgebt, sobald ichs verlange.« Hiermit überreichte er unter fortwährenden Mahnungen und Anweisungen dem Hansli behutsam die Zügel.

Ha! das nenn ich einmal einen Unterricht! Wenn man solche Stunden und solche Lehrer in der Schule hätte! das wäre eine Hochzeit! was meinst du, Gerold? Es war auch erstaunlich,[97] welche Wunder der Regierungskunst man von da oben auszurichten vermochte! nur ein klein, klein wenig die Daumen gerückt, so nahm das ganze Fuhrwerk einen andern Weg, und zwar genau dahin, wohin man gewünscht hatte. Jetzt bekam Gerold sachte die Geißel zugelangt, hinten herum: »Aber ums Himmels-Heilandswillen nicht damit fuchteln oder fackeln, aufrecht halten und ruhig wie eine brennende Kerze, und nur gebrauchen, wenn ichs befehle, und dann bloß sachte die Haut streifen, etwa so wie ein Fischer die Angelschnur übers Wasser zieht, und ja an keine andere Körperstelle als aufs Kreuz. So, jetzt kannst du ihm einmal sanft aufs Kreuz tupfen, aber sanft, sage ich, wie Watte auf einen bösen Finger.« O Seligkeit! Kaum berührte die Spitze des tänzelnden Zwickes das Rückenfell, so verdoppelte sich urplötzlich, doch ruhig die Schnelligkeit der Reise, als wäre ein gezähmter Blitzfunken dem Braunen in den Leib gefahren.

Inzwischen begann hinter ihnen in der Versenkung des Wagens Gesima an ihr Dasein zu erinnern. Zunächst als Einleitung hüstelte sie. »Tu, als wenn dus nicht hörtest«, riet Hansli dem Bruder. Dann kam ein Potpourri aus der Regimentstochter. Gerold seufzte, der schönen alten Zeit vor Weidenbach gedenkend, blieb aber fest. Hernach verlauteten Selbstgespräche, mit nachdrücklicher Stimme geredet, fürs Publikum. Sie werde zum Kadettenball weiße Stiefelchen anziehen, verkündete sie, und ihre Bernsteinhalskette. Jetzt horchte Gerold mit einem Ohr nach hinten; dabei geriet jedoch seine Geißel in flunkernde Bewegung, so daß ihm das Geißelrecht vom Seppli aberkannt wurde.

Dann kam ein Rezitativ, frei die Tonleiter bergauf und bergab: »Von dem Postwagen will Gesima nichts sagen, und wie die Soldaten Gerold und Hansli daneben geraten.« Dem Rezitativ folgte eine Polka: »Stammt auch vom Storch der Kanonier, darüber zu spotten hat keine Manier.« »Laß dich nur nicht fangen«, mahnte Hansli, »sie will dir bloß schmeicheln. Denk an die Fabel von Odysseus und den Sirenen.« Zur Strafe dafür kam dem Hansli[98] ein Marsch auf den Rücken getrommelt. Fuchswütend drehte er sich um. Durch diese Drehung steuerte er aber das Fuhrwerk quer über die Straße, weshalb ihm nunmehr vom Seppli das Recht der Zügel abgesprochen wurde.

Danach blieb es ein Weilchen still. Dann ertönte ein leises, klägliches Wimmern. Mitleidig schaute sich Gerold um. Da steigerte sich das Wimmern zum Weinen. »Ach Gott!« stöhnte Gerold und stieg ohne weiteres, den Seppli als Schwungbrett und Geländer benützend, zu Gesima in die Wagenwiege hinunter, setzte sich an ihre Seite und tröstete sie, indem er mit dem linken Arm ihren Leib umfaßte und mit der andern Hand ihr übers Gesicht und über die Knie strich. Nun hörte sie auf zu weinen, Gerold aber blieb vorsorglich neben ihr sitzen für den Fall eines neuen Schmerzensausbruches.

Darüber war er scheints ein wenig eingenickt, denn wie er aufsah, saß Gesima nicht mehr neben ihm, sondern neben dem Seppli, sicher mit den Zügeln kutschierend, wie eine Fee im hirschbespannten Muschelwagen, während das Milchgesicht, der Seppli, ihr vergnügt zuschmunzelte, als ob man ihm Mehlbrei ums Maul geschmiert hätte. »Auch gut«, dachte Gerold, »so habe ich besser Platz«, und legte sich bequem auf den Rücken, aufwärts nach dem Himmel in die Wetterwolkensäule starrend, die wie der schiefe Turm von Pisa schräg gegen die Sonne wuchs und sie schon fast verschlungen hatte, und so schwarz, daß man meinte, es müsse ein weißer Pfau kommen und daran vorüberfliegen. Bis ihm der Schlummer die Augenlider zudrückte.


Plötzlich tat der Wagen einen harten Ruck, und wie Gerold aus dem Schlaf emporschreckte, war der Wagen ganz am Rande der Straße, und Seppli stand auf dem Boden neben dem Pferde, das er mit gestemmten Fäusten am Zaum hielt. Ein prachtvoller Adjutant, schmuck wie aus einer Weihnachtsschachtel, es fehlte[99] bloß die Holzwolle, kam herangesprengt. »Oskar«, grüßte Gesima fröhlich und klatschte in die Hände. »Mein Vetter«, erklärte sie den Buben. »Mama kommt mit dem Wagen«, rief ihr der Adjutant entgegen. »Haltet Ihr den Braunen auch gut?« wandte er sich zum Seppli. »Keine Gefahr, ich bin bloß zur Sicherheit abgesprungen.« Dann sprengte Oskar im Galopp einige hundert Schritt zurück, Zeichen mit dem Säbel winkend; und kam bald an der Seite eines zweispännigen Wagens wieder, des nämlichen Wagens, den sie gestern in Schönthal gesehen hatten, aber ein Diener saß neben dem Kutscher und eine schöne Dame im Wagen: die Reiterin aus dem Bilde, das Gerold beim Narrenstudenten gesehen hatte.

»Mama!« jubelte Gesima. Der Diener hob erst Gesima herunter, dann die beiden Buben. »Kommt«, mahnte die Dame freundlich, nachdem Gesima neben ihr Platz genommen, »sonst werden wir alle miteinander naß, es donnert schon.« Und Gesima winkte einladend. Da stiegen sie munter ein, der Wagenschlag tat sich zu, und fort ging es im Saus, sanft talabwärts zwischen Landhäusern, Gärten und Kapellen, einer großmächtigen Stadt mit glitzernden Türmen und Zinnen entgegen.

Schon waren sie unten in der Talmulde angelangt und erblickten das Stadttor, da – sehe ich recht? ist es ein Traum? – kam seitwärts vom Felde her eine Schwadron Dragoner geritten! nein, wahrhaftig, leibhafte Dragoner! eine ganze Schwadron! farbenleuchtend, helmfunkelnd! und siehe dort auf einem Parallelwege eine zweite! und hinter ihnen im fahlen Gewittersonnenschein noch andere Reiterhaufen, ein unermeßlicher paradiesischer Reichtum! Auf ein Fingerzeichen der Dame hielt der Wagen still, am Rande der Straße, und die ganze märchenhafte Kavalleriemasse (– »ein Regiment!« erläuterte Gerold) begann, auf die Landstraße schwenkend, an ihnen vorüberzurauschen. Die Rosse rieben sich aneinander, daß die Säbelscheiden klirrten, die helmgeschmückten Dragonerköpfe, je nach[100] dem Tanz der Hufe, juckten auf und nieder, und hie und da versuchte – o Wonne! – ein widerspenstiges Pferd sich zu bäumen und auszuschlagen.

»Ein Oberst!« jauchzte Gerold. – Doch was ist das? wie darf sie das wagen? Gesima winkte, weiß Gott, die Unverschämte, dem Oberst mit dem Taschentuch! Der Oberst aber, statt sich darüber zu er zürnen, machte ein freundliches Gesicht und kam in kurzem Galopp gegen den Wagen gesprengt. »Papa! Papa!« rief Gesima. »Mein Mann«, erklärte die Dame. Da schauten die Kadetten einander mit großen Augen an – »Gesima hat einen Oberst zum Vater!« – und betrachteten das Mädchen mit scheuen Blicken, wie ein überirdisches Wesen. »Seid ihr alle drei wohl und gesund?« fragte der Oberst in herzlichem Tone. Dann ritt er vorüber. Gleich darauf erscholl ein fröhlicher Trompetermarsch, und mit klingendem Spiel fuhr der Wagen in stolzem Zuge, Dragoner vorn, Dragoner hinten, durchs Stadttor.

In einer stillen Seitenstraße, vor einem ernsten grauen Palaste wurde angehalten, Gesima mit ihrer Mama verschwanden in der Tür, die Kadetten wurden von zwei schwarzbefrackten Dienern eine breite teppichbelegte Treppe hinaufgeleitet, an einem majestätischen indigoblauen Vorhang vorüber, hinter welchem man erwartete, Wallenstein hervortreten zu sehen, in ein feierliches Gastzimmer. Dort wurden sie weiblichen Dienstboten überantwortet. Ein Bad nach dem langen Marsch auf der heißen, staubigen Landstraße würde ihnen gewiß wohltun, meinte die eine von ihnen, die Frau Landammann wäre der nämlichen Ansicht. Also wurden sie in eine marmorne Badestube geführt und, nachdem ihnen die Brause, der warme und der kalte Kran erklärt, die Seife und jedem sein Handtuch gezeigt worden war, allein gelassen.

»Eine fatale Geschichte«, meinte Gerold, wie sie im dampfenden Wasserbecken lagen, »denn nicht zu leugnen, wir sind mit Gesima ein bißchen grob umgesprungen.«[101]

»Nicht unsere Schuld«, trotzte Hansli, »warum hat man uns verschwiegen, daß sie eines Obersten Kind ist?«

»Ja, was ist er nun überhaupt eigentlich, ihr Papa, Oberst oder Landammann?« fragte Gerold. »Eine dumme Frage«, antwortete Hansli, »er kann ja Landammann und Oberst zugleich sein. – Wenn es nur mit einer Strafpredigt abgeht, und ihr Papa uns nicht bei der Lehrerversammlung verklagt!«

Doch Gerold glaubte weder an eine Lehrerversammlung noch an eine Strafpredigt. »Nach meiner Meinung gibt es Großmut mit Verzeihung, das Schlimmste von allem, denn dann müssen wir uns fürchterlich schämen.«

Als sie wieder im Gastzimmer erschienen, wurden sie von der Frau Landammann mit herzlicher Miene empfangen. »Ich danke euch«, sagte sie, indem sie jedem die Hand reichte, »für den liebenswürdigen Schutz, den ihr gutartigerweise einem wildfremden Mädchen habt angedeihen lassen.«

Traurig blickte Gerold zu Boden und schüttelte den Kopf. »O nein, Frau Landammann, Gesima hat gelogen; wir sind nicht gutartig und liebenswürdig gewesen, grob und bös sind wir gewesen.«

Da streichelte sie ihm freundlich die Wangen. »Wir sind sämtlich keine fehlerlosen Engel, Gesima auch nicht. – Beiläufig eine nebensächliche Frage, sie enthält keinen Vorwurf und entspringt nicht dem Mißtrauen: Wo bist du die zwei Stunden lang allein gewesen, Gerold, während Hansli und Gesima im Althäusli zu Mittag aßen?«

»Im Wald mit dem Narrenstudenten.«

»Das ist nicht gerade die empfehlenswerteste Gesellschaft, was du freilich nicht wissen konntest. Nun, wir wollen froh sein, daß alles so gut abgelaufen ist und daß ihr alle drei gesund und wohlbehalten da seid; es war eine etwas abenteuerliche Reise. Ich glaube, ihr werdet mit Gesima noch große Freunde werden. Und mit dem Kadettenball, Gerold, bleibt es, wie du mit Gesima abgemacht[102] hast, ich genehmige euer Versprechen von Herzen. Jetzt aber kommt essen, Gesima kommt später, sie kleidet sich um.«

Obschon es noch nicht einmal völlig Abend war, wurde es auf einmal so dunkel, daß man eigentlich Licht hätte anzünden müssen; man sah kaum, was man aß. Plötzlich krachte ein steinharter Donnerschlag, der sie alle miteinander von den Sesseln aufjagte, und damit ging ein prachtmäßiges Gewitter los, mit ununterbrochenen Donnersalven aus allen Himmelsgegenden, begleitet von einem sündflutlichen Platzregen, der aus unerschöpflichen Wasserpaketchen die Dächer dampfend überschüttete. Mitunter fegte ein Blitz, statt schräg von oben, waagrecht durch die Gasse, ähnlich dem Fintenstreiche eines weißglühenden Riesendegens; dann überpurzelten sich aus den aufgeschlitzten Wolkenbäuchen die Regenströme mit verdoppelter Wucht, obgleich man schon vorher geglaubt hatte, jetzt heiße es tutti fortissimo. Ob dieser kräftigen Tafelmusik wurde den Kadetten, welche anfänglich ein wenig schüchtern getan hatten, so heimelig zumute, daß sie auftauten, herzhaft zulangten und dem Pudding tüchtig die Meinung sagten.

»Warum sollten wir nicht die gesunde Luft hereinlassen?« rief der Oberst, als der Donner fernwärts abgrollte und der Platzregen gleichmäßiger und senkrechter niederfiel. Da stellten sich die Buben ans offene Fenster, streckten die Köpfe hinaus, daß ihnen die Tropfen auf die Nase spritzten, und sangen aus Leibeskräften: »Guter Mond, du gehst so stille«. Sie möchten doch lieber das Lied vom guten Kameraden singen, lachte der Oberst, da sie doch auf der Reise so treu zusammengehalten hätten. Das taten sie. Dann kam die Frau Landammann und fragte, ob sie vielleicht das Lied ›Heimat, Heimat über alles‹ wüßten, das höre sie so gerne.

Hansli zuckte verächtlich die Achseln: »Das haben wir schon in der zweiten Klasse gehabt.« Hierauf sangen sie ihr das Lied. »Bitte noch einmal, falls ihr nicht etwa zu müde seid.« Und als[103] sie es wiederholt hatten, mochte sies zum drittenmal hören. Dabei hielt sie aber das Taschentuch vor die Augen und seufzte, so daß Gerold sich wunderte, warum jemand ein Lied, das ihn doch traurig mache, öfter hören wollte. »Was ist das eigentlich, Heimat?« fragte er.

Der Oberst antwortete: »Wenn man einmal weit, weit weg ist.«

Diese Antwort verblüffte ihn, er hatte gedacht, eher das Gegenteil.

Unterdessen hatte sich der Regen erschöpft, und an mehreren Stellen guckte das frischpolierte Himmelsblau zwischen dem schmutzigen Gewölk hernieder. »Das bedeutet Glück«, sagte der Oberst, »und wenn ihr Geduld haben könnt – könnt ihr Geduld haben?« »Ja« – »so gibt es eine Überraschung.« Dann rückte er zwei Stühle vor den Kamin, Front gegen den Feuerherd. »Setzt euch. Guckt nur fest in den Kamin – aber daß ihr euch ja nicht umdreht!! – bis ich klingle.« Hiermit verzog er sich mit seiner Frau ins Nebenzimmer, die Tür anlehnend. Die Buben aber guckten aus Leibeskräften in den Kamin.

»Was meinst du?« flüsterte Hansli, »was gibt es wohl für eine Überraschung? am Ende eine böse?«

»Warum nicht gar, es gibt überhaupt keine bösen Überraschungen.«

»Sie schreiben beide etwas im Nebenzimmer, der Oberst und seine Frau, ich habe es durch die Türspalte gesehen. Ich habe doch Angst.« Da wurde die Tür geschlossen. Nun starrten sie gewissenhafter in den Herd und enthielten sich überflüssiger Gedanken. Während dessen kam ein Sonnenstrahl zu ihnen zu Gast, der Stahlreif des Kohlenfängers begann zu glänzen, der goldene Spiegelrahmen zu leuchten, der Gabelschweif des ausgestopften Auerhahns erhielt einen blaugrünen Pfauenschweif gemalt, und die Kristallflasche daneben sprühte Kronen und Diamanten.

Unvermutet schellte die erlösende Klingel. Und wie sie aufsprangen, stand der Oberst mit seiner Frau hinter ihnen. »Hier[104] habe ich einen Brief geschrieben«, sagte er, »lest die Aufschrift.« Sie lasen: ›An Herrn Hauptmann Guggenbühler in Aarmünsterburg‹. »Und ich auch einen«, ergänzte die Frau Oberst. Sie lasen: ›An Frau Hauptmann Guggenbühler in Aarmünsterburg‹. »Und dieses kleine Briefchen hat Gesima gekritzelt.« Sie lasen: ›An Herrn und Frau Hauptmann Guggenbühler in Aarmünsterburg‹. – »Was darinsteht«, lächelte der Oberst geheimnisvoll, »wird euch die Regimentstochter verraten.« Und mit dem Finger winkend, führte er sie, auf den Zehen schreitend, ins Gastzimmer, dessen Balkontür flügelweit offenstand. »Kadettenbataillon Aarmünsterburg, vorwärts marsch!« rief er mit schallender Kommandostimme und schob sie auf den Altan.

Wer stand auf dem Altan? Gesima! Als Regimentstochter verkleidet, auf der Stirn ein impertinentes Mützchen mit einer Hahnenfeder, um den Hals, zum Zeichen ihrer militärischen Heldeneigenschaft, ein Miniaturfäßchen aus Schokolade an goldenen Zuckerbäckerfäden. Auf einer Art Estrade stand sie, gerade unter dem Regenbogen, als wollte sie ihn als Springseil benützen; und in der rechten Hand hielt sie einen ziselierten Degen, den sie so weit als möglich von sich wegstreckte, wie wenn sie befürchtete, er könnte losgehen.

Kaum betraten die Brüder den Altan, so gab sie sich durch Stirnrunzeln ein tyrannisches Ansehen und kommandierte, während sie mit dem Degen eigensinnig auf das Geländer klopfte, in die Straße hinunter: »Adjutant Oskar Wildstrubel! Sapperment, wo bleibt denn der Faulpelz von Adjutant?«

Da klirrten Sporen, der Adjutant von heute nachmittag schnellte vor den Balkon, salutierte mit dem Säbel und fragte: »Zu Befehl! was beliebt Ihrer Exzellenz der Regimentstochter?«

Gesima sägte mit ihrem Degen bedrohlich über das Geländer und schnauzte mit erboster Majorsstimme: »Alle Bomben und Granaten von Sevilla, aufgepaßt, Oskar! Wir Anita Maria Septuagesima, die Regimentstochter, im Namen unseres Vaters, des[105] Landammann Oberst Weißenstein in Bischofshardt, wollen hiemit und befehlen, daß der Kanonier Gerold Guggenbühler von Aarmünsterburg, desgleichen der Infanterist Hansli Guggenbühler mit nichten übermorgen in der Schule zum Appell einrücken, sapperlot, sintemalen dieselben die ganze folgende Woche bis Samstag abend anhiero in Ferien bleiben werden, sappermost, damit wir uns lustig machen, Donnerwetter!« Und mit dem Worte ›Donnerwetter‹ pflanzte sie den Degen energisch in einen Geranientopf.

»Soll pünktlich geschehen, Euer Exzellenz«, antwortete Oskar, salutierte abermals und verschwand.


Gesima aber stieg von der Estrade herab und begab sich, an Hansli vorbei, der freudebesessen auf- und niedertanzte wie ein tollgewordener Gummiball und die hinzugeschenkten Ferientage an den Fingern abzählte, zu Gerold hinüber, hielt in bescheidener Haltung vor ihm still und fragte ihn mit den Augen, ob er jetzt mit ihr zufrieden und gänzlich versöhnt sei. Gerold, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt, zog ein finsteres Denkergesicht, musterte das heroische Maidlein vom Kopf bis zu den Füßen, und wieder von den Füßen bis zum Kopf, dann verkündete er mit der lautesten Stimme, die er aufbrachte, freudig und überzeugt: »Es tut mir leid«.[106]

Quelle:
Carl Spitteler: Gesammelte Werke. 9 Bände und 2 Geleitbände, Band 4, Zürich1945–1958, S. 96-107.
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