28.

[258] Einer meiner bedeutendsten Zeitgenossen, ein Mann, der in der Kirche und im Staate eine große Rolle spielt, hat uns heute (Januar 1822) bei Frau von M*** von den großen Gefahren erzählt, die er in der Schreckenszeit durchgemacht hat.

»Ich habe das Unglück gehabt, zu den bekanntesten Mitgliedern der Nationalversammlung zu gehören; solange für die gute Sache noch etwas zu hoffen war, hielt ich mich in Paris so gut wie möglich versteckt. Als dann die Gefahren wuchsen und die fremden Mächte sich zu keinem energischen Schritt zu unseren Gunsten aufrafften, faßte ich den Entschluß, abzureisen, mußte es aber ohne Paß tun. Da alle Welt nach Koblenz ging,[258] wollte ich über Calais fliehen. Mein Bild war aber in jenen anderthalb Jahren so verbreitet worden, daß ich auf der letzten Station erkannt wurde. Trotzdem ließ man mich weiter. Ich gelang nach Calais und blieb in einer Herberge, wo ich, wie leicht erklärlich, die ganze Nacht kein Auge zutat, und zwar recht zu meinem Glücke, denn etwa um vier Uhr früh hörte ich deutlich meinen Namen nennen. Ich stand auf und beim Ankleiden erkannte ich trotz der Dunkelheit Nationalgardisten mit Gewehren, denen man das Hoftor öffnete und Einlaß in den Hof zur Herberge gewährte. Glücklicherweise regnete es in Strömen; es war ein ganz dunkler, sehr stürmischer Wintermorgen. Die Dunkelheit und das Rauschen des Windes ermöglichten mir, mich hinten durch den Hof und den Pferdestall zu retten. So stand ich ganz hilflos um sieben Uhr morgens auf der Straße.

Ich nahm an, daß man mich von der Herberge aus verfolgen würde. Ohne recht zu wissen, was ich tat, eilte ich zum Hafen und auf die Reede. Ich gestehe, ich hatte etwas den Kopf verloren. Immer schwebte mir die Guillotine vor Augen.

Im Hafen lag ein Paketboot, das trotz des hohen Seegangs gerade auslaufen wollte und bereits zwanzig Ellen vom Hafendamm entfernt war. Plötzlich hörte ich vom Meer her Rufe, als wenn mich einer riefe. Ich sah, wie sich ein kleines Boot mir näherte. ›Vorwärts, mein Herr, man wartet auf Sie!‹ Ganz mechanisch stieg ich in das Boot. Ein Mann war darin, der mir ins Ohr flüsterte: ›Wie ich Sie so verzweifelt auf dem Hafendamm herumlaufen sah, dachte ich mir, daß Sie gewiß ein armer Proskribierter seien. Ich habe gesagt, Sie seien mein[259] Freund, den ich erwarte. Stellen Sie sich seekrank und bleiben Sie in der dunkelsten Ecke der Kajüte!‹«

»Welch ein schöner Zug!« rief die Dame des Hauses atemlos und über die lange, sehr geschickt vorgetragene Geschichte von den Gefahren des Abbés zu Tränen gerührt aus. »Wie dankbar müssen Sie diesem hochherzigen Unbekannten gewesen sein! Wie hieß er denn?«

»Seinen Namen weiß ich nicht,« antwortete der Abbé ein wenig verwirrt.

Einen Augenblick lang herrschte Totenstille im Salon.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 258-260.
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