57.

[271] Ravenna, den 23. Januar 1820


Hierzulande werden die Frauen nur auf das Tatsächliche hin erzogen. Eine Mutter verheimlicht ihrer Tochter von zwölf bis fünfzehn Jahren weder ihren Liebeskummer[271] noch ihr Liebesglück. Bekanntlich halten sich in diesem glücklichen Klima viele Frauen bis ins fünfundvierzigste Jahr vorzüglich und meistens heiraten sie mit achtzehn Jahren.

So sagte gestern die Valchiusa über Lampugnani: »Ja, der war ganz für mich geschaffen, der verstand es, zu lieben ...« und unterhielt sich noch des längeren darüber mit einer Freundin in Gegenwart ihres Töchterchens, eines sehr geweckten Mädchens von vierzehn oder fünfzehn Jahren, das sie auch bei ihren sentimentalen Spaziergängen mit jenem Liebhaber gewöhnlich mitgenommen hatte.

Auf diese Weise eignen sich die jungen Mädchen bisweilen ausgezeichnete Grundsätze für ihr Verhalten an. Zum Beispiel erteilte die Signora Guarnacci ihren beiden Töchtern in Gegenwart zweier Herren, die eben ihren ersten Besuch machten, eine halbe Stunde lang tiefsinnige und durch Beispiele erläuterte Lehren über den Zeitpunkt, an dem man einen Geliebten, der sich schlecht beträgt, durch Untreue strafen müsse.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 271-272.
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