71.

[279] Die Gesetze der Phantasie sind noch sehr wenig erforscht, und auch meine Ansicht, die ich im folgenden entwickle, ist vielleicht falsch.

Ich glaube zwei Arten der Phantasie unterscheiden zu können:

1. Die feurige, stürmische, der ersten Eingebung gehorchende Phantasie, die sich sofort in die Tat umsetzt, die sich selbst verzehrt und die hinsiecht, wenn man sie nur einen Tag zügelt. Die Ungeduld ist ihr Merkmal; gegen Unerreichbares gerät sie in Wut. Sie sieht nur die Außenseite aller Dinge, ist schnell von ihnen begeistert, sie assimiliert sie sich und deutet sie unverweilt zugunsten der eigenen Leidenschaft.

2. Die Phantasie, die sich nur allmählich und langsam erwärmt, dann aber mit der Zeit das Äußere der Dinge nicht mehr sieht und sich schließlich nur mit ihrer Leidenschaft beschäftigt und sich von ihr nährt. Diese Art der Phantasie ist sehr wohl mit langsamem Geiste und selbst[279] mit dem Mangel aller geistigen Fähigkeiten vereinbar. Sie ist der Beständigkeit günstig. Die Mehrzahl der jungen deutschen Mädchen, die an Liebe und Blutarmut hinsiechen, leidet an ihr. Diese traurige Geschichte ist in Italien unbekannt.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 279-280.
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