5. Kapitel

[13] Der Mensch tut von allen möglichen Dingen immer das, was ihm am meisten Vergnügen bereitet. Erst die Erziehung läßt in uns bei schlechten Handlungen das Gewissen schlagen, so daß die Furcht vor diesem Gefühle dem Bösen die Wage hält.

Die Liebe ist wie das Fieber. Sie entsteht und vergeht, ohne daß der Wille Gewalt darüber hat. Das ist ein Hauptunterschied zwischen der Liebe aus Galanterie und der Liebe aus Leidenschaft. Hat die Geliebte wirklich gute Eigenschaften, so verdanken wir das nur einem glücklichen Zufall.

Übrigens ist die Liebe in jedem Lebensalter möglich. Ich erinnere an die Leidenschaft der Frau du Deffant für den wenig anmutigen Horaz Walpole. Vielleicht findet sich dafür auch heutzutage manches andere und vor allem liebenswürdigere Beispiel.

Als untrügliche Beweise großer Leidenschaften lasse ich nur solche mit lächerlichen Folgen gelten. So ist ein Beweis der Liebe die Schüchternheit. Natürlich meine ich nicht die törichte Schüchternheit eines Abiturienten.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 13.
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