Achtundzwanzigstes Kapitel.

[87] Sobald mein Onkel Toby den Plan von Namur erhalten hatte, machte er sich darüber, ihn mit dem größten Eifer zu studiren; denn da ihm nichts so sehr am Herzen lag als seine Genesung, diese aber, wie wir sahen, von den Leidenschaften und Aufregungen des Gemüthes abhängig war so war es[87] natürlich, daß er sich in so weit seines Gegenstandes zu bemächtigen suchte, um ohne Aufregung darüber reden zu können.

Ein vierzehntägiges unablässiges und emsiges Studium, das, nebenbei gesagt, seiner Wunde nicht günstig war, befähigte ihn, mit Hülfe einiger Randglossen unter dem Text und mit Hülfe der aus dem Vlämischen übersetzten Befestigungs- und Feuerwerker-Kunst des Gobesius seinem Vortrage eine ziemliche Klarheit zu geben; und ehe noch zwei Monate vergangen waren, hatte er sich eine solche Beredsamkeit erworben, daß er nicht allein den Angriff auf die vorgeschobene Contrescarpe in größter Ordnung bewerkstelligen konnte, sondern auch, da er unterdeß viel tiefer in die Kunst eingedrungen war, als es zu erst zu seinem Zwecke nöthig schien, sich sogar im Stande fühlte, die Maas und Sambre zu überschreiten, Diversionen bis zu Vaubans Linie, bis zur Abtei Salsines u.s.w. zu machen und seinen Besuchern eine ebenso genaue Darstellung von allen andern Attaken zu geben, wie von der beim St. Nicolas-Thor, wo er die Ehre gehabt hatte verwundet zu werden.

Aber es geht mit dem Durst nach Wissen wie mit dem Durst nach Reichthümern: er wächst, je mehr man ihn zu löschen sucht. Je länger mein Onkel Toby über seinem Plane saß, desto mehr Vergnügen fand er daran, analog dem Vorgange und vermittelst derselben elektrischen Assimilation, wodurch, wie gesagt, die Seelen der Kenner durch Reibung und Anfüllung so glücklich sind, in Tugendseelen, Gemäldeseelen, Schmetterlings- oder Geigenseelen umgewandelt zu werden.

Je mehr mein Onkel Toby aus dem süßen Quell der Wissenschaft trank, um so größer wurde die Heftigkeit und Begierde seines Durstes; und noch war das erste Jahr seiner Krankenhaft nicht vorüber, als es kaum eine befestigte Stadt in Italien oder Flandern gab, von der er sich nicht auf diesem oder jenem Wege einen Plan verschafft hätte, den er dann, kaum erhalten, eifrig studirte; und dazu sammelte er alles, was auf die Geschichte der Belagerungen, Zerstörungen, Erweiterungen und Neubefestigungen dieser Plätze Bezug hatte, indem er es mit unablässigem Fleiße und immer neuer Lust wieder und wieder las, so daß[88] darüber Wunde, Krankenhaft und Mittagsessen vergessen wurden.

Im zweiten Jahre schaffte sich mein Onkel Toby die Uebersetzungen der Italiener Ramelli und Cataneo an, sowie den Stevinus, Moralis, den Chevalier de Ville, Lorini, Coehorn, Sheeter, den Grafen von Pagan, den Marschall Vauban, und Monsieur Blondel, nebst vielen andern Werken über Befestigungskunst – mehr als Don Quixote über Ritterschaft besessen haben würde, selbst wenn der Pfarrer und der Barbier nicht in seine Bibliothek eingebrochen wären.

Ohngefähr im Anfang des dritten Jahres, also etwa im August 99, fand mein Onkel Toby es nothwendig, daß er auch von den Wurfgeschossen etwas verstünde, und da er der Ansicht war, daß es am besten sei, sein Wissen an der Hauptquelle zu schöpfen, so fing er mit N. Tartaglia an, der, so scheint es, zuerst entdeckte, daß es ein Irrthum sei, wenn man glaube, eine Kanonenkugel richte ihre Verheerung in gerader Linie an. – Das, bewies N. Tartaglia meinem Onkel Toby, sei ganz unmöglich.

Das Forschen nach Wahrheit hat kein Ende.

Nicht sobald war mein Onkel Toby über den Weg, welchen die Kanonenkugel nicht nimmt, zufrieden gestellt, als er unmerklich weiter geführt wurde und bei sich beschloß, darüber nachzudenken und ausfindig zu machen, welches denn nun der Weg sei, den sie ginge; dazu mußte er sich mit dem alten Maltus in Verkehr setzen, und er studirte ihn eifrig. Dann ging er zunächst zu Galileo und Torricellius über und fand, gestützt auf gewisse geometrische Lehrsätze, die hier klar bewiesen waren, daß ihr eigentlicher Weg eine Parabel oder vielmehr eine Hyperbel beschreibe, und daß der Parameter oder latus rectum der Hyperbel besagten Weges sich zur Quantität und Bogenweite gerade so verhielte, wie die ganze Linie zu dem Sinus des doppelten Einfallwinkels, der von dem Hintertheil der Kanonen auf einer horizontalen Fläche gebildet werde, und daß der Halbparameter. – Aber halt, lieber Onkel Toby, halt! – keinen Schritt weiter auf diesem dornenvollen und verwirrenden Pfade; ein jeder weitere ist gefahrvoll![89] Gefahrvoll sind die Irrgänge dieses Labyrinthes, gefahrvoll die Beschwerden, welche die Verfolgung dieses lockenden Phantoms, Wissenschaft, über dich bringen wird. O Herzensonkel, fliehe, fliehe, fliehe es wie eine Schlange! Ist es recht, du sanftmüthiger Mann, daß du mit deinem verwundeten Schambeine ganze Nächte lang aufsitzest und dir das Blut mit angreifendem Wachen erhitzest? – Ach! es wird deine Wunde verschlimmern, deine Hautthätigkeit stören, deine Lebensgeister verflüchtigen, deine Lebenskraft aufreiben, deine Säfte austrocknen, dich verstopfen, deine Gesundheit schädigen und die Gebrechen des Alters frühzeitig heraufführen. O Herzensonkel! lieber Onkel Toby! –

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 1, Leipzig, Wien [o. J.], S. 87-90.
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