Einhundertundfünftes Kapitel.

[275] Mein Vater war von seinem Spaziergange nach dem Fischteich zurückgekehrt und öffnete die Thür des Zimmers gerade in dem Augenblicke, als die Attake am heißesten war und mein Onkel Toby eben das Glacis hinaufstürmte. Trim ließ seine Arme sinken. – Noch nie in seinem Leben war mein Onkel Toby so auf seinem Steckenpferde überrascht worden. Ach! lieber Onkel Toby! hätte nicht ein wichtigeres Thema meines Vaters ganze Beredsamkeit in Anspruch genommen, wie würdest Du und Dein armes Steckenpferd es haben entgelten müssen!

Mit derselben Miene, wie er ihn heruntergenommen, hing mein Vater seinen Hut wieder auf; dann warf er einen flüchtigen Blick auf die Unordnung, die im Zimmer herrschte, faßte[275] einen der Stühle, welche dem Korporal als Bresche gedient hatten, stellte ihn vor meinen Onkel Toby hin, setzte sich darauf und brach, als das Theegeschirr weggeräumt und die Thür zugemacht worden war, in folgendes Klagelied aus.


Klagelied meines Vaters.

Es ist vergebens, sagte mein Vater und wandte sich dabei ebenso sehr an Ernulphus' Fluch, der auf dem Kamine lag, als an meinen Onkel Toby, der davor saß, – es ist vergebens, sagte er mit grollender Eintönigkeit, daß ich mich länger gegen diese trostloseste aller menschlichen Ueberzeugungen sträube. – Ich sehe es klar, Bruder Toby, meine eigenen Sünden, oder die Sünden und Thorheiten der Shandy'schen Familie haben den Himmel bewogen, seine schwersten Geschosse gegen mich zu schleudern; das Glück meines Kindes ist der Punkt, auf den er seine ganze Wuth richtet. – Mit solchen Geschossen, Bruder Shandy, sagte mein Onkel Toby, könnte man die ganze Welt in Trümmer schießen. – Unglücklicher Tristram! Kind der Gebrechlichkeit, der Unterbrechung, des Mißverständnisses, der Unbehaglichkeit! Giebt es im Buche der embryonischen Uebel ein Unglück, ein Mißgeschick, geeignet dein Gefüge zu entfügen, deine Fasern zu entfasern, das dein Haupt nicht getroffen hätte? Und da du zur Welt kamest, wie viel Mißgeschick unterwegs, wie viel Mißgeschick seitdem! – Ins Dasein gerufen von einem alternden Vater, zu einer Zeit, wo die Kraft seiner Phantasie und seines Körpers bereits abnahm, wo die Urwärme und Urfeuchtigkeit, die Elemente deiner Mischung, im Erlöschen und Vertrocknen waren, und nichts zur Bildung deines Stoffes übrig geblieben war als Negatives! O, Bruder Toby, wie überaus nothwendig war da jene kleine Nachhülfe, die Sorge und Aufmerksamkeit auf beiden Seiten gewähren kann, – und wie ward Alles, Alles vereitelt! Du weißt, Bruder Toby, worauf ich ziele; es ist zu traurig, es zu wiederholen, wie die spärliche Lebenskraft, die ich noch aufzubieten vermochte, diese Lebenskraft, mit der Gedächtniß, Phantasie, und jede geistige Begabung[276] hätte übermittelt werden sollen, zerstreut, verwirrt, zerstört, zerrissen und zum Teufel geschickt wurde.

Hier nun wenigstens hätte die Verfolgung gegen ihn zum Stillstand gelangen sollen, – hier wenigstens wäre der Versuch zu machen gewesen, ob deine Schwägerin durch Gemüthsruhe und heitere Stimmung, durch strenge Aufmerksamkeit auf ihre Diät, auf ihre Ausleerungen u.s.w. im Verlaufe von neun Monaten nicht Alles wieder in Ordnung bringen konnte. – Auch das wurde meinem Kinde nicht zu Theil! – Wie quälte sie sich und natürlich auch ihre Leibesfrucht mit der unsinnigen Idee, ihr Wochenbett in London abzuhalten! – Ich glaubte, meine Schwägerin hätte sich mit großer Geduld gefügt, entgegnete mein Onkel Toby. Ich hörte von ihr nie ein unwilliges Wort darüber. – Sie tobte innerlich, rief mein Vater, und das, Bruder, war zehnmal schlimmer für das Kind; – und dann, was für Auftritte mit mir, was für Stürme gab es wegen des Geburtshelfers! – Da gab sie nach, sagte mein Onkel Toby. – Nach! rief mein Vater und sah gen Himmel. –

Aber was war das Alles, lieber Toby, gegen das Unrecht, daß mein Kind mit dem Kopf voraus zur Welt kommen mußte, obgleich ich doch so sehnlich wünschte, wenigstens seinen kleinen Helm unzerbrochen und unbeschädigt aus dem allgemeinen Schiffbruch seines Leibes zu retten.

Wie wurde, trotz aller meiner Vorsicht, mein ganzes System mit dem Kinde im Mutterleibe zusammen auf den Kopf gestellt! sein Schädel der Hand der Gewalt überantwortet und ein Druck von vierhundertundsiebenzig Pfund Gewicht so senkrecht auf den Scheitel ausgeübt, daß man jetzt Zehn gegen Eins wetten kann, es muß das feine Netzwerk seines Gehirnes vollständig verdorben und in tausend Fetzen zerrissen sein.

Es wäre immer noch möglich gewesen! Ob Narr, Dummkopf, Rindvieh – nur eine Nase! – Mag er dann aussehen, wie er will, – laß ihn Krüppel, Zwerg, Faselhans – Einfaltspinsel sein: – das Thor des Glückes stünde ihm offen. O Licetus! Licetus! wäre ich nur mit einem Kinde gesegnet worden, so lang wie du, fünf Zoll und einen halben, – ich hätte nichts danach gefragt.[277]

Noch ein Glückswurf, Bruder Toby, noch einer für mein Kind, blieb trotz alle dem übrig – und nun auch noch das: O Tristram! Tristram! Tristram!

Wir wollen nach Mr. Yorick schicken, sagte mein Onkel Toby.

Schick nach wem Du willst, erwiederte mein Vater.

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 1, Leipzig, Wien [o. J.], S. 275-278.
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