2. Die Kirche von Sankt Peter

[132] Hugo saß eines Tages, wie gewöhnlich, in seiner Stube. Es war eben zwölf Uhr. Er war von dem Spaziergange, den er gerne um zehn Uhr vormittags machte, zurückgekehrt, und wollte die anderthalb Stunden, die noch bis zu seinem Mittagsessen übrig waren, wie er es alle Tage tat, mit Rechnen verbringen. Die zwölfte Stunde war in der Stadt die, in welcher man die eingelaufenen Briefe auszutragen beginnt. An Hugos Tür ward gepocht, der bekannte Briefträger trat ein und brachte ein Schreiben. Als der kleine Betrag dafür entrichtet war, ging er wieder fort. Hugo sah gleich, daß der Brief nicht von dem Altknechte seines Vaters sei, dem einzigen Menschen, von dem er Briefe zu empfangen pflegte. Das Schreiben war auf nicht gar feinem, nicht gar weißem Papiere, und der Umschlag trug eine nicht gar schöne Schrift. Hugo erbrach das Siegel und las folgenden Inhalt: ›Wenn Ihr der junge Mann seid, der so wundersam schöne blonde Haare hat, und sie nicht gar zu kurz, aber auch nicht gar zu lange auf seinen Nacken niedergehend trägt, so erfüllet einem alten Manne die Bitte, und seid morgen zwischen zehn und eilf Uhr in der Kirche von Sankt Peter.‹

Der Brief hatte keine Unterschrift, und Hugo hielt ihn[132] verblüfft in seinen Händen. Die Schrift war augenscheinlich die eines Mannes, und zwar eines alten Mannes, wie die festen, starken, aber zitternden Züge verrieten. Allein was der Mann von Hugo wollte, und warum er nicht lieber gleich zu ihm in die Stube gekommen sei, war nicht zu enträtseln.

›Wer weiß, ob ich auch der Mann mit den wundersamen, schönen blonden Locken bin, oder ob es nicht einen andern gibt, der noch wundersamere, schönere und blondere hat‹, sagte Hugo lächelnd zu sich, und wäre bald versucht gewesen, in den Spiegel zu schauen. Aber der Name, auf den der Brief lautete, war der seine. Und in der Tat, die Locken, die an den Seiten seiner Stirne nieder gingen, waren wundersam genug. Wenn blonde Locken kräftig sind und den milden Metallglanz haben, so kann man sich an jungen Menschen kaum etwas Schöneres denken. Hugo hatte darunter eine reine Stirne, Von zwei geistvollen, klaren Augenbogen geschnitten, feines starkes Wangenrot und die Lippen frisch und kräftig, die noch von keinem Menschen dieser Erde, nicht einmal von einem Kinde, geküßt worden sind. Die Augen hatte er von der Mutter, groß und blau. Sie waren so gut, daß, hätten sie sich nicht eben jetzt ins Männliche hinüber verändert, man gesagt haben würde, er hätte sie von einer edlen, schönen Frau empfangen. Überhaupt sah er viel jünger aus, als seine Jahre waren, und er hatte von manchem aus dem Kriegerstande, die er bei seinen Übungen kennen gelernt hatte, und die ihn gelegentlich besuchten, einigen Hohn und Scherz zu erfahren, da sie ihn spottweise nur immer den heiligen Aloisius nannten.

Eben, da er so stand, ließen sich klirrende Tritte durch sein Vorstübchen gegen sein Gemach vornehmen. Er riß den Brief, der auf dem Tische lag, an sich, verbarg ihn in der Tasche, und ward so rot, als hätte er eine Schandtat begangen. Es geschahen ein paar nachlässige Schläge an[133] seine Tür, und ohne Umstände trat der Besuch herein. Es war eben so ein junger Mann kriegerischen Ansehens, wie wir oben von ihnen geredet haben. An den Stiefeln tönten die Sporen. Unter einem rauhen »Guten Tag, Freund« legte er den Hut hin, warf sich in den Armsessel und begann ein Gespräch, das er über den Dienst, über lange Weile, über Theater, Mädchen und Pferde führte. Hugo hörte ihn an und erwiderte manchmal etwas auf höfliche Weise. Als er endlich fragte, ob sich denn gar nichts Neues zugetragen habe, das nur einige Abwechslung in die Zeit bringe, sagte ihm Hugo von dem Briefe nichts, sondern erwiderte, daß sich wahrscheinlich nichts zugetragen habe, was man seiner besondern Aufmerksamkeit wert halten und ihm anvertrauen möchte.

Da Hugos Bekannte schon wußten, daß er sich in seiner gewohnten Einteilung der Zeit nicht irre machen ließe, so trat er auch jetzt an den Tisch und fing auf seinen großen schwarzen Schiefertafeln aus einem Buche zu rechnen an. Der Mann, der zu Besuche da war, nahm seine Pfeife heraus, rauchte, blätterte in einem Buche, und begleitete endlich Hugo aus dem Hause, da dieser den Griffel weglegte und erklärte, daß er jetzt zu seinem Mittagsessen gehen werde. An der Schwelle des Gasthauses, in dem Hugo gewöhnlich aß, trennten sie sich.

Am andern Tage, genau als die Uhr von Sankt Peter zehn schlug, trat Hugo durch das große Tor in die Kirche. Er hatte wohl flüchtig daran gedacht, daß die Bestellung etwa ein Scherz eines seiner Kameraden sein könnte; aber zum Teile stand er mit keinem so, daß dieser Scherz leicht denkbar gewesen wäre, zum andern Teile hatte er sich nichts vergeben, wenn er kam, selbst wenn ein Scherz statt gefunden haben sollte.

Es wurde am Hauptaltare in der Kirche eben eine Messe gelesen, die zu dieser Stunde angesetzt ist. An einem der Seitenaltäre trat gleichfalls ein Priester über. In Stühlen[134] saßen allerlei Menschen herum, andere standen heraußen auf dem Pflaster, wieder andere knieten teils in den Stühlen, teils in den breiten Gängen der Kirche. Hoch oben durch die Fenster wallte ein Sonnenstrom herein und setzte den ruhig erhabenen Raum in warmes Feuer. Hugo war vor sich selber in einiger Verlegenheit, da ihm sein Gefühl sagte, daß er heute nicht aus Andacht in die Kirche gekommen sei; aber da er entschlossen war, den Vorfall nur zum Guten zu benützen, so beruhigte er sich bald wieder. Er stellte sich in die äußerste Ecke zurück, und es war fast noch die Hälfte seines Körpers durch die Schnörkel eines hölzernen Beichtstuhles verborgen, wie sie gerne in der Tiefe katholischer Kirchen zu stehen pflegen. So stand er einige Minuten, und es war ihm, als müßten sogleich alle Augen auf ihn schauen; aber nicht ein einziges tat es, und kein Mensch nahm von seiner Anwesenheit besondere Kenntnis. Die Orgel ging ihren regelmäßigen Gang, und die Melodie des Kirchengesanges wallte sanft durch die Bogen. Es trat ein Kirchendiener zu ihm heran und hielt ihm den Klingelbeutel vor, er warf eine kleine Münze hinein, der Diener dankte, ging zu dem Nachbar, dann zu dem Nachbar des Nachbars, und so weiter – und alles war wieder wie vorher. Hugo blickte nun auf mehrere Personen – aber alle waren in sich selber vertieft. In der Kirche ließ sich nicht das mindeste Zeichen verspüren, daß heute etwas anderes geschehen solle als sonst. Wie es in großen Städten zu geschehen pflegt, traten wohl auch während des Gottesdienstes immer Menschen herein und hinaus; aber sie taten, wie sie alle Tage tun: der eine blieb da, der andere schlug ein Kreuz, tat ein kurzes Gebet und ging wieder. Öfter waren es Mädchen der dienenden Klasse, die einen kurzen Augenblick benützten. Sie setzten den Korb nieder, manche tat ein leichtfertiges Gebet, manche ein brünstiges – dann nahm sie wieder ihre Last an den Arm und[135] ging. Auch Frauen kamen – mancher ward von einem Diener das Gebetbuch nachgetragen – sie setzten sich in einen Stuhl und versenkten sich in ihre Andacht.

Indessen war die Messe aus geworden, und es kam der Segen. Die schöne Weise des Dreimal-Heilig mischte sich mit dem Weihrauch, der nun empor stieg, sich oben mit den Sonnenstrahlen vermählte und von ihnen vergoldet ward. Der Priester wendete sich, segnete mit dem Allerheiligsten, und alle klopften andächtig an die Brust. Es kam noch ein kurzer Gesang, und dann war der Gottesdienst aus. An den Seitenaltären war auch kein Priester mehr, man löschte nach und nach die Kerzen, und die Menge wendete sich zum Gehen, einer nach dem andern. Viele gingen an der Seitentür hinaus, die meisten bei dem Haupttore, und manche mußten an Hugo vorüber, ohne ihn aber zu betrachten. Nur manches schöne Weiberauge, wenn es zufällig auf seine Züge fiel, war betroffen, und ihm gab es jedesmal einen Stich in das Herz. Die Kirche entvölkerte sich endlich ganz, und nur mehr ein paar unscheinbare Personen knieten in den Stühlen, wie überhaupt in einer großen Stadt eine Kirche in keinem Augenblicke des ganzen Tages vollkommen leer zu sein pflegt. Es war so stille geworden, daß er deutlich von außen herein die drei Glockenschläge vernehmen konnte, welche ihm verkündeten, daß bereits drei Vierteile der ihm anberaumten Zeit abgeflossen seien. Hugo wußte nicht, solle er den Rest noch abwarten, oder solle er fortgehen; aber seinem Willen getreu, wollte er bis eilf Uhr harren.

Es war so stille geworden, daß man das Rauschen der draußen fahrenden Wägen herein hören konnte.

In diesem Augenblicke vernahm Hugo neben sich Tritte, es ging ein Mann zu ihm hinzu und sagte: »Ich danke Euch recht schön, Herr, daß Ihr die vermessene Bitte eines alten Mannes erhört habt und gekommen seid.«[136]

Der Mann war in der Tat alt, weiße Haare waren auf seinem Haupte und viele Runzeln im Angesichte. Sonst war er einfach und anständig gekleidet und hatte weiter nichts Auffallendes an sich.

Hugo war etwas unbestimmt über sein von dem nächsten Augenblicke gebotenes Benehmen und schaute den Alten eine kleine Zeit lang an, dann sagte er: »Ich weiß nicht, wenn ich etwa irre, so verzeiht mir – ich habe für den Fall, daß es nötig sein sollte, eine Kleinigkeit zu mir gesteckt.« –

»Ich bedarf kein Almosen und bin keines Almosens wegen hieher gekommen«, sagte der Alte.

Hugo wurde mit einer brennenden Röte übergossen und sagte: »Ihr wollt also mit mir sprechen – so sprecht. Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn wir nicht die Kirche dazu gewählt hätten – wollt Ihr etwa mit mir in meine Wohnung kommen?«

Der Fremde sah Hugo an und sagte: »Ihr seid so gut, als Ihr schön seid, Herr, ich habe mich in Euch nicht geirrt. Aber ich bedarf auch keines Gespräches mit Euch, so wie ich keines Almosens bedarf. Ihr habt mir eine große Wohltat erwiesen, bloß daß Ihr gekommen seid. Ihr werdet das nicht verstehen, aber es ist doch wahr, daß Ihr mir eine sehr große Wohltat erwiesen habt. Ich kann Euch jetzt gar nicht sagen, warum es so ist, und kann Euch nur bitten, wenn Ihr so gut sein wolltet, sofern es Eure Zeit zuläßt, auch in Zukunft noch manchmal um diese Stunde hieher zu kommen.«

»Das ist seltsam,« sagte Hugo, »und was haben denn meine blonden Haare dabei zu tun, daß Ihr eigens auf dieselben aufmerksam gemacht habt?«

»Ich habe Euch nur daran erkannt«, erwiderte der Mann, »und sie sollten bedeuten, ob der, der über dem Schwibbogen wohnt, der nämliche sei, den ich gemeint habe. Sie sind auch sehr schön, und ich habe diese Haare immer[137] geliebt. – Nun, Herr, sagt mir, ob Ihr wohl wieder einmal kommen werdet?«

»Aber könnt Ihr mir denn nicht erklären, wie das alles zusammenhängt?« fragte Hugo.

»Nein, das kann ich nicht,« antwortete der Mann, »und wenn Ihr nicht freiwillig kommt, so muß ich schon darauf verzichten.«

»Nein, nein, ich komme schon«, sagte Hugo. »Wenn es wahr ist, daß ich Euch durch mein bloßes Kommen eine Wohltat erweise, warum sollte ich es nicht tun? Ich verspreche Euch also, daß ich schon wieder einmal um diese Zeit hieher kommen werde.«

»Ich danke Euch recht schön, Herr, ich danke Euch. Ich habe mich gar nicht geirrt, ich habe gewußt, daß Ihr sehr gut seid. Ich will Eure Zeit nicht mehr rauben, und ich will mich jetzt entfernen. Lebt recht wohl, Herr, lebt wohl.«

»Lebt wohl«, sagte Hugo.

Der Alte verbeugte sich, wendete sich um und ging durch das sehr nahe gelegene große Tor der Kirche hinaus. Hugo sah ihm nach und blieb dann noch eine Weile in dem Raume zurück. Die Sonnenstrahlen, die früher durch die Fenster der Kirche herein gekommen waren, waren verschwunden, nur an den Fensterstäben draußen spann es sich wie weißglitzerndes Silber senkrecht nieder, wodurch die schwarzen Bilder und die trübe Vergoldung der Kirche noch ernster und düsterer wurden. Einzelne Menschen saßen oder knieten, wie gewöhnlich, als Beter herum. Hugo wendete sich nun auch und schritt zum Tor hinaus. Draußen ward er von der warmen Mittagsluft des Frühlings, der eben auf allen Ländern jenes Erdteils lag, von blendender Helle und von dem Lärmen des Tages empfangen.

Seit diesem Kirchenbesuche war eine geraume Zeit vergangen, als Hugo wieder einmal zufällig in die Nähe des[138] Gotteshauses von Sankt Peter geriet. Es war gegen zehn Uhr, welches gerade die Zeit war, die, wie wir oben sagten, Hugo gewöhnlich zu seinem Vormittagsspaziergange verwendete. Es fiel ihm ein, daß er jetzt sein Versprechen lösen könnte. Er dachte, der Mann, der ihn so sonderbar bestellt habe, sei wahrscheinlich irrsinnig, aber, dachte er hinzu, das könne doch keinen Grund abgeben, daß man ihm sein Wort nicht halten dürfe. Wenn die Freude, Hugo in der Kirche zu sehen, eine eingebildete ist, so sind es zuletzt alle unsere Freuden auch – und wer weiß, welch glühende, welch schmerzliche oder süße Bilder seiner Vergangenheit gerade die blonden Haare aus seinem Innern hervor heben mögen, weil er sie so eigentümlich in seinem Briefe bezeichnet hat.

Unter diesen Gedanken trat Hugo in die Kirche hinein. Der ruhige Orgelton und der fromme Kirchengesang wallten ihm auch heute wieder gedämpft entgegen. Da er drinnen war, war es eben auch gerade so wie das erste Mal. Der Priester las am Hochaltare die Messe, die andächtige Menge aus allen Ständen und Altern saß zerstreut in den Stühlen herum und sang dieselbe schöne Kirchenweise. Der Diener kam mit dem Klingelbeutel, das Dreimal-Heilig tönte endlich, der Weihrauch stieg, der Gottesdienst wurde aus, und wieder, wie damals, zerstreute sich die Menge. Aber der alte Mann, den Hugo damals gesehen, und mit dem er gesprochen hatte, war heute nicht zugegen gewesen. Hugo wartete, bis die Kirchenuhr von draußen herein eilf Uhr schlug, und als er eine geraume Weile darnach den alten Mann auch noch nirgends sah, ging er wieder aus der Kirche fort, und hatte das Gefühl mit sich genommen, als hätte er eine gute Tat getan. Und es war auch eine, wenn sie gleich die beabsichtigte Frucht nicht getragen hatte.

Hugo war später noch einige Male um zehn Uhr in der Kirche von Sankt Peter gewesen. Zum zweiten Male[139] hatte er den Greis wieder gesehen. Er war auf ihn zugegangen und hatte mit sehr viel Freude in seinen Zügen gesagt: »Ich danke Euch, ich danke Euch recht schön.«

Nach diesen Worten war er wieder hinweg gegangen und hatte wahrscheinlich die Kirche verlassen.

War Hugo das erste Mal nicht gerade aus Beruf in die Kirche gegangen, um einem Gottesdienste beizuwohnen, so wirkte doch nachher die Ruhe der kirchlichen Feier auf sein Herz, und die Freundlichkeit dieses Tempels gefiel ihm so, daß er später noch mehrere Male freiwillig hin ging und andächtig da stand, ja andächtiger als viele andere, die zur Feier des Gottesdienstes gekommen waren. Den Greis aber hatte er nicht mehr gesehen.

Da er nach langer Zeit wieder ein paar Male hinter einander in der Kirche gewesen war und den alten Mann nicht gesehen hatte, würde sich wahrscheinlich die Gewohnheit, gerade zu dieser Zeit in diese Kirche zu gehen, wieder verloren haben, wenn sich nicht etwas zugetragen hätte, das der Sache eine andere Gestalt gab.

Es geschah eines Tages, daß man an dem Kirchenpflaster des Hauptschiffes etwas ausbesserte und deshalb einen Querbalken über den Hauptgang zwischen den Stühlen gezogen hatte. Hierdurch wurde eine alte, schwarz gekleidete Frau, die Hugo schon öfter bemerkt hatte, daß sie immer vorne am Platze gegen den Hochaltar kniete, verschleiert war und fast beständig die letzte, von einem graugekleideten Mädchen begleitet, die Kirche verließ, genötigt, in dem Seitengange der Kirche fast an der Wand derselben zum Tore zurück zu gehen. Hiebei kam sie an Hugo vorüber. Sie hatte heute den Schleier nicht über das Gesicht herab gelassen, und da sie näher kam, bemerkte er, daß aus den alten und altmodisch geschnittenen schwarzen Kleidern, die sich überall ungeschickt bauschten, ein ganz junges Angesicht mit schönen großen Augen blicke. Er war betroffen und sah sie an. Sie sah ihn[140] auch einen Augenblick an, dann zog sie den Schleier herab und ging hinaus. Das grau gekleidete Mädchen ging hinter ihr her. Dasselbe hatte die gewöhnlichen Züge einer Magd.

Hugo blieb noch eine Weile in der Kirche stehen. Wie gewöhnlich zu dieser Zeit verlor sich oben an den Fenstern das Sonnenlicht, und die Kirche wurde viel dunkler, als sie während des ganzen Gottesdienstes gewesen war. Das Gerüste der rohen Balken, die quer zwischen den Stühlen gespannt waren, machte das Ganze noch unwirtlicher. Nach einer Zeit schleppte sich neben Hugo ein Bettler herein und ließ sich von seinen Krücken in einen Stuhl sinken, um zu beten. Hugo reichte dem verkrüppelten Manne eine Gabe und schritt dann durch das große Tor zur Kirche hinaus.

Dies war die Ursache, daß Hugo am andern Tage wieder zur Kirche von Sankt Peter ging. Es schien ihm aber, daß der Zweck, dessentwillen er gekommen war, nicht mehr so gut sei wie bisher; darum ging er nicht in die Kirche hinein, sondern blieb vor dem Tore stehen, und wartete, bis die schwarz verschleierte Gestalt heraus käme. Er meinte, daß er den Ort entheiligen würde, wenn er drinnen wartete; darum blieb er heraußen. Die kirchliche Feier wurde aus, die Men schen gingen anfangs dicht, dann immer seltener heraus, und zuletzt, wie immer, kam die schwarze Gestalt in Kleidern, welche die einer uralten Frau waren. Das Haupt hüllte der Schleier ein. Das grau gekleidete Mädchen folgte, aber es trug nur ein Gebetbuch, nämlich das ihrige; die Gebieterin trug ihr eigenes selber.

Von nun an ging er jeden Tag, statt um zehn Uhr, wie er es ein paar Jahre her gehalten hatte, einen Morgenspaziergang zu tun, um diese Zeit zur Kirche von Sankt Peter und wartete, bis die schwarz gekleidete Gestalt heraus kam. Sie kam auch jedesmal, war jedesmal genau die[141] letzte, und wurde jedesmal von dem grau gekleideten Mädchen begleitet. Ihr Anzug war immer dasselbe altmodische Kleid, und das Haupt war mit dem Schleier verhüllt. Hugo sah sie alle Male an.

So verging eine geraume Zeit, und der Frühling neigte schon gegen den Sommer.

Ob sie ihn auch beobachtete, wußte man nicht; aber wenn sie an seiner Stelle vorüber ging, schien es, als wäre es innerhalb der schwarzen Wolke unruhig.

Bisher war er nur an dem Tore der Kirche gestanden, und wenn nach der Messe, die täglich um zehn Uhr gehalten wurde, die letzte Beterin, die schwarze Gestalt mit ihrem grauen Mädchen heraus gekommen und vorüber war, ging er wieder nach Hause zu seinen Arbeiten. – Einmal aber, da sie langsam in gerader Richtung von dem Tore weg durch das andere Volk fort ging, ging er in sehr großer Entfernung hinter ihr her. Sie wandelte auf den großen, sehr belebten Platz hinaus, ging durch das bunte Gewühl, ihren Weg verfolgend, hindurch, wendete sich in die noch belebtere Gasse, in welche der Platz seitwärts mündete, ging in derselben eine Strecke fort, und bog dann in eine zwar schöne und breite, aber sehr leblose Gasse ein, in welcher viele Paläste und große Häuser stehen, die aber schon anfingen, sehr entvölkert zu sein, weil ihre Bewohner bereits das Landleben suchten. Die meisten Fenster waren zu, und hinter dem Glase hingen die ruhigen, grauleinenen Vorhänge herab. Fast bis gegen die Mitte dieser Gasse folgte ihr Hugo, dann aber wendete er sich um und ging nach Hause.

So wie er an diesem Tage getan hatte, so tat er nun an jedem der kommenden. Weit hinter ihr gehend folgte er ihr, wenn sie die Kirche verlassen hatte, und sah die schwarze Gestalt durch das Gewimmel des Platzes gehen, sah sie durch einen Teil der belebten Gasse schreiten, sah sie in die einsame einbiegen, folgte ihr beinahe bis in die[142] Hälfte derselben, wendete sich dann um und ging nach Hause.

Eines Tages, da sie in der einsamen Gasse ging, sah er, daß ihr ein weißes Blättchen entflatterte. Es war wie ein Bildchen, derlei man gerne in Gebetbücher zu legen pflegt. Weil in der Gasse schier keine Leute gingen, so blieb das von dem nachfolgenden Mädchen nicht bemerkte Blatt liegen, bis es Hugo erreichte, der seine Schritte darnach verdoppelte. Er hob es auf. Es war wirklich ein solches Bildchen. Er ging ihr nun schneller nach, bis er sie erreichte. Dann ging er ihr vor, zog seinen Hut und sagte: »Mir scheint, Sie haben etwas verloren.«

Bei diesen Worten reichte er ihr das Blättchen hin.

Als sich aus den weiten schwarzen Falten die junge Hand hervor arbeitete, um das Blättchen zu empfangen, sah er, daß sie zitterte. Sie sagte noch die Worte: »Ich danke.«

Dann wendete sie sich zum Fortgehen, und Hugo kehrte um.

Er ging an den Häusern der vereinsamten Gasse zurück der oben beschriebenen lebhaften zu. Weit draußen rasselten die Wägen, als wären sie in großer Ferne.

Hugo ging nach Hause, und wie er in seiner Stube saß, war ihm, als sei heute der Inbegriff aller Dinge geschehen, und als sei er zu den größten Erwartungen dieses Lebens berechtigt.

Am andern Tage stand er wieder an dem Tore der Kirche von Sankt Peter. Die Messe war aus, die schwarze, altfrauenhafte Gestalt ging heraus, und er sah sie an. Sie ging wieder ihres Weges, und Hugo folgte wieder von großer Ferne, und wendete wieder in der ersten Hälfte der einsamen Gasse um. So dauerte es längere Zeit.

Einmal aber nahm er sich den Mut – er ging schneller hinter ihr, ging ihr in der einsamen Gasse vor und grüßte sie, indem er den Hut abnahm. Er sah, wie sie den Schleier ein wenig seitwärts zog und ihm dankte.[143]

Dieses geschah nun öfter, und endlich alle Tage. Wenn Hugo in die einsame Gasse einbog, sah er deutlich, wie sie die geliebten Schritte hinter sich schallen hörte, daß sie zögere – und wenn er sie eingeholt und scheu gegrüßt hatte, so zog sie den Schleier empor, und ein sehr süßes Lächeln ging in ihrem Antlitze auf.

Eines Tages, da sie sich wieder grüßten, trat er versuchend etwas näher. Es schien ihr nicht zu mißfallen, sie verzögerte ihren Schritt, und das begleitende Mädchen blieb auch hinter ihr stehen. Er sprach einige Worte, er wußte nicht was – sie antwortete, man verstand es auch nicht; aber beide hatten sie ein neues Gut erworben, den Klang ihrer Stimmen, und dieses Gut trugen sie sich nach Hause.

Der ganze lange, leere Tag war nun übrig.

Wie es das letzte Mal gewesen ist, wurde es nun alle künftigen Male. Eine verschleierte, schwarzgekleidete alte Frau ging jeden Tages gegen elf Uhr vormittags aus der Kirche von Sankt Peter, sie ging über die belebten Plätze, sie bog in die einsame, breite Straße der Paläste ein, und dort trat ein schöner Jüngling auf sie zu. Ihr Schleier legte sich zurück, und ein wunderhaft schönes Mädchenantlitz löste sich aus seinen Falten, um zu grüßen. Dann blieben sie bei einander stehen und redeten mit einander. Sie redeten von verschiedenen Dingen, meistens waren es die gewöhnlichen des Tages, von denen alle anderen Menschen auch reden. Dann grüßten sie noch einmal, und gingen auseinander.

Für Hugo war es eine neue Zeit. Ein Vorhang hatte sich entzwei gerissen, aber er sah noch nicht, was dahinter stand. Das blinde Leben hatte auf einmal ein schönes Auge aufgeschlagen – aber er verstand den Blick noch nicht.

Er arbeitete in seiner Stube. Der Tag hatte einen einzigen Augenblick: das andere war die Vorbereitung dazu, und das Nachgefühl davon.[144]

In dieser Zeit geschah es, daß sich dasjenige in Europa allgemach zu nähern begann, was vor wenig Jahren noch von vielen für eine Unmöglichkeit gehalten worden wäre, und woran manche Herzen doch glaubten und sich darauf vorbereiteten. Die Anzeichen, daß ein Umschwung der Dinge bevorstehe, mehrten sich immer mehr und mehr. Die Stimmen, diese Vorboten der Taten, änderten ihre Worte in Bezug auf das, was bisher immer gewesen ist, und wenn ein neuer Krieg, dessen Anzeichen immer deutlicher wurden, ausbrechen sollte, so war nicht zu verkennen, daß seine Natur eine ganz andere werden würde, als sie bisher immer gegenüber dem gefürchteten, allmächtigen und halb bewunderten Feinde war. Der Haß war sachte und allseitig heran geblüht, und die geschmähte Gottheit der Selbstständigkeit und des eigenen Wertes hob allgemach das starke Haupt empor. Es war damal eine große, eine ungeheure Gemütsbewegung in der Welt, eine einzige, in der alle anderen, kleineren untersanken.

Als die Tage des Sommers vorrückten, lösete sich einmal bei einer der gewöhnlichen Begegnungen Hugos Herz und Zunge. Da die schwarzgekleidete Unbekannte ihren Schleier zurück geschlagen hatte und grüßte, da man einige der gewöhnlichen Worte geredet hatte, sagte Hugo, daß er jetzt sehr wahrscheinlich nicht mehr lange in der Stadt bleiben werde; denn wenn, wie es den Anschein gewinne, ein neuer Krieg gegen den Landesfeind erklärt werden würde, so werde er in die Reihe der Krieger gegen denselben treten, und weil sich wahrscheinlich viele tausend Jünglinge insgeheim zu diesem Ziele vorbereitet haben würden, so sei es vielleicht möglich, daß man den Feind aus den Grenzen werfen und das Vaterland für immer befreien könne. Zu dieser Tat habe er sein Herz und sein Leben aufgespart. Er frage sie, ob sie ihm so gut sein könne, als er ihr es sei – sie möchte sich ihm doch[145] einmal, einmal nennen, wer sie sei – – nein das brauche er nicht – sie möchte ihm nur sagen, ob sie unabhängig sei, ob sie, wenn sie ihn einmal näher kennen gelernt haben würde, ihm folgen und sein Los mit ihm teilen möge – er werde ihr alles darlegen, wer er sei und woher er stamme – nur die Tat der Vaterlandsbefreiung habe er noch mit zu tun, sie könne ja so lange nicht dauern, weil viele hundert Tausende dazu beihelfen würden – er habe einen traulichen Sitz im fernen Gebirge, dorthin würden sie dann gehen. Oder wenn sie abhängig sei, wäre es denn nicht möglich, daß er zu ihrem Vater, zu ihren Angehörigen käme, sich bei ihnen auswiese, von ihnen kennen gelernt würde und dann um sie bäte. Sei sie aber frei und ihre eigene Herrin, wäre er denn nicht würdig, ihr Haus zu betreten? Er meine es treu und gut; so lange er lebe, sei keine Faser an ihm gegen irgendeinen Menschen falsch gewesen. Sie möchte nun, da er geredet habe, auch reden. Diese Worte hatte er eilig gesagt, und sie heftete die sanften Augen auf ihn.

Dann aber sagte sie: »Was das Schicksal will, das muß geschehen. Sucht mich eine Woche lang nicht in dieser Gasse, auch nicht vor der Kirche; Ihr werdet mich anderswo sehen. Kommt über acht Tage, genau am heutigen Tage, um zehn Uhr vor das Kirchentor, dort werdet Ihr Nachricht von mir erhalten.«

Nach diesen Worten sagte sie, halb zu ihrer Begleiterin gewendet: »Dionys wird es machen.«

Dann sprach sie wieder zu Hugo: »Vergeßt nicht, was ich gesagt habe, kommt meinen Worten getreu nach, und lebt jetzt recht wohl!«

Sie wollte den Schleier umnehmen und fortgehen, aber Hugo rief: »Jetzt nicht, nur einen Augenblick noch nicht – – den Namen, nur eine Silbe des Namens!«

»Cöleste«, sagte sie leise.

»Und die Hand, daß wir uns sehen, die Hand, Cöleste!«[146]

Und sie suchte eilig die Hand aus der Kleiderhülle und reichte sie ihm hin. Er faßte sie, und sie hielten sich einen Augenblick.

Dann ließen sie los, sie zog den Schleier herab, er grüßte noch einmal, und beide gingen sie dann ihre verschiedenen Wege auseinander, wie sie sie bisher immer gegangen waren.

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 2, Wiesbaden 1959, S. 132-147.
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