i.

[273] Wenn man von Westerstede nach Burgforde geht und ungefähr vor dem Wirtshause links vom Wege abbiegt, so[273] gelangt man auf eine Viehweide, der man sofort etwas Ungewöhnliches ansieht. Um die Weide stehen neben starken Eichen hochragende Pappeln und breite Kastanien, und auf der Weide selbst befinden sich einige Obstbäume; der Boden der Weide ist etwas hügelig. Diese Weide heißt Wittenheim.1 Früher standen auf derselben drei prächtige Häuser, zu welchen eine grade, ziemlich lange Allee führte. Eins der Häuser war mit einer Uhr versehen, deren Zifferblatt grade vor dem Wege saß, und deren Schlag man in Linswege hören konnte. Der Garten war überaus schön angelegt, am schönsten aber war in demselben eine Grotte, mit bunten Steinchen ausgepflastert und mit Rosen, Geisblatt und anderem Strauch- und Rankenwerk um- und überwachsen. Zu Wittenheim wohnte in der dänischen Zeit ein Rat von Witken, der zugleich Amtmann, Richter und Amtseinnehmer war. Er war ein harter, stolzer Mann und drückte die Eingesessenen nach seinem Wohlgefallen, denn ein höheres Gericht war schwer zugänglich, und der Weg nach Kopenhagen weit. Um seine Besitzung Wittenheim instand zu setzen, mußte das ganze Kirchspiel Hofdienste tun:


To Burgforde dar staht de hogen Poppeln,

Dar geiht dat ganze Kaspeln by in Koppeln.


Einst hatte von Witken Gelüste nach einem Hering, und das zu einer Zeit, wo im ganzen Kirchspiel kein Hering aufzutreiben war. So mußte denn ein Bauer zu Hüllstede mitten in der dringendsten Arbeit einhalten und seinem Amtmann in Hofdienst einen Hering von Oldenburg holen.2 Mit den Bauern zu Hüllstede konnte sich von Witken überhaupt nicht vertragen, und er tat ihnen so viel zuleide und zu Verdrusse, als er nur konnte. Als einmal zwei Knaben aus Hüllstede auf einer Weide, die am Oldenburger Wege lag, die Kühe hüteten, kam ein Jude mit einer Menge Vieh des Weges, um nach dem Oldenburger Markte zu ziehen. Er bat die Knaben,[274] ihm eine Strecke weit das Vieh treiben zu helfen, und bot ihnen 48 Grote, wenn sie bis Blexhaus mitgingen. Die Knaben taten es, allein als sie zu Blexhaus angekommen waren, wollte er ihnen das Geld nicht geben, sondern nötigte sie mit nach Elmendorf, dort wolle er ihnen die 48 Grote auszahlen. In Elmendorf weigerte er sich abermals und vertröstete sie auf Gristede. Aber auch hier zahlte er nicht, sondern verlangte, sie sollten mit nach dem Timper gehen. Im Gristeder Fohrt aber wurden die Jungen ungeduldig; sie verlangten ihr Geld, und als der Jude nicht zahlen wollte, ergriffen sie ihn und prügelten ihn tüchtig durch. Der Jude in seiner Angst stellte sich tot. Die Knaben glaubten wirklich, ihn totgeschlagen zu haben, schleppten ihn über einen Erdwall am Wege und verscharrten ihn im Laube. Als der Jude merkte, daß die Knaben sich entfernt hatten, stand er auf und ging nach Wittenheim zu Witken und verklagte sie, und Witken, da er hörte, daß die Täter Söhne seiner Feinde seien, nahm die Klage an. Die Knaben wurden vorgeladen, leugneten aber die Tat hartnäckig, bis endlich Witken sagte: »Man Jungens, wenn ick in jo Stä wäsen weer, denn harr ick 'n ganz dod un nich halfdod slan.« Da antwortete der jüngere von den beiden: »Wi meenden ok, dat he dod weer!« Durch dieses Wort ward er gefangen, und Witken sprach das Urteil, und zwar ein Todesurteil, über beide aus. Sie sollten mit dem Schwerte hingerichtet werden, und das Schaffot sollte stehen dicht vor des Hausmanns Bunjes Hause zu Hüllstede. Alle Vorstellungen blieben fruchtlos, und von Kopenhagen kam auf den Bericht des alten Witken die Bestätigung des Urteils. Nur das erreichte der Bauer Bunjes, daß das Schaffot nicht vor seinem Hause errichtet wurde; aber er hatte auch eine Reise nach Kopenhagen zum Könige machen müssen, um dies durchzusetzen. Die Hinrichtung ist erfolgt hinter Hüllstede zur Hüllsteder Diele, und alte Leute haben noch die Pfähle von dem Blutgerüste gekannt.3 – Zuweilen war der alte Witken in seinem Zorn fast wunderlich. So war einst ein Stier zu Wittenheim stößig geworden und hatte ein Kind getötet. Da verurteilte[275] der Alte denselben zum Hungertode. Der Stier wurde in Ketten gelegt und bekam keine Nahrung mehr. Als der Hunger sich einstellte, fing das Tier an zu brüllen, aber es blieb dabei, dem Stiere wurde keine Nahrung mehr gereicht, und er mußte Hungers sterben.4 – Dabei führte der alte Witken selbst ein ruchloses Leben. Obwohl er eine angetraute Frau hatte, hielt er es doch mit leichtfertigen Weibern. Einst fischten zwei Leute aus Linswege heimlich in dem Graben, der um Wittenheim war. Es war Nachtzeit und heller Mondschein. Der eine fühlt etwas Schweres im Netze und zieht auf, da sieht der andere, daß ein kleines Kind im Netze liegt. Schnell heißt er den ersten das Netz umkehren, und beide fliehen, sind auch nicht wieder hingewesen nach Wittenheim, Fische zu stehlen. – Der alte Witken hat in eins seiner Bücher geschrieben:


Witkens Stamm stehet fest,

Wenn gleich Sturm und Wetter bläst;


aber der Stamm hat nicht lange gedauert. Der Pastor Köppen, der damals in Westerstede stand, hat das Ende kommen sehen. Als dieser einst nach Linswege fuhr, um die dortige Schule zu besuchen, kam er bei Wittenheim vorbei. Es war Pfingsten, und alles grünte, blühte und duftete aufs herrlichste. Der Pastor ließ halten, stieg vom Wagen ab und sprach nach Wittenheim hin: »Heute blühest du wie ein Lorbeerkranz, aber du wirst verwelken!« Und in der Kirche predigte er eines Sonntags: »Ich erlebe den Tag nicht mehr; aber es sind unter euch welche, meine Zuhörer, die es noch erleben werden, daß von Wittenheim kein Stein mehr auf dem andern sein wird, denn es ist ein Ort wie Sodom.«5 Und er behielt Recht, denn es war unter seinen Zuhörern ein gewisser Schnitker aus Linswege, der als Greis noch die völlige Zerstörung Wittenheims erlebt hat. Übrigens weiß man noch von einem Wahrzeichen. Als einst der Schreiber von Wittenheim von Westerstede nach Hause ging, ließ er sich von einem Manne geleiten. Auf dem Esche sahen sie eine glühende Schlange in der Luft schweben. »Ist das nicht grade über unserm Garten?« fragte der Schreiber, und sein Begleiter mußte es bejahen. Zuerst[276] verging Witkens Stamm. Witken hatte bemerkt, daß ihm Geld aus der Amtskasse gestohlen wurde, konnte aber den Dieb anfangs nicht entdecken. Da bohrte er ein Loch durch die Decke des Zimmers und schaute, wenn er die Zeit passend hielt, vom Boden aus mit einem Auge hindurch. Auf diese Weise gewahrte er einmal, daß sein einziger Sohn an das Fenster in der Nähe des Geldkastens kam, eine Scheibe herausschnitt und mit der Hand hindurch und in den Kasten langte und sich von dem Gelde herausnahm. Der Vater beschloß, seinen Sohn exemplarisch zu bestrafen. Er nahm zwei Feuersteine, spitzte die Kanten zu und zwang seinen Sohn, alle Tage zwei Stunden lang mit bloßen Knien auf diesen Steinen zu liegen, und setzte dies vierzehn Tage hindurch fort. Anfangs ging dies noch; bald jedoch begannen die Knie zu schwellen, und der Knabe mußte die größten Schmerzen aushalten. Der Vater war nicht zu bewegen, die Strafzeit zu kürzen oder die Strafe selbst zu mildern, indem er die Auslegung eines Tuches gestattete. Der Sohn hielt die Strafe aus, und seine Knie wurden wieder geheilt. Aber hernach ist er fortgewandert und auch nie wieder gekommen. Ein einzigesmal hat der Vater einen Brief von ihm erhalten, ohne daß der Sohn seinen Aufenthaltsort darin angab. In dem Briefe stand: »Wenn du mich besuchest, so mußt du zu meiner Linken bleiben und darfst nicht zu meiner Rechten kommen.« – Als der alte Witken gestorben war, wohnte ein Rat Bohlken auf Wittenheim. Auch Bohlken war ein eigener Mann. In seinen freien Stunden trieb er Drechsler- und Tischlerarbeit. Er hat die Pfeiler im Altargeländer der Westersteder Kirche gedrechselt. Einige Zeit vor seinem Tode zimmerte er sich seinen eigenen Sarg zurecht und pflegte fortan in demselben seine Mittagsruhe zu halten. Als einst eine Bauernfrau, die man in sein Zimmer gewiesen hatte, ihn so erblickte, fiel sie vor Schrecken mit einem lauten Schrei in Ohnmacht. Bohlken erwachte und beruhigte sie, indem er sagte: »Es ist ja nur mein Ruhebettlein, in welchem ich lange zu ruhen gedenke.« Nach Rat Bohlken bewohnte ein Jäger das Gut, verließ es aber bald wieder, weil die Gebäude bereits einzustürzen drohten. So stand denn das Gut mit seinem Inventar verlassen da, und schlechte Leute benutzten die Zeit, um von den Sachen zu entwenden, was ihnen gut schien. Als einmal ein gewisser Struß im Begriff war, einen kupfernen Kessel fortzutragen, kamen andere Diebe darüber[277] zu und wollten ihm die Beute abjagen. Da entfloh Struß und lief mit dem Kessel mitten durch den Graben, der das Gut umgab. Seitdem kam in dieser Gegend das Sprichwort auf: »Lik to, lik an, as Struß mitn Kätel.« Die Gebäude fielen nun in der Tat allmählich ein, und zwar stets bei stillem Wetter, wenn eine warme Sonne schien. Endlich tat die Regierung ein Einsehen. Die Trümmer der Gutsgebäude wurden vollends abgerissen, und was von beweglichen Sachen noch da war, in öffentlicher Vergantung verkauft. Manche der letzteren, als Bücher, zinnerne Teller u. dgl., sind daher noch in einzelnen Bauernhäusern der Umgegend zu finden. So ging das Gut Wittenheim zugrunde. (Ausnahmsweise sei daran erinnert, daß vorstehendes Sage und nicht Geschichte ist. Vgl. noch 35g.)

Wegen Hauwiek und Ocholt s. 204h, 615a-o.

1

Die Viehweide ist seit 1890 verschwunden, und sind darauf hübsche Anlagen geschaffen. Auch die Pappeln sind fort, nur die Kastanien stehen noch und eine alte Esche. Reste der alten Gebäude, mächtige Granitsteine, sind bis dahin nicht weggeräumt, sondern erinnern noch an die alte Herrlichkeit Wittenheims.

2

Wenn die Frösche stark quakten, mußten die Eigenhörigen oder Leibeigenen das Wasser schlagen, damit der Junker schlafen könne.

3

Als der eine Junge hingerichtet werden sollte, hat er seinem Vater die Mütze gegeben mit den Worten: »Da Vader, hebt ji min Mütz!« Das Blut ist meterhoch emporgespritzt zum Zeichen, daß die Knaben unschuldig waren.

4

Seitdem sieht man als Spuk bei Wittenheim ein Mädchen auf einen Stier reiten.

5

»Wittenheim wird zur Strafe bei Sonnenschein umfallen«, war der Schluß der Rede.

Quelle:
Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1–2, Band 2, Oldenburg 21909, S. 273-278.
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