Zehntes Kapitel

Die Abschiedsrede

[167] Im Frühherbst erhielt ich auf Empfehlung des Direktors, der durch Zuschanzung von Nachhilfestunden und anderen kleinen Gewinsten um die Mehrung meines Taschengeldes väterlich besorgt war, den Auftrag, die Bibliothek eines verstorbenen Gymnasiallehrers zu ordnen und zu katalogisieren.

Vier Taler und etliche Bücher, die ich mir selbst sollte aussuchen dürfen, waren mir als Belohnung zugesagt.

Mit Feuereifer stürzte ich mich nach dem täglichen Schulschluß in die willkommene Arbeit hinein und kramte in den verwahrlosten Regalen nach Herzenslust, bis die Dunkelheit mich aus dem Hause trieb.

Vor Antritt der Michaelisferien sollte ich fertig sein. Viel Zeit war nicht zu verlieren.

Da kam mir ein Unglück in die Quere, das tief in mein Gemütsleben einschnitt.

Ich war nun in meiner Pension der Älteste geworden und trug für das Gekribbel im Nebenzimmer eine gewisse Verantwortung, die allemal dringlich wurde, wenn ein Streit zu schlichten oder ein Bummel zu rügen war oder wenn ein Unwohlsein nach Beobachtung verlangte.

Und so geschah es eines Morgens, als ich mich gerade zum Schulgange rüstete, daß der kleine Hans Gehrt, ein liebes Jungchen, das in der Quinta saß und still und pflichttreu seine Wege ging, in meine Stube kam und zu mir sagte: »Du – mir ist so schlecht – ich bin heute schon fünfmal draußen gewesen.«

Ich sah ihn an. Sein Gesicht war grau und verfallen, und während er vor mir stand, hielt er sich an der Tischplatte fest.[168]

Da schickte ich ihn zu Bette und ließ die Frau Direktor bitten, für ihn Sorge zu tragen.

Als ich mittags aus der Schule kam, war gerade der Arzt da. Er sagte, es habe nichts auf sich – ein leichter Fall von Cholera nostras, der in wenigen Tagen behoben sein würde.

Aber der kleine Kerl kümmerte sich nicht um ärztliche Prophezeiungen, sondern wurde immer noch matter.

Wir saßen um sein Bett herum und wollten ihn aufheitern, aber er hatte nicht viel Sinn dafür und sagte, er wolle doch lieber schlafen.

Als die Hängelampe angezündet wurde, meinte er, es wäre heute so dunkel, und als wir gerade zum Abendbrot gerufen wurden, neigte er das Kinn ein wenig auf die Brust herab und war tot.

Da saßen wir nun, und ein jeder dachte wohl in sei nem Innern, das sei ein schlechter Scherz, und er würde gleich wieder lebendig sein. Aber den Gefallen tat er uns nicht. Der Arzt, der rasch noch einmal gerufen wurde, erklärte, es sei doch wohl ein Fall von Cholera asiatica, wir möchten die nötige Desinfektion einleiten und im übrigen die Räume so rasch als möglich verlassen.

Die Frau Direktor war fassungslos, und wenn die Zwischentür zu den Mädeln sich öffnete, hörte man ein vieltöniges Schluchzen.

Die Sorge für all das Gekribbel war nun mir überlassen.

Vor dem nächsten Morgen fuhr kein Zug und kein Dampfboot, und die Septembernacht war lang. Der Gedanke, mit meinen Schutzbefohlenen ein Hotel aufzusuchen, kam mir gar nicht zu Sinn, denn so viel Geld, wie eine solche Ausschweifung verlangt hätte, gab es nicht auf der Welt.

Wir mußten also eine Bierreise machen. Oder eine Schnapsreise vielmehr, denn Bier ist bei Choleragefahr nicht sehr nützlich.

Noch einen letzten Blick warf ich auf das schmale Gesichtchen,[169] das weiß geworden in den weißen Kissen lag, legte, um die nötige Desinfektion einzuleiten, ein Stückchen Chlorkalk auf die erstarrten Lippen und ging, stolz auf diese bedachtsame und sachgemäße Handlung, mit meiner kleinen – fünf- oder sechsköpfigen – Herde von dannen.

Fürs erste führte ich sie in unser sonnabendliches Stammlokal, wo ich mich einigermaßen zu Hause fühlte.

Das Erstaunen der Gäste sowohl wie der Kellnerin und des Wirtes war groß. Aber als ich von unserem traurigen Schicksal erzählt hatte, begegnete man uns mit um so zarterer Rücksicht. Zwar das bewußte Hinterzimmer, auf das ich gehofft hatte, war heute abend vergeben. Dafür räumte man uns ein langes Eckpolster ein, und bald dampfte – als Allheilmittel gegen Cholera und alle sonstigen Nöte – vor jedem der Knirpse ein steifes Glas Grog.

Das tranken sie aus und wurden plötzlich sehr lustig. Ich mochte sie mit noch soviel Ernst auf die Schwere der Situation aufmerksam machen, sie kicherten und zwickten einander und begannen, die gefüllten Zündholzständer benutzend, ein Ränkespiel mit den übrigen Gästen.

Ich sah ein, daß ich als Pädagoge kein gutes Debut gehabt hatte, und da die Lage unhaltbar zu werden drohte, bezahlte ich rasch und zog weiter.

Aus zwei anderen Wirtshäusern warf man uns kurzerhand wieder hinaus.

Die Nacht war kalt und neblig, und die Kleinsten erklärten, sie seien müde und möchten zu Bette.

In meiner Ratlosigkeit besann ich mich auf die blonde Ida, die mir in Treuen gewogen war. Wohl ließ der »Reichsadler«, in dem sie als Kellnerin waltete, an gutem Ruf manches zu wünschen übrig, doch wenn ich ihre wohlerprobte Mildherzigkeit anrief, würde sie, das wußte ich, uns nicht im Stiche lassen.

Im »Reichsadler« war großer Betrieb. Der blaue Rauch mit[170] dem Messer zu schneiden, Geschrei, Betrunkenheit und erotischer Hochdruck.

»Chott steh mir bei!« rief die blonde Ida, sich mühsam der Gäste erwehrend, die gerade an ihrem Busen herumsuchten, »jetzt wer'n wir noch ä Kleinkinderschul.«

Rasch trat ich an sie heran, erklärte ihr leise, was mich zu ihr getrieben hatte, und bat sie, uns gnädig zu helfen.

»Achott, die armen Jungchen!« sagte sie, weinender Güte voll. »Jeht man solange da 'rein.«

Und sie öffnete uns die Tür zu einem Orte, der zur Gastfreundschaft nur geeignet erscheint, wenn man seiner gerade dringend bedarf.

Es dauerte ziemlich lange, ehe der Rückweg uns freistand.

Ich hörte meine Freundin schelten und wettern, als wäre sie Richterin über alle Laster der Welt. Das Gröhlen der trunkenen Stimmen wurde schwächer, und als die Tür sich wieder auftat, lag vor uns blauschimmernde Leere.

»Nu will ich eich aber flegen!« sagte die blonde Ida, in süßer Mütterlichkeit erstrahlend. »De Kich is zwar schon lang jeschlossen, aber warme Wirstchen mach ich eich doch, wenn ihr wollt. Auch Biefstick a la Tartare könnt ihr krijen. Alles, was ich unter dem Härzen hab, könnt ihr krijen.«

Aber meine Schützlinge waren bloß müde. Darum bekam jeder seinen bettweichen Sitzplatz, die Hängelampe wurde herabgeschraubt, und so saßen wir still bis zum Morgen.

Nur die blonde Ida konnte sich keine Ruhe gönnen. Sie ging von einem zum anderen, besah und streichelte ihn und fand der Rührung kein Ende.

Schließlich zog ich sie neben mich nieder. Sie lehnte den zärtlichen Kopf an meine Schulter und flüsterte: »Achott, ich bin so jlicklich mit die lieben Jungchen.« Und so entschlief auch sie. –

Wie wir morgens hinaus und zu unseren Sachen gekommen sind, dessen kann ich mich nicht mehr erinnern.[171]

Ich finde mich auf dem Deck des großen Dampfers wieder, der mich den Memelstrom abwärts nach Ruß beförderte, von wo die Heimat nicht fern war.

Doch nur wenige Tage hielt ich es dort aus. Die Aufgabe, die ich übernommen hatte, mahnte mich bei Tag und bei Nacht. Und schließlich sagte ich mir: »Mag geschehen, was da wolle, du mußt zurück.«

Meine Pension fand ich natürlich verödet. Auch die Töchter, meine verflossenen Flammen, waren aufs Land geflüchtet, nur Frau Direktor hielt tapfer der Seuche stand, die oben und unten tagtäglich neue Opfer forderte.

Man sagte uns, die ganze Stadt sei verschont geblieben, und nur dies eine Haus werde vom Unheil heimgesucht.

Ich fühlte mich selig in meinem Heldentum. Der große Napoleon, der, wie im Louvre das Grossche Bild uns zeigt, seine Finger in die Wunden der Pestkranken tauchte, war ein Schwächling gegen mich, und wenn auf der Straße die Mitschüler in weitem Bogen um mich herumgingen, saß mir ein Hohngelächter in der Kehle.

Der Katalog mußte unter diesen Umständen rasch zu seinem Ende kommen.

Jubelnd gedachte ich der vier Taler, wie auch der auszuwählenden Bücher, aber wenn ich abends in den vereinsamten Räumen den Kopf unter die Bettdecke steckte, während verdächtige Geräusche wie Todesstöhnen oder Stampfen von Leichenträgern mir in die Ohren drangen, wurde mir doch recht bänglich zumute.

Ja, auch das Heldsein will gelernt werden. –


Der Winter kam. Die Abgangsprüfung drohte, und immer noch war über meine Zukunft nichts entschieden.

»Laß mich nur machen«, sagte meine Mutter, »vielleicht setz ich's durch.«

Daß sie an der Arbeit war, bewiesen mir in den Weihnachtsferien[172] die grimmigen Blicke des Vaters, der viele Tage lang, ohne mir ein Wort zu gönnen, an mir vorüberschritt.

Mit seinen Geschäften ging es schlecht. Er wurde alt und kränklich, und wenn auch mein zweiter Bruder den Hauptteil der körperlichen Arbeit von seinen Schultern nahm, die Sorge um das, was werden würde, lastete nur um so schwerer.

Wie kärglich unsere Verhältnisse waren, wird man am besten daraus ermessen, daß mein Vater, als er am Weihnachtsmorgen vor dem heißen Ofen stehend sich ein Loch in die neuen Geschenkhosen gebrannt hatte, in ein bitteres Weinen ausbrach ob des Verlustes, den ihm das Schicksal zugefügt hatte.

Der harte Mann in Tränen um solch einer Jämmerlichkeit willen – es war ein herzbrechender Anblick. Und wenn ich ihm in meinem Innern jemals Vorwürfe machte, so habe ich auch immer hieran gedacht.

Mich hatte der Dorfschneider Paetzel nach meinen Angaben inzwischen aufs feinste ausstaffiert. Und um den Eindruck gepflegten Lebemanntums zu vollenden, trug ich auf der linken Brustseite meines englisch geschnittenen Jacketts eine Zigarrentasche – ich hatte sie als Entgelt für Gefälligkeitsnachhilfe unlängst erhalten –, die mit ihren geschnitzten Elfenbeinplatten und den roten Maroquinfalten dazwischen den Gipfel aller denkbaren Vornehmheit bildete.

So konnte ich den Triumph erleben, daß, als ich zur selben Zeit im Gasthause mit einem fremden Mitglied der Landsmannschaft Littuania zusammentraf, nach kurzer Musterung von ihm mit der seufzenden Frage bedacht wurde: »Nun, Sie werden wohl nur bei den Normannen einspringen, nicht wahr?«

Wer bedenkt, daß die Königsberger Normannen als das galten, was in Bonn die Preußen und in Heidelberg die Saxo-Borussen bedeuten, der wird diesen Ausruf zu würdigen wissen.[173]

Und ich armes Luder hatte noch nicht einmal eine Ahnung, wie ich den ersten Monatswechsel würde aufbringen können.


Und wieder einmal fingen die Dachrinnen zu tropfen an, wieder einmal lachte die Februarsonne ihr widersinniges Lachen, und wenn es abends zu frieren begann wie am Nordpol, dann rief im Herzen freudiger Vorwitz: »Es kann uns nix mehr g'schehen.«

Im Zeichen dieses Spruches stieg ich ins Examen wie in ein Fest, und so sicher fühlte sich meine Frechheit, daß ich es wagte, den französischen Aufsatz, der sonnabends an die Reihe kam, bis zwölf Uhr herunterzupeitschen, weil fünf Minuten nach zwölf ein Schlitten an der Ecke hielt, der mich mit ein paar lieben Mädeln zusammen vier Meilen weit zu einem Tanzfest tragen wollte.

Schließlich wäre ich bei den physikalischen Aufgaben beinahe noch zu Falle gekommen.

Eine von ihnen lautete: »An welchem Tage des Frühlings beginnt unter dem Breitengrade von Tilsit die immerwährende Dämmerung?«

Ich rechnete und rechnete, und immer wurde der 4. Mai daraus. Das konnte unmöglich stimmen, denn im Mai – das wußte ein jeder – war es um zehn schon stockfinster. Eine Stunde verging, auch eine zweite, und ich bekam einen heißen Kopf. Noch warteten meiner vier weitere große Probleme, denen gewachsen zu sein bei wirren Sinnen eine Unmöglichkeit war.

In höchster Not schickte ich Gustav Schulz einen Kassiber des Inhalts: »Kann 4. Mai richtig sein?« Und erhielt ihn zurück mit der Antwort: »Ist richtig.«

Da war plötzlich der Kopf wieder frei, und die anderen Aufgaben wurden zum Spielwerk.

Trotzdem war ich über das Resultat meiner Arbeiten noch[174] sehr im unklaren, da wurde ich eines Tages zum Direx befohlen, der mir sagte: »Der Termin der mündlichen Prüfung liegt spät, und der Schulschluß folgt gleich darauf. Für alle Fälle präparieren Sie sich auf die Abschiedsrede.«

Als ich von diesem Begebnis in der Klasse erzählte, beneideten mich alle, und selbst der gute Gustav Schulz warf mir einen verwunderten Blick zu, obgleich er als der bei weitem Beste mir die Auszeichnung wohl gönnte.

Noch längst war der große Tag nicht gekommen, da lag der Text der Abschiedsrede dem Direktor bereits zur Prüfung vor und wurde von ihm mit belobigendem Schmunzeln gebilligt.

Nur eine Frage blieb noch zu regeln: Schnurrbart rasieren oder nicht rasieren?

Der Schulrat, der eigens zu diesem Examen Tilsit heimsuchte, galt nämlich als ein erbitterter Feind aller Bebärteten, und noch niemals, so ging das Gerücht, war einer durchgekommen, der die Dreistigkeit gehabt hatte, ihm im Flaum seiner sprießenden Jugend entgegenzutreten.

Bei mir war aber gar nicht einmal mehr von »Flaum« zu reden.

Im Gegenteil. Ein ausgewachsenes, schöngeschwungenes Bärtchen, von zwei schmalen Zwillingsbürsten dauernd betreut, zierte die Oberlippe. Es dem Schulrat vorzuführen, mußte als eine Herausforderung gelten, die sich leicht mit einer Katastrophe rächen konnte.

Latein war meine Schwäche geblieben, und die Jahreszahlen um die Salier und die französischen Heinriche herum hat noch keiner behalten.

Trotzdem: ich wagte es. Wer die Abschiedsrede als Bürgschaft in der Tasche trägt, darf sich über dergleichen Rücksichten erhaben fühlen.

»Wenn das nur gut ausgehen wird!« sagte erschrocken Gustav Schulz, als er mich am Prüfungsmorgen in die Klasse treten[175] sah, in der wir dem Schicksalsruf entgegenharrten, und ein anderer, der dicht neben der Schule zu Hause war, erbot sich sogar, rasch eine Schere herbeizuschaffen.

»Ach was, wir wollen es riskieren«, sagte ich leichtsinnig.

Und dann klopfte auch schon der Schuldiener, der uns holte.

Da saßen sie alle – unsere lieben Freunde und Quälgeister – und in ihrer Mitte ein Fremder, ein hagerer bartloser – natürlich bartloser – Mann, der im Moment meines Eintritts mich mit den Augen zu packen bekam und nicht mehr loslassen wollte.

Der Reihe nach wurden unsere Namen genannt – er achtete nicht darauf. Die Frageordnung wurde ihm unterbreitet – sie war ihm ganz egal. Er nickte nur immer geistesabwesend, und derweilen umwickelte er mich mit seinen Augen und knetete mich und speichelte mich ein wie die Natter den Spatz.

Der Direktor nahm ein Blatt und las geschäftsmäßig: »Von der mündlichen Prüfung werden dispensiert: Schulz, Engel –,« dann kamen zwei Namen, die mir entfallen sind, und als letzter der meine.

»Im Namen des Herrn Schulrat und des Lehrerkollegiums gratuliere ich Ihnen. Sie können das Zimmer verlassen.«

Wir traten vor und verbeugten uns tief.

Da bemerkte ich, daß ein schmerzhaftes Erstaunen über das Gesicht des Schulrats dahinlief, und als ich mich in der Tür noch einmal umwandte, sah ich seine Augen in liebender Sehnsucht noch immer an mich geklammert.

Diesem Shylock war ich glücklich entronnen, aber später, wenn ich mit dem berüchtigten »Sudermannbart« vor die Rampe getreten war, haben seine Kollegen, die Herren Rezensenten, ihn pfundweise an meinem Leibe gerächt.


Nun begann die Zeit des Jubels und der hohen Feste. Viele von uns Männern haben sie durchlebt, aber nicht alle sind in der glücklichen Lage gewesen, mit einem grasgrünen, goldgestickten[176] Cerevis in den Locken – ja, man trug damals noch Locken! – durch Straße und Bankettsaal zu stolzieren.

Was heute als ein nüchterner Durchgang erscheint, um von einem engeren Lebensraum zu einem weiteren zu gelangen, war damals Selbstzweck, Morgenfeier, Krönung und Parnaß.

Aus sieben durchbummelten Nächten wurde endlich der Tag geboren, der uns dem Pflichtenkreis der Schule für immer entrückte.

Meine Mutter war eigens nach Tilsit gekommen, um der Entlassungsfeier beizuwohnen, deren Mittelpunkt meine Rede zu werden bestimmt war.

Ich kann nicht behaupten, daß ich Lampenfieber hatte. Die Wurschtigkeit, die mein Lebtag über mich gekommen ist, wenn ich einer Menschenmenge gegenübertrat – auf der Bühne sowohl wie hinter dem Rednerpult –, segnete mich zum erstenmal.

Zudem gab es ja noch immer eine Manuskriptrolle, die ich im Notfall aus der Tasche ziehen konnte.

Also, meine Verehrten: es war kolossal. Was ich seit fünf Jahren in meinen deutschen Aufsätzen brodelnd hatte garkochen lassen, durfte ich endlich, endlich der heilsbegierigen Menschheit zu kosten geben. Lebenssehnsucht und Weltangst, Heimatliebe und Drang in die Fremde, Empörung über Erwerbsgier und Hunger nach Märtyrertum, alles, was man wohl in dem Worte »Idealismus« zusammenfaßt, jenem schönen Fremdworte, hinter dem für jeden etwas anderes steckt, von der Gottheit bis zum Wollhemd, ließ ich in wirren Bildern und heißen Gefühlsausbrüchen über die Seelen meiner Hörer hinströmen.

Meine Stimme war durch den Vortrag in der Klasse wohl geschult. Von dem Donnerdröhnen der zürnenden Kraft bis zu dem Flötentremolo herzbrechender Rührung beherrschte ich das ganze Register.[177]

Schließlich weinten alle, und ich weinte am stärksten.

Dann gab es ein Glückwünschen ohne Ende und einen Blick heimlichen Mutterstolzes, der mir in Seligkeit durch den Körper rieselte.

Fünfzehn Jahre – bis zur Aufführung meiner »Ehre« – habe ich warten müssen, bis ich ihn mir zum zweiten Male verdiente. –

Gegen Abend brachte ich meine Mutter zum Postwagen. Ich selbst wollte noch die Karwoche über in Tilsit verweilen, um meine Angelegenheiten zu ordnen und ausführlichen Abschied zu nehmen.

Manchem Freunde habe ich nie wieder die Hand geschüttelt, in manches Mädchenauge sah ich zum letztenmal.

Mit besonderer Feierlichkeit ging ich zu meinem Direktor. Ich hatte ihm mein Album überreicht, und er gab es mir aufgeschlagen zurück.

Darin standen die Worte von Wilkie Collins: »Life is a comedy to those who think and a tragedy to those who feel.«

Ich habe mein Lebenlang versucht, beidem gerecht zu werden, aber er hat es ja anders gemeint.

Von diesem Manne des Segens habe ich viel zu wenig gesprochen. Wieviel er für mich bedeutet hat, ist mir naturgemäß erst später aufgegangen, denn damals war er der Schultyrann und mußte es sein. Wiedergesehen habe ich ihn auch nicht mehr. Als ich nach Beginn meiner Bühnenlaufbahn – er war schon lange pensioniert – an seine Türe pochte, da fand ich ihn nicht zu Hause, und kurz darauf las ich, daß er gestorben war.


Am Osterheiligabend schloß sich das Tor jener glücklichen Zeit für immer hinter mir.

In dichtem Schneetreiben rasselte der Postwagen über die Schiffbrücke des Memelstromes der Heimat entgegen.

Das Herz von freudigem Stolze geschwellt, Bilder bangender[178] Hoffnung vorm Auge, lehnte ich mich in die Kissen zurück.

Wenn Mutter zu Hause von meinem Triumphe erzählte, von ihrem Umringt sein und den Händedrücken der Fremden, mußte Vater nicht im Vorgefühl meines künftigen Aufstiegs den Widerstand gegen mein Studium zum Teufel schicken? Würde er nicht gewillt sein, sein Letztes daranzusetzen, mir den Weg zu bereiten, der schließlich auch dem Elternhause zugute kam? Endlich, endlich konnte ich hoffen, ihn zu mir bekehrt zu haben, konnte ich leuchtend im Frohmut des ersten Sieges vor ihm stehen.

Je ungeduldiger ich diesem Wiedersehen entgegenharrte, desto länger dauerte die Reise. Um neun Uhr früh waren wir ausgefahren, um die Vesperzeit hätte ich zu Hause sein müssen, aber als die Dunkelheit kam, steckten wir noch irgendwo im dicksten Walde und bekamen Spaten in die Hand, um die festgefahrenen Räder aus den Tiefen einer Schneewehe auszugraben.

Gegen Mitternacht endlich hielt die Post vor meinem Elternhause. Die Läden waren geschlossen, alles schien zu schlafen.

Ich pochte. Mit ängstlichen Augen tat die Mutter mir auf. Kein Lächeln, kein Gruß des Willkommens, nur Angst – Angst – Angst.

Und da kam auch er.

Ich sehe ihn vor mir, die Fäuste verkrampft, wilde Erbitterung in dem vorgeschobenen Munde.

Wo ich mich so lange 'rumgetrieben hätte, ob ich nicht wüßte, daß die anderen Schüler schon seit acht Tagen zu Hause seien, und ob ich dächte, daß er solch eine Lotterei noch länger mitansehen werde. Und studieren wolle ich auch nur, um meinem Übermut und meiner Vornehmtuerei die Zügel schießen zu lassen. Ich sei der Sohn armer und ehrlicher Eltern – für mich zieme sich höchstens das Postfach oder sonst[179] eine mittlere Beamtenkarriere, wo man bald sein Auskommen habe, aber wenn ich wüßte, auf wessen Kosten, könne ich ja ruhig studieren oder auch sonstwas. Aber von ihm sähe ich keinen Heller mehr.

Das und noch vieles andere bekam ich zu hören, und ich fühlte erstarrend, daß all mein Hoffen vernichtet war. Den Abendbrottisch, den meine Mutter mir festlich hergerichtet hatte, ließ ich stehen, wie er stand, und schlich in mein Giebelzimmer hinauf, mich auszuweinen. Sie kam mir nach, die Lampe in der einen, einen Teller mit Butterbrot in der anderen Hand.

Auch sie weinte. Aber zugleich tröstete sie mich.

»Laß man, mein Jungchen, er wird wieder gut werden, und durchsetzen werden wir es doch.«

Und wir haben es durchgesetzt.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 167-180.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Bilderbuch meiner Jugend
Das Bilderbuch meiner Jugend
Das Bilderbuch meiner Jugend: Roman einer Zeit

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon