Zwölftes Kapitel

Wie ich wieder ein freier Mann wurde

[202] Auf den vorigen Blättern bin ich ein wenig kreuz und quer gefahren, und darum schlägt mir mein Erzählergewissen. Schriebe ich einen Roman, so würde ich meinen Stoff weit besser einzuteilen verstehen, ich würde kunstgerecht vorbereiten, steigern, ausmerzen und hinzutun. Es ist auch nicht »Wahrheit und Dichtung«, was ich etwa zu geben wage. Ein simples Bilderbuch soll es nur sein, und wenn dabei doch etwas für die Naturgeschichte des Werdenden herausschaut – um so besser.

So kehre ich also reuig zu meiner Littuania wieder zurück – nicht für lange, denn ihre Zeit in meinem Leben ist kurz bemessen.

Vorläufig blähte ich mich noch wie ein Pfau in meiner mattweißen Tuchpikesche mit den schwarzen Quasten und Verschnürungen, mit dem silbergestickten Cerevis auf der Stirn und den spiegelnden Kanonen auf prallen Schenkeln.

Ich muß gar nicht übel ausgesehen haben, und als am Memelstrande, dort wo der Rombinus, der Heilige Berg des Litauervolkes, sich erhebt, das Sommerfest gefeiert wurde, da wurde ich, als zu den Stattlichsten gehörig, einer der zweien, die mit gezogenem Paradeschläger das grün-weiß-rote Banner geleiteten.

Von dort aus fuhr ich zu den großen Ferien nach Hause, und so überwältigend wirkte mein Aufstieg zum farbentragenden Litauerfuchs, daß sogar mein armer Vater, der doch schließlich, wenn auch noch so widerwillig, den ganzen Zimt bezahlen mußte, beim ersten Begegnen mit unverkennbarer Bewunderung zu mir emporsah.[203]

Die Glorie des zünftigen Couleurstudenten umgab mich, wo ich ging und stand. Und auch die jungen Damen der Heimat, die mir bisher in abwartender Zurückhaltung gegenübergestanden hatten, gingen plötzlich mit fliegenden Fahnen zu mir über.

Aber meine Herrlichkeit stand auf tönernen Füßen. Nach heißen Fürbitten meiner Mutter, nach Beteuerungen und Versprechungen ohne Zahl zeigte mein Vater sich bereit, mich noch ein ferneres Semester lang gelegentlich zu unterstützen; alsdann aber müsse ich mich endgültig auf eigene Füße stellen.

Wie aber? Meine Mutter schrieb allnächtlich Briefe an den Kaiser und sämtliche Potentaten, Briefe, die niemals abgeschickt wurden. Auch eine Novelle schrieb sie, mit Namen »Großmütterchens Dämmerstündchen«, die, wenn sie erst in der »Gartenlaube« erschienen war, ein großes Stück Geld bringen mußte.

Und dann vor allem waren die russischen Verwandten da, die bekanntlich unendliche Reichtümer besaßen, mit Ländereien, viele Quadratmeilen groß, und Viehherden, die man nicht zählen, sondern nur abschätzen konnte, indem man einen Pferch von bestimmter Größe füllte und leerte – füllte und leerte – bis man des Spieles müde war.

Als unbestreitbare Wahrheit saß dahinter, daß vor zwei Menschenaltern eine Anzahl mennonitischer Familien, die sich um ihres Glaubens willen der allgemeinen Dienstpflicht nicht hatten fügen wollen, nach Südrußland ausgewandert und zu erheblichem Wohlstand gediehen war – darunter auch Angehörige meiner väterlichen Familie, deren Kinder die Verbindung mit der alten Heimat durch gelegentliche Briefe aufrechterhielten. Wie sie hießen, wo sie wohnten, war uns unbekannt – hier konnten nur die Elbinger vermittelnd und fürbittend eintreten. Wenn ich leihweise von ihnen tausend Rubel bekam, so war es mir möglich, zwei weitere Semester[204] lang mein Dasein zu fristen; was dahinter lag, ging mich heute noch nichts an.

Diese tausend Rubel haben in meinem Leben eine gewaltige Rolle gespielt. Ihnen galten die Träume, die Ränke, die Schleichwege der kommenden Zeit. Ihnen zuliebe war ich froh, daß ich in Frieden von der guten Tante geschieden war. Ihnen zuliebe wandte ich sogar eine Reise nach Elbing daran, wo ich in weißem Schnurrock vielbewundert durch die Straßen stelzte und am Fenster eines fremden Hauses Klara Hornig sitzen sah, die sich neugierig nach mir vorneigte und bei meinem plötzlichen Gruße in ihren geliebten Zügen eine Feuersbrunst aufbrennen ließ.

Besucht habe ich sie nicht. Warum nicht? Vielleicht weiß einer meiner Leser es mir zu sagen.

Das Ergebnis meiner diplomatischen Schachzüge war, daß nach monatelangen Verhandlungen zusammen mit meinem Bittbriefe das empfehlende Schreiben eines meiner Verwandten nach Rußland abging, worauf vorerst ein halbes Jahr lang keine Antwort erfolgte.

Ich quälte mich derweilen notdürftig durch sorgengraue Tage, nahm die Pumpkasse in Anspruch und saß alsbald auch bei den Gurglern drin.

Die Prozedur war höchst einfach: Man unterschrieb einen Ehrenschein über hundert Mark, warb sich dafür einen Bürgen, dem man im gegeben Falle den gleichen Liebesdienst zu erweisen hatte, und ging damit zu einem soliden und sachlich gearteten Manne, der in der Nähe des Steindammer Tores wohnte und der dem Bewerber nach Prüfung seiner Zugehörigkeit zur Littuania fünfzig Mark aushändigte. War der Verfalltag gekommen, so prolongierte er gern, nachdem er einen neuen Schein über hundertfünfzig Mark erhalten hatte, und so ging es weiter in arithmetischer Progression. Hatte man aber inzwischen ein Bedürfnis nach anderen fünfzig Mark, so wohnte auf dem Sackheim eine freundliche Witwe, die[205] machte es rascher, denn sie zog in allen Etappen die Verdoppelungen vor, so daß man, wenn einem die nötige Zeit gelassen wurde, sich rühmen durfte, so viele Schulden zu haben, wie der Großmogul reich war. Auch galt bei ihr als ein nicht zu unterschätzender Vorzug, daß sie eine Tochter besaß, in die man sich gratis verlieben durfte.

Das ging, solange es ging. Aber eines Tages prolongierten die Herrschaften nicht mehr, und während man noch überlegte, was vorzuziehen sei, der Strom oder die Kugel, war man bereits cum infamia exkludiert.

So habe ich eine ganze Reihe von prächtigen jungen Menschen dahingehen sehen, darunter auch – doch ich will keinen Hinweis geben, ihre Söhne könnten sich grämen.

Mir selbst blieb dieses furchtbarste Schicksal erspart. Aber hätte ich mich nicht noch gerade zur rechten Zeit herausgerissen, auch ich wäre verurteilt gewesen, mich mit einem unheilbaren Knacks an honorigen Leuten vorbei durchs Leben zu schleichen. Und anstatt der Gesellschaft, mit der ich zu Gerichte saß, eine wütende Anklage entgegenzuschleudern, habe ich stumpfsinnig selber die Hand erhoben, um den Beklagenswerten ihr Schicksal bereiten zu helfen. Nicht minder gefährlich als das Ehrenscheinschreiben war der andauernde Suff. Es gab Virtuosen des Trinkens, die von sich erzählten, daß sie an einem Abend eine Achteltonne zu sich zu nehmen imstande seien. Und mancher holte sich Siechtum fürs Leben.

Ich habe es beim besten Willen nur auf achtzehn Seidel gebracht und mich so gut zu trainieren verstanden, daß ich im zweiten Semester nie mehr die Besinnung verlor.

Der spaßhaften Zwischenfälle gab es genug. Auf eine Morgenfrühe besinne ich mich, in der ich schwergeladen heimkehrend die Last der Bettdecke so drückend empfand, daß ich kaum noch zu atmen vermochte. Bis ein helles Gelächter mich weckte, um mir den wahren Sachverhalt zu entschleiern:[206] Ich saß, den Schlüssel noch in der Hand, auf der zur Haustür führenden Schwelle und mir im Schoße mein Stubenknochen, genau so betrunken wie ich, während eine Korona von Frühaufstehern uns jubelnd umstand.

Als besonderer Genuß nach so durchsumpfter Nacht war der Besuch der Fleckbude im Schwange: ein tristes Lokal, wo man für etliche Groschen einen Teller voll heißer Kaldaunen erhielt, die mit Pfeffer überschüttet wurden und deren sandiger Bodensatz noch lange zwischen den Zähnen mahlte.

War man nicht in Couleur, so schloß sich daran bisweilen eine gediegene Holzerei, die aber strengstens verboten war, wenn die Ehre des Bandes ein anständiges Benehmen verlangte.

War Stimmung da, in einem »Puff« zu stranden, so wurde das Band in die Tasche gesteckt und die Mütze mit der frei werdenden Klemmnadel am Überzieherfutter befestigt, so daß sie bestenfalls unbemerkt bleiben konnte.

Aber die Mädels, soweit sie keine Neulinge waren, kannten uns alle schon vom Nachmittagsbummel her, und wenn wir, unserer Schlauheit froh, barhäuptig eintraten, kam es vor, daß sie militärisch grüßend uns mit dem Rufe empfingen: »Littuania sei's Panier!«

Eine Phrase, die sie von den Wingolfiten oder sonst einer Blase aufgeschnappt haben mochten.

Auch im übrigen erfreuten die Beziehungen zum weiblichen Geschlechte sich einer auf das Fleischliche gerichteten erfrischenden Natürlichkeit, womit nicht etwa behauptet werden soll, daß nicht dieser oder jener, daß nicht vielleicht die Mehrzahl eine stille und heilige Liebe im Herzen getragen hätte. Für diesen Zweig des Empfindungslebens waren die »Couleurschwestern« da, die als Vertraute unserer Seelennöte und als Pflegerinnen unseres Katzenjammers eine heilsame Rolle spielten. Aber ein solches Flimmerwerk barg sich naturgemäß in schämigem Schweigen.[207]

Was an Wünschen und Neigungen gemeinhin laut wurde, läßt sich am besten in der schönen Strophe zusammenfassen, die während der »Fidulität« als Chorgesang oftmals zum Himmel stieg:


»Es gingen einst zwei Damen

Spazieren auf Königsgarten

Die eine wurde gleich geliebt,

Die andre mußte warten.«


Wenn diese Damen zufällig einer minder erhabenen Gattung der Damenhaftigkeit, den sogenannten »Wallrutschern«, angehörten, so ergaben sich nur allzu häufig Verwicklungen, die in das Gebiet der Heilkunde hinüberspielten und die vor Beginn der offiziellen Kneipe bei Braunbier und Selter ihre feuchtfröhliche Verkündigung erfuhren.

Junge Ärzte gab es genug in unseren Reihen. Man ging zu ihnen, sein kleines Malheur zu klagen, und wurde kuriert. Oder auch nicht. –

Daß ich mich solchen Gefahren gegenüber dauernd mit der Sehnsucht nach dem sogenannten »Höheren« trug, wird man begreiflich finden, aber es ergab sich nur wenig Gelegenheit, ihr nachzuleben.

Soll ich von den beiden jungen Witwen erzählen, die meine heiße Liebe so heiß erwiderten, daß keine die andere auch nur für eine Augenblick mit mir allein ließ, woraus sich als einziges Resultat ergab, daß wir zu dreien einander stundenlang gegenübersaßen und uns andauernd Kalbsaugen machten?

Oder von dem Delikateßfräulein, das einer jeden Schäferstunde dadurch die entsprechende Weihe zu geben versuchte, daß sie beim Eintreten ein halbes Pfund von dem feineren Aufschnitt stolz und verschämt auf den Tisch des Hauses niederlegte?

Oder von jener barmherzigen Schwester, die mich durchaus[208] zum Heil bekehren wollte und die schließlich an die Luft gesetzt werden mußte, weil sie als Heilbringerin unersättlich war?


Aber eine Geschichte habe ich erlebt, bei deren Erinnerung ein Schauer der Tragik mich heute noch heiß überflutet.

Es war in den Maientagen meines dritten Semesters, und mein Verhältnis zur Couleur war schon so schlecht geworden, daß ich die Kneipe floh, wenn ich nur konnte. Wäre ich daheim geblieben, so hätte man mich aufgefunden und mitgeschleppt; darum trieb ich mich bis in die Spätdämmerung hinein im Volksgarten umher, einer neuen Parkanlage dicht an den Festungswällen, wo ich mich unbeobachtet fühlte.

Obwohl die Gegend nicht in gutem Rufe stand, war mir dort schon öfters ein junges Mädchen begegnet, das offenbar den besten Ständen angehörte und das mich im Vorübergehen aus übernatürlich glänzenden Augen mit dem freundlichen Blick des Wiedererkennens anzuschauen pflegte.

So faßte ich mir endlich ein Herz und zog meine Mütze. Und siehe da! Sie dankte mir mit einer Unbefangenheit, als wären wir längst schon gute Bekannte gewesen. Darum ergab es sich von selbst, daß ich vor ihr stehen blieb und ein Gespräch mit ihr anknüpfte.

Was ich erfuhr, war traurig genug. Sie war an der Schwindsucht krank und schon zwei Winter über im Süden gewesen. Im vorigen Herbste aber hatte sie ein Gespräch des Arztes mit ihrer Mutter belauscht, in dem aus seinem Munde die Wendung gefallen war, daß dieser Aufenthalt, der der Familie die schwersten Opfer auferlegte, nur noch den Zweck habe, sie selbst über ihren Zustand hinwegzutäuschen, denn heilbar wäre sie doch nicht mehr. Ohne von ihrer Mitwisserschaft eine Spur zu verraten, hatte sie sich infolgedessen geweigert, die Reise noch einmal anzutreten, und dämmerte nun in heiterem Verzichte dem Erlöschen entgegen.[209]

Da ihr das Atmen in frischer und staubfreier Luft verordnet war, habe sie die Erlaubnis spazierenzugehen, so lange und so spät sie wolle, und weil es auf dem Wege nach den landläufigen Vergnügungsorten der »Hufen« zu lebhaft und zu lärmend war, so habe sie sich den Volksgarten ausgesucht, wovon die Eltern freilich nichts wüßten. Aber es habe ihr noch niemand etwas zuleide getan, und ich sei der erste, mit dem sie je geredet habe.

Ich tröstete, so gut ich konnte. Ich sprach von Wundern, die rings um mich zu völliger Genesung geführt hätten, mein Gott, was tat ich nicht, nur um ein wenig neue Lebenshoffnung in sie hineinzupumpen!

Sie hörte mir mit einem überlegenen, gleichsam verschmitzten Lächeln zu und sagte dann: »Ich bin müde. Wollen wir uns nicht setzen?«

In der Nähe stand eine Bank, von halberblühten Fliederbüschen ganz überdacht. Die wählten wir uns und saßen inmitten der Dämmerung so versteckt, daß die Vorübergehenden uns fast auf die Füße getreten wären, ohne uns zu bemerken.

Meine neue Freundin hieß Angela. So wenigstens wünschte sie von mir genannt zu sein. Aber ihren Vaternamen sagte sie nicht.

»Ich bin aus guter Familie«, erwiderte sie auf meine Frage, »und was ich jetzt tue, ist uns Mädchen streng verboten. Ich tue es auch nur, weil ich so gut wie gar nicht mehr auf der Erde bin und weil ich doch auch einmal etwas erlebt haben möchte, denn im Grabe erlebt man dann gar nichts mehr. Aber da ich meinen Eltern keine Schande machen darf, müssen Sie mir jetzt Ihr Ehrenwort geben, daß Sie niemals nach mir forschen werden. Auch nicht hinten herum und auf keine Weise. Wollen Sie das?«

Dann, als sie mein Ehrenwort besaß, ließ sie jede Zurückhaltung fallen, lehnte den Kopf an meine Schulter und duldete, daß ich sie an mich zog.[210]

In jener Zeit war es gerade auch dem Laien bekannt geworden, wie ansteckend die Schwindsucht ist, und darum beeilte ich mich nicht, meinen Mund auf ihre Lippen zu legen.

Sie bemerkte mein Zaudern wohl und sagte: »Ich weiß, Sie haben ein Grauen vor mir, denn Sie glauben, mein Atem ist giftig.«

Da bezwang ich meine Feigheit und küßte sie.

»Mich hat noch nie ein Mann geküßt«, flüsterte sie. Und dann, wie um sich zu entschuldigen: »Aber Mama küßt mich immer, und es hat ihr nie was geschadet.«

Und als hätte sie damit den Zoll an ihr Gewissen gezahlt, schlang sie die Arme um meinen Hals und sog sich an meinem Munde so fest, daß sie selbst mit Gewalt nicht zu lösen gewesen wäre.

Da brach ein Hustenanfall ihre Inbrunst mitten entzwei, und ich dachte bei mir: »So küßt der Tod.«

Aber weil nun doch schon alles egal war, nahm ich sie von neuem in meinen Arm, und sie konnte sich an meinen Zärtlichkeiten nicht satt trinken.

Bevor wir uns trennten, mußte ich ihr versprechen, morgen abend an der gleichen Stelle zu sein.

Und so geschah es auch.

Daß ich todgeweiht war wie sie, darüber hegte ich fürs erste keinen Zweifel. Aber was tat das mir? Ich liebte sie ja, und weil ich sie liebte, wollte ich ihr gern ins Grab hinein folgen.

Nein, gerne nicht. Denn mein erstes Drama: »Die Tochter des Glücks« war fertigzuschreiben und manches andere noch hinterher.

Aber das Schicksal hatte es nicht gewollt, und darum hieß es, mit Freuden zugrunde gehen.

Als sie mir folgenden Abends entgegenkam, lag ein Leuchten auf dem schmalen, in Weiß und Rosenrot getauchten Angesicht, als käme sie schon als Seraph aus Himmelshöhen.[211]

Und dann, wie wir auf unserem »Bankchen« saßen und ich mich nicht entbrechen konnte, ihr von meiner »Tochter des Glücks« zu erzählen, da lächelte sie selig und flüsterte, sich an mich schmiegend: »Ich bin auch solch eine Tochter des Glücks.«

Manchmal, wenn sie sich nicht enge genug an mich drücken konnte, warf sie sich mit wilder Gebärde auf meinen Schoß und war dann so leicht wie ein Vogel.

Am dritten oder vierten Abend erklärte sie, sie wolle mich morgen besuchen. Ich machte Ausflüchte, sagte, daß verschiedene Couleurbrüder dicht neben mir hausten und daß ich ihren Besuch nicht würde rechtfertigen können.

Aber sie ließ sich nicht vertrösten.

»Ich werde im Halbdunkel kommen, so daß mich keiner mehr sieht, und still werde ich sein wie ein Mäuschen.«

Und als ich einwarf, wir hätten ja hier viel mehr voneinander, deckte sie alle ihre Wünsche auf und sagte ganz ruhig entschlossen: »Ich will dein gewesen sein, bevor ich sterbe.«

Wie sehr ich auch nach ihr verlangte, das Geschenk, das sie mir hinwarf, schien mir zu groß, als daß ich es empfangen dürfte, und das sagte ich ihr.

Aber sie lächelte nur ungläubig und entgegnete, die Unterlippe herabziehend: »Ich weiß, wovor du Angst hast! Daß ich in deinen Armen den Blutsturz kriegen werde und daß dein schönes, weißes Bett dann besudelt ist.«

Und wie immer, wenn ich ihr nicht zärtlich genug erschien, warf sie mir vor, ich hätte einen Ekel vor ihr, ich sähe sie schon in Verwesung, und es wäre das beste, sie mache freiwillig ein Ende mit sich.

Da erkannte ich, daß ich sie nicht in Verzweiflung treiben dürfe, und beschloß, sie hinzuhalten von einem Tage zum anderen. Dabei aber liebte ich sie immer mehr. Tod und Leben – es war mir alles gleichgültig geworden.

Damit uns niemand beisammen sehen konnte, pflegten wir[212] uns beim Abschied schon am Ausgange des Parkes zu trennen, so daß ich nicht einmal wußte, in welcher Stadtgegend sie zu Hause war.

An einem der nächsten Nachmittage aber, als ich den Hinter-Tragheim entlang zu Reubekeuls ging, erkannte ich plötzlich ihre Gestalt, die eigentümlich gleitend vor mir daherschritt.

Ich erschrak sehr, denn wenn sie sich umdrehte, mußte sie glauben, ich hätte meinem Ehrenwort zum Trotz ihre Wohnung erkundschaften wollen. Darum hielt ich an, bis eine größere Entfernung zwischen uns lag. Ich vermochte gerade noch ungefähr das Haus zu erkennen, in dem sie verschwand. Ob es das ihre war oder ob sie nur einen Besuch darin machte, konnte ich freilich nicht wissen, und als ich abends mit ihr zusammentraf, hütete ich mich wohl, den Zufall zur Sprache zu bringen.

Am nächstfolgenden Abend wartete ich vergebens – und wartete noch viele Abende lang.

Und wieder an einem Nachmittage, als ich zu Reubekeuls ging, geschah es, daß ich vor den Häusern, in deren eines ich sie hatte eintreten sehen, die Straße schwarz fand von Karossen und wartenden Menschen. Und ein Leichenwagen war auch da.

Ich kann nicht einmal sagen, daß ich einen Schreck bekam. Ich dachte mir nur: »Das mag sie wohl sein.«

Und dann stellte ich mich in eine nahe Haustür, ließ mir die Tränen über die Backen laufen und wartete. Wartete gar nicht lange. Da schwankte auch schon ein schwarzer Sarg, blumenverhangen, durch das weitgeöffnete Haustor und wurde auf den Wagen geschoben, der langsam davonrollte, während die Karossen sich mit weinenden oder stumpfsinnig glotzenden Menschen anfüllten.

Hinter jeder sogenannten »schönen« Leiche trottet ein Haufe von Klageweibern und anderen Nichtstuern her. Ihm schloß[213] ich mich an und gelangte so unauffällig bis auf den Kirchhof, immer von dem Gedanken gequält, ob sie es wohl sei oder wer anders. Der offenen Grube wagte ich mich nicht zu nähern, denn ich war in hellem Sommeranzug und sah auch sonst ziemlich verwegen aus. Darum hörte ich von dem Abschiedsgebete des Geistlichen nur vereinzelte Worte, aus denen ich mir einen rechten Vers nicht machen konnte. Ich hätte es ja sehr leicht gehabt, bei den Leichenkutschern oder den Totengräbern Erkundigungen einzuziehen. Ob der Sarg ein junges Mädchen barg, mehr brauchte ich gar nicht zu wissen. Aber wie hatte die Klausel gelautet?: »Auch nicht hinten herum und auf keine Weise.« Und mit meinem Ehrenworte nahm ich es sehr genau.

Heute erscheinen mir meine Bedenken lächerlich und beinahe nicht glaubenswert. Damals aber war ich so von ihnen besessen, daß ich jede Versuchung, mir Gewißheit zu verschaffen, empört zurückgewiesen haben würde.

Und dann war wohl auch noch ein wenig Romantik dabei. Die immer noch bleibende Hoffnung, sie könne mir auf der Straße eines Tages begegnen, umschmeichelte mich mit spannenden Bildern. Und wenn ich auch nicht mehr nach dem Volksgarten ging, in der Frühsommerdämmerung an dem schwarzscholligen Grabe zu stehen, dessen Kränze langsam verrotteten, und sich dabei vorzustellen: »Vielleicht ist sie es gar nicht«, bot einen dauernden Genuß, dessen schmerzliche Seligkeit ich mir nicht zerstören durfte.

Jedenfalls: Tief kann meine Liebe zu ihr nicht gegangen sein, sonst hätte ich den Zweifel nicht lange ertragen. Und auch heute habe ich keine Gewißheit darüber, ob ich hinter ihrem Sarge hergegangen bin oder nicht.


In meinem Verhältnis zu den Litauern war es inzwischen zu einer Katastrophe gekommen. Und das geschah so: Uns Jungburschen war befohlen, den Gesangstunden beizuwohnen,[214] die zweimal wöchentlich mit den Füchsen abgehalten wurden, damit sie das Gröhlen aus dem ff erlernten. Gehorsam unterzog ich mich der Verpflichtung, die diese Anordnung mir auferlegte. Und als ich eines Tages versunken in Kummer um mein verlorenes Lieb und auch in anderen Kummer, der in dem letzten Briefe meiner Mutter seine Ursache hatte, als ich in dieser Stimmung fröhliche Lieder mitzusingen mich außerstande sah und mich ein wenig vertrotzt dessen weigerte, wurde in der nächsten Versammlung meiner Unbotmäßigkeit wegen eine offizielle Rüge gegen mich beantragt. Ich erhob mich, und statt wie ein anderer, der des gleichen Verbrechens angeklagt war, bereuend zu Kreuze zu kriechen, hielt ich eine donnernde Rede gegen die unerhörte Sklaverei, der wir als freie Burschen ausgesetzt seien. Die erste Folge hiervon war, daß mein Mitschuldiger freigesprochen wurde, ich aber meine Rüge erhielt – und eine weitere Folge, daß ich die Versammlung verließ, mein grün-weiß-rotes Band fein säuberlich in ein Briefkuvert tat und meine Austrittserklärung dazulegte.

Nun war ich frei. Nun durfte ich über vierundzwanzig tägliche Stunden nach meinem Belieben verfügen. Nun war es kein Verbrechen mehr, Dramen zu schreiben, und wer mich damit verulkte, der sollte sich nur in acht nahmen!

Ja, frei war ich. Aber einsam auch. Meine Zimmernachbarn schritten mit steifem Gruße an mir vorbei, und selbst mein Freund Reubekeul ließ sich nirgends erblicken. Ihn aufzusuchen vermied ich, denn ich wußte ja nicht, wie er sich zu mir zu stellen gewillt war.

Lange Wochen blieb ich so für mich allein. Aber dann hat er sich wieder eingefunden und ist mir treu geblieben bis ...

Er und ein anderer. Mein Heimatsgenosse Vangehr, den ich heute noch zu meinen lieben Freunden zähle. Er lebt als Arzt in Tilsit und hat beim zweiten Russeneinfall das seltene Schicksal gehabt, daß er, von einer Wöchnerin kommend,[215] nur mit einem Regenschirm bewaffnet, zwischen zwei kämpfende Schlachtlinien geriet, die er tapfer durchquerte, ohne daß eine Kugel ihn traf.

Alle anderen sind mir verschollen. Verschollen wie die Landsmannschaft Littuania selbst.

Mit einem aus ihren Reihen bin ich im folgenden Winter noch aneinandergeraten. Er hieß Fink, war Philologe in älteren Semestern und hatte, solange ich das Band trug, zu denen gehört, die mir eine, wenn auch geringschätzige, Freundschaft entgegenbrachten.

In einer Kneipe am Schloßteich, wo er und ich von Universitäts wegen unseren Mittagstisch erhielten, mußte ich öfters mit ihm zusammentreffen, und da er mich mehr denn je für Freiwild hielt, so höhnte er vom Nachbartische aus nach alter Weise gegen mein Dramenschreiben los.

Ich hörte den Stachelreden eine Weile zu, dann, als er aufstand, trat ich an ihn heran und sagte, um kein Aufsehen zu erregen, so leise als möglich: »Ich seng dir auf.«

Dies war die zünftige Formel, die eine Contrahage einleitete.

Und da er im Bewußtsein seiner zehn oder zwanzig glücklich bestandenen Mensuren hell auflachte, fügte ich höflich hinzu: »Auf Pistolen.«

Nun war die Reihe, ernst zu werden, an ihm. Denn ein Pistolenskandal wurde nirgends gern gesehen und drohte mit schwerwiegenden Folgen.

Es gelang mir, zwei ansehnliche Kartellträger zu finden, und die Goten, an die ich mich wandte, versprachen mir ihre Waffen.

Nach langen Verhandlungen und weil eine eigentliche Beleidigung nicht vorlag, kam eine Herabmilderung auf Schläger zustande, und so trat ich mit verbissenem Rachegefühl gegen die Farben an, unter deren Obhut ich so viel Unbill hatte erdulden müssen.[216]

Robert Hessen, mein Idol, schnallte selber den Sekundantenschurz um, und dann konnte es losgehen.

Aber wir taten uns nichts. Fink schlug seine Tiefquarten flach, und ich hatte meine Terz inzwischen verlernt. Als wir abtraten, war meine linke Backe dermaßen zerplatzt und zerschunden, als hätte man mich mit einem Reibeisen verprügelt. Hessen hielt mir einen Spiegel vor, und wir alle lachten.

Aber die Litauer grüßten mich fortan mit größerer Hochachtung, als es jemals geschehen war.


Um das Glück der neuerrungenen Freiheit voll zu machen, kam aus Elbing die Nachricht, daß von den russischen Verwandten die erbetenen tausend Rubel eingetroffen seien, die zu meiner Verfügung stünden.

Zwei sorglose Semester lagen vor mir, die nach Kräften ausgenutzt werden konnten.

Zuerst mit Dichten. Die Fertigstellung der »Tochter des Glücks« mußte beeilt werden, denn wenn auch der drohende Tod wieder in den Hintergrund getreten war, Fährlichkeiten blieben genug, die der Vollendung im Wege standen.

Sodann mit Arbeiten. War ich auch leidlich bis zum Semestralexamen gediehen, unendlich viel mußte nachgeholt werden, das durch die Kneipe und das »Im-Korbe-Liegen« verschlungen worden war.

Von meinen Lehrern schweige ich. Denn auf mich wartet seit vierzig Jahren ein Roman »Der tolle Professor«, in dem die meisten von ihnen eine Rolle spielen. Ich darf deshalb ihre Namen nicht an die Wand nageln. Wenn mir das Schicksal noch ein Jahrzehnt der Arbeit beschert und die Hexe, die sich Bühne nennt, gewillt ist, mich aus ihren Klauen zu lassen, soll er nicht ungeschrieben bleiben.

Wie jeder junge Student lief ich hinter den Ansichten her, die mir vom Katheder zugeworfen wurden, gleich einem[217] schnuppernden Hündchen. Ich habe auf Lachmanns Liedertheorie geschworen wie der Christusgläubige aufs Evangelium und Holtzmann und Zarncke darum in Grund und Boden verachtet. Ich habe Hegel vergöttert, für den ich ein Jahr später, als ich in Dührings Hände gefallen war, nicht genug Schimpfnamen fand. Nur im Angelsächsischen und Altfranzösischen ging alles friedlich zu – wohl, weil ich die Achseln darüber zuckte. Aber diese Verachtung hat sich noch bitter an mir gerächt.

Wenn ich an jenen letzten Winter meines zweiten Jahrzehnts zurückdenke, habe ich eine Empfindung von Glockenläuten und kaum zu ertragender Seligkeit.

Alles war gut, alles war geordnet; ich lernte, ich dichtete, ich lebte im Überfluß. Zu dem Wechsel, den mir die russischen Gelder gewährten, kam als willkommene Zubuße der Ertrag etlicher Lehrstunden, die reichlich bezahlt wurden und die ich mir an Stelle des fehlenden Vesperkaffees mit einer Tüte Knackmandeln heimlich versüßte.

Und dann ging es heim und an den Schreibtisch.

Um acht drohte ich schläfrig zu werden. Da aber selbstverständlich die Nacht durchgearbeitet werden mußte, so braute ich mir aus einer Menge von Teeblättern ein schwarzbraunes Höllengetränk, das für die nächsten zehn Stunden ein jedes Schlafbedürfnis zur Lächerlichkeit stempeln mußte.

Doch so robust war meine Natur, daß ich schon wenige Minuten nach dem Genuß dieses Giftes mich sanft in meinem Lehnstuhl zurechtrückte und nach traumlosem Schlummer erst wieder zu mir kam, wenn die Wanduhr mit dumpfen Schlägen sechse schlug.

Und das nannte ich wieder einmal »die Nacht durcharbeiten«.

Dann aber heidi an die nächste Szene! Denn um neun begann das Nibelungenkolleg.
[218]

Die Tochter des Glücks.

Drama in fünf Akten und einem Nachspiel

von Hermann Sudermann.


So stand – und steht – ganz schlicht auf dem Titelblatte des Manuskripts zu lesen.

Das liegt noch heute in meiner Schublade, aber: ich warne Neugierige. Was sich in sauberster Schönschrift darin offenbart, ist ein unfaßbarer Mist.

Ursprünglich mag ein ziemlich vernünftiges schlechtes Stück dahintergestanden haben – der Freytagschen Valentine frei nachempfunden –, in Sprache und Handlung roh genug, doch für die Vorstadtbühnen jener Zeit immerhin noch geeignet. Dann aber fand ich die Sprache zu wenig dichterisch und machte mich daran, jeden Satz und jede Wendung bildlich aufzuplustern, so daß sie meiner Hoffnung nach dem Stil der »Räuber« immer näher kamen. Und erst dann gab ich mich endlich zufrieden, wenn ich jede Spur von natürlicher Sprechweise ausgewischt und an ihre Stelle Klumpen verschwefelter Phrasen gesetzt hatte.

Ein Demokrat und Selfmademan von unerbittlicher Vornehmheit der Gesinnung war der Held. Daß er dem Schriftstellerberuf angehörte und in hoffnungsloser Liebe zu einer Grafentochter entbrannt war, versteht sich von selbst, wie auch, daß er zum Schlusse unter starkem Verbrauch von himbeerfarbener Beleuchtung mit ihr zusammenkam. Als neues ethisches Prinzip hingegen mag dem neuen Deutschland zur Nachachtung empfohlen sein, daß er, um sein Lebenskämpfertum als besonders kraftvoll zu erweisen, mit Stolz von sich bekennen konnte: »Und wenn mich hungerte, dann stahl ich.«

Über das künftige Schicksal meines Jugendwerkes war ich mir seit langem im klaren. Man erinnert sich vielleicht, daß mich in meiner Tertianerzeit eine wilde Schwärmerei zu der Tragödin Hermine Claar-Delia gepackt hatte und daß ich[219] schon damals zu dem Entschluß gediehen war, ihr dereinst mein erstes Drama als schuldigen Tribut zu Füßen zu legen. Jetzt hatte die Glocke geschlagen, das Versprechen einzulösen, das all die Jahre über in mir lebendig geblieben war.

Aus den Zeitungen wußte ich, daß ihr Gatte, der Direktor Emil Claar, das Berliner Residenztheater leitete. Darum ergab es sich von selbst, daß ich ihm als erstem meinen Schatz in die Hände legte. Mußte er nicht, sobald er auf dem Widmungsblatt die Worte gelesen hatte: »Hermine Claar-Delia verehrungsvoll zugeeignet«, eine Ehrenpflicht darin erblikken, dem Autor eines Werkes, das gleichsam zu ihm in Familienbeziehungen getreten war, das Tor zu seiner Bühne dienstfertig aufzureißen?

Im Hinblick auf die demnächstigen Aufführungen ging ich daran, noch ein anderes Manuskript herzustellen, das gleichzeitig dem Regisseur zur Unterlage dienen sollte, und da ein solcher Mann viel Platz braucht, um seine szenischen Bemerkungen niederzuschreiben, ließ ich weiße Ränder frei, deren Falz, ähnlich wie in Eingaben an die Behörden, die Bogen fast in der Mitte teilte. Dieses zweite Manuskript sandte ich gegen die Osterferien hin nach Berlin an die Direktion des Residenztheaters ab und fügte ein Schreiben hinzu, in dem ich erklärte, daß ich demnächst selber nach Berlin kommen würde, um das Schicksal meines Werkes aus nächster Nähe zu verfolgen.

Denn das eine stand mir längst schon außer Zweifel: Die enge Provinzhauptstadt konnte als Wirkungskreis für mich fortan nicht mehr in Frage kommen. Für Männer wie Felix Dahn und Ernst Wichert mochte sie gut genug sein. Ich hatte die Pflicht, mir ein größeres Königreich zu suchen.

Die Hälfte der tausend Rubel war noch übrig, und für die weiteren Bedürfnisse mußte die Einnahme sorgen, die sich aus den Aufführungen meines Stückes von selber ergab.

Übrigens war ich auch als Lyriker nicht zu verachten. Die[220] Verse, die ich auf meinen Spaziergängen erdachte und in den weniger belangvollen Kollegstunden heimlich niederschrieb, füllten bereits ein stattliches Heft. Sie legten von der Verzweiflung, mit der ich dem menschlichen Dasein als solchem gegenüberstand, ein herzzerreißendes Zeugnis ab.

Es fehlte mir auch nicht an verständnisvollen Seelen, die sie zu würdigen wußten. Da war zum Beispiel die Familie eines Postsekretärs, bei dessen Verwandten ich ein möbliertes Zimmer innehatte. In ihrer Mitte gab ich meine jüngsten Erzeugnisse mit Vorliebe zum besten, und noch erinnere ich mich des schmerzvollen Staunens, mit dem diese guten und gläubigen Seelen mich anstarrten, wenn ich stramm und drall in meinem Lehnstuhl lagernd – während Lebenskraft und Liebeslust mir aus den Augen spritzten – mit melancholischem Tonfall von dem Elend als meinem einzigen Freunde sprach. Daß dieses Elend sich in höchst verwerflicher Weise auf das Participium praesentis »erwählend« reimte, will ich nur nebenbei bemerken.

Auch in der literarischen und der Kunstkritik begann ich mich, zu betätigen. Und als in dem ehrwürdigen Moskowitersaal, der schon die Kreuzritter zwischen seinen Wänden hatte wandeln sehen, die winterliche Kunstausstellung eröffnet wurde, war ich beflissen, mich über modernste Malerei in gönnerhafter Weise schlüssig zu machen.

Man sehe folgendes Bild: Ein hochstämmiger und flaumbärtiger junger Bengel, der, ein flottes Jägerhütchen schief in das Wuschelhaar gedrückt, auf blitzenden Kanonenstiefeln selbstgefällig durch die Gänge stampft, eifrig Notizen in sein Merkbuch schreibend, weil er von dem Ehrgeiz entflammt ist, für einen Rezensenten gehalten zu werden. Ich glaube, man wird einige Arbeit haben, sich vorzustellen, daß daraus noch etwas Ernsthaftes hat werden können.

Und mehr Arbeit noch zu glauben, daß ich gerade damals durch die hohe Zeit der ersten Weihen ging. –

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 202-221.
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Das Bilderbuch meiner Jugend
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Das Bilderbuch meiner Jugend: Roman einer Zeit

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