Fünfzehntes Kapitel

Das Nachtlager auf der Diele

[265] Wer weiß, wo die Auguststraße liegt?

Nicht viele Bewohner des Berliner Westens sind Kenner jener fernen Gegenden, in denen das Armeleutstum, unbeirrt durch die Gesetze, mit denen Luxus und Mode die Welt begnaden, den Kampf um das tägliche Brot als Jagd nach dem Glücke betrachtet.

Dort, um das Rosentaler Tor und den Koppenplatz herum, erstreckt sie sich graudunkel und menschenarm, denn der Wellenschlag des geschäftlichen Hochbetriebs gleitet an ihr vorüber.

Die Nummer 36, in deren Obhut ich mich begab, gehört zu einem für jene nördlichen Verhältnisse sauber und sittig gearteten Mietshause, dem zur größeren Bequemlichkeit seiner Insassen ein Leihamt gleich auf dem Hofe erblühte. Und jedesmal, wenn ich beim Betreten des Hausflurs durch das weitleuchtende Schild an seine Nähe erinnert wurde, faßte ich rasch nach der Stelle meines Leibes, wo eine kreisrunde Härte mir den Besitz meiner Taschenuhr ruhebringend bestätigte.

Bis eines Tages – doch davon später.

Hoch oben, wo etliche von leeren Blumenkästen umfriedete Mansardenfenster das graue Schieferdach durchbrachen, wurde eines, das auf der linken Ecke, mein Ausguck, meine Warte, mein Herrschersitz hoch über der mich umgebenden Welt.

In der dazugehörigen Nische stand der mit Wachstuch bezogene Tisch, von dem aus ich sie mir untertan zu machen gedachte und an dem ich fürs erste vor ihren Fährnissen geborgen[266] war. In dem schmalen, fünf Schritte langen Raum, der auf sie mündete, war gerade noch Platz für ein Bett, einen Kleiderschrank und eine in den Ofenwinkel gepreßte Kommode, die zugleich als Waschtisch zu dienen hatte.

Zwölf Mark mit Bedienung und Morgenkaffee. Das billigste, das zu haben war.

Und das glücklichste zugleich, das ein segnendes Schicksal mir bescheren konnte.

Denn das Menschenhäuflein, dem ich als Inhaber dieses Raumes anheimgegeben war, wurde für lange Zeit die befreundete und zu mir gehörige Sippe, in deren Schutze ich vor den Schauern der Fremde sicher war.


Achtenhagen


Schneidermeister


stand auf dem ovalen Porzellanschild zu lesen, das auf der Flurtür prangend alle Einkleidungsbedürftigen zum Nähertreten einlud. Und dieses Nähertreten lohnte sich, denn der graubuschige Mann mit dem hängenden Schnauzbart und den weichen, ein wenig verlegen blickenden Augen, dem man seine Wünsche kundtat, war viel zu gutherzig und viel zu zaghaft, als daß er seinen Gegenwünschen den entsprechenden Nachdruck hätte verleihen können. Man zahlte oder man zahlte auch nicht, und meistens wählte man das letztere Teil. Und darum kam er auch nie auf einen grünen Zweig.

In der sonndurchglühten Hinterstube saß er mit seinem Alt- und seinem Junggesellen – zwei Würden, die während der stilleren Jahreszeit in ein und derselben Person zusammenliefen – auf dem großen, weißblinkenden Arbeitstische von frühmorgens bis spät in die Nacht und maß und heftete und heftete und maß, bis ihm selbst eines Tages – doch das kam noch lange nicht – zum letzten bretternen Anzug Maß genommen wurde.[267]

Neben ihm ging eine noch junge, blasse Frau mit unwahrscheinlich schönen, dunklen Augen stillächelnd ihres Wegs und sorgte, ohne daß man sie hörte, für peinlichste Ordnung. Zwei liebe Jugens, die annoch die Gemeindeschule besuchten, rüsteten sich gerade zum Flug ins große Leben. Weit konnte ihr Ehrgeiz sie nicht tragen, denn Mittel zur Ausbildung waren nirgends vorhanden. Aber Schleichwege, sich emporzuschwingen, gibt es in der Weltstadt wohl immer: – mit dem Handwerk beginnt man, im Künstlertum endet man. – Und so ist der älteste ein tüchtiger Maler geworden, der von der Königlichen Porzellanmanufaktur aus in den Kampf der Schulen eintrat und dessen Name in den vergangenen Jahrzehnten öfters genannt wurde.

Auch zwei Mädelchen waren da. Das ältere eine niedliche Jöhre, die, den Schulranzen schwingend, mit spottsüchtig herausfordernden Augen an mir vorüberging. Das jüngste, das Nesthäkchen, Mutters Liebling und alsbald dem einsamen Studenten Spielgefährte und Sonnenschein – mit der süßen Naseweisheit der Vierjährigen wie mit einem Zaubermantel angetan.

So war das Völkchen beschaffen, dessen Leben ich fortan teilte. In dem »Berliner Zimmer«, das mir als Durchgang diente, wenn ich in meinen Winkel gelangen wollte, schliefen sie alle, die Eltern hinter dem dreiteiligen Schirm im schmalen Ehebett, die andern auf abends hergerichteten Lagern am Boden kampierend. Und oft, wenn ich spät abends von meinen Streifzügen heimkam, schlich ich auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem an ihnen vorüber, von dem ängstlichen Ehrgeiz beseelt, niemandes Schlummer zu stören.

Aber ab und zu trat ich einem doch auf die Finger. –

Daß für mich in Not und Stille ein neues Leben begonnen hatte, das fühlte ich vom ersten Augenblicke an, in dem die saugende Berliner Luft mich wieder umströmte.

Der Leichtsinn vergangener Jahre war abgetan, alle Kräfte[268] des Leibes und der Seele strafften sich in Kampfbereitschaft drohenden Schicksalen entgegen.

Die einzige Zuversicht in diesem hilflosen Alleingelassensein war Hans Hopfen. Mein einziger Gedanke bei Tag und Nacht war Hans Hopfen. Nie hat ein hoffender, bangender Mensch der helfenden Gottheit ängstlicher entgegengezittert, als ich – Hans Hopfen.

Doch ehe ich vor ihn trat, mußte mein Verhältnis zur Universität geregelt sein. »Wegen Unfleißes gestrichen«! Unter dieser Überschrift war ja auch ich am »Schwarzen Brett« angeprangert gewesen.

Die Reinwaschung meiner Ehre ging über Erwarten glatt vonstatten. Niemand rügte mich, niemand fragte mich – im Nu war ich von neuem akademischer Bürger und durfte mich in Hörsaal und Bibliothek so heimisch fühlen wie jeder andere, der, anstatt über Winter im litauischen Hinterwalde darbend hinzudämmern, sich's an den Brüsten der Alma mater hatte wohl sein lassen. Erst als die Vorlesungen im Gange waren und ich meinem Gönner über deren Charakter Rede stehen konnte, trat ich eines sonnigen Mainachmittags in pfingstlicher Erwartung die Fahrt zu seiner Wohnung an.

»Rosentaler Tor – Askanischer Platz« stand an der Stirnseite des Omnibus geschrieben, um den ich schon oft herumgegangen war, da er mich dem ersehnten Ziel entgegenführen sollte.

Ungeheure Ziegelkonstruktionen, himmelanstrebende Gerüste und daranklebende Menschenleiber empfingen mich dort: der Anhalter Bahnhof wurde gerade gebaut.

Und ihm gegenüber stand das Haus, in dem meine Zukunft Anker geworfen hatte. –

»Der Herr Doktor lassen bitten.«

Ein weites, in gedämpftem Sonnenüberfluß purpurn erglühendes Zimmer tat sich vor mir auf. – Wo hatte ich dergleichen schon gesehen? Richtig! Bei dem Direktor des Residenztheaters[269] – da hatten die türkischen Teppiche als Diwandecken, als Kissen, als Vorhang, als Moospolster unter meinen Füßen ganz ähnlich geleuchtet.

»So also wohnen die Dichter!« fuhr es mir durch den Kopf.

Aus dem engeren Raume, der dahinter lag und von dem her in mattgelber Lieblichkeit eine Marmorfrau mir wie lebend entgegengrüßte, löste sich eine kleine Gestalt mit rotem Rübezahlbart und funkelnden Brillengläsern und trat prüfend vor mich hin.

»Also da sind Sie ja.«

Meine Hand umklammerte die seine. Alle Inbrunst, die in mir aufgespeichert lag, preßte sich in diesen Druck.

»Na – und was mach ich nun mit Ihnen?«

Hätte ich es nur zu sagen vermocht! Ihn sehen, ihn hören, ihm dienen, die Luft atmen, die er atmete – mir wäre geholfen gewesen.

»Meine Frau hat Anteil an Ihnen genommen – ich glaube, das schrieb ich Ihnen schon – Nein? ... Mir war so ... Wollen Sie sie sehen ...?« Und er führte mich vor die lächelnde Marmorfrau, deren Urbilde ich schon lange in weher Andacht zugehörig gewesen. – »Das hat Begas gemacht ... hat viel von ihrem eigensten wiedergegeben ... ja – wie man das verwinden wird!«

Sein Blick versteinte, während mir ein gutgemeintes Trostwort auf den Lippen erstarrte.

Und dann sich wieder mir zuwendend:

»Es ist nicht leicht, Ihnen zu helfen ... Mit zwanzig Jahren kann man gewöhnlich noch nichts ... Oder haben Sie vielleicht was Erzählendes da, das ich mit einem empfehlenden Wort an die Blätter senden könnte, mit denen ich in Verbindung stehe?«

Ich mußte bekennen, daß ich außer einigen Fragmenten – ich sagte »Fragmenten« – nichts geschrieben hätte, das in Frage käme.[270]

»So setzen Sie sich hin und schreiben Sie was. Das will ich dann unterzubringen suchen.«

Damit war mein Schicksal gesprochen.

Was scherte mich Studium! Was scherte mich Kolleg! Wie aus Wolkenhöhen herab hatte eine Hand sich mir entgegengestreckt, mich zum Parnaß emporzuheben. Nun hieß es, sie ergreifen! Alles andere sank ins Nichts zurück.

Taumelnd vor Glück rannte ich quer durch die Stadt zu Fuß nach Hause. Einmal, weil meine Erregung mich auf dem Verdecke nicht geduldet hätte, und dann auch, um die zehn Pfennige zu sparen. Denn nun galt es, jeden Groschen zu Rate zu ziehen, bis das Werk, das große, das erlösende, vollendet vor mir lag.

Der Stoff bereitete mir wenig Kopfzerbrechen. Wie aus dem Nichts entsprungen stand er vor mir da. Handlung, Gestalten, Landschaft, Szenenfolge, alles von einer unsichtbaren Göttin mir auf den Gabentisch gelegt. Und nichts weiter blieb mir übrig, als die Fülle der Gesichte durch Niederschrift zu bannen, ehe sie wieder verflatterte.

In einem weltentlegenen Neste nahe der russischen Grenze hatte ein dunkler Ehrenmann sich angefunden, auf einen polnischen Adelsnamen hörend und aus der großen Welt verschlagen, deren Sitten und Manieren er mit trübsinniger Skepsis durch die Spießerwelt spazierenführte. Wovon er lebte, wußte niemand. Aber, um es gleich zu verraten, ein Gentleman- Schmuggler war er – »Schieber« würde man heutzutage sagen, da längs all unserer Grenzen dies Waidwerk blüht.

Und in dem gleichen Neste lebte eine stille, edle Frau, von einem rohen Gatten mißhandelt, dem sie von gewinnsüchtigen Verwandten schmählich verkauft worden war. Diese beiden Verlorenen fanden sich – vereinsamte Seelen, denen das Schicksal schließlich im Tode Gemeinsamkeit gönnte.

Man wird unschwer erkennen, woher ich meine Modelle bezogen[271] hatte. Der edle Pole war ich, und für das geliebte Weib hatte eine Verschmelzung der zwei mir in jüngster Zeit begegneten Frauengestalten willig Gevatter gestanden.

In vier Wochen sollte das Werk vollendet sein. Darum – dalli!

Eine Arbeit von achtzehn Stunden täglich war nicht zu hoch gerechnet. Vier Stunden mußten für den Schlaf genügen – Friedrich der Große war ja mit noch weniger ausgekommen –, je eine Stunde für den Mittags- und den Abendgang, und was dann übrigblieb, gehörte dem Schreibtisch.

Aber diese Rechnung hatte ein Loch. Der junge, gesunde und schlafbedürftige Körper wollte sich den an ihn gestellten Ansprüchen nicht fügen. Legte ich mich des Abends nieder, so war an ein Erwachen vor sechs oder sieben nicht zu denken, selbst die lärmende Tätigkeit der entliehenen Weckuhr erwies sich als ein Versuch am untauglichen Objekt.

Diesem Unfug mußte ein Ende bereitet werden. Und da das Bett mit seiner weichlichen Matratze jedem Sybaritentum unverhohlen Vorschub leistete, so ergab es sich als schlichte Forderung des Tages, daß man auf seine Benutzung verzichtete.

Legte man sich hingegen auf die nackte Diele, so sorgten die schmerzenden und durchfrorenen Glieder ganz von selber dafür, daß man mit Tagesanbruch auf den Beinen war.

Und so geschah's. Um elf lang hingeworfen – ein Kissen ins Genick, eine Jacke über die Schultern – und um drei mit einem Auffschrei in die Höhe.

Um sieben kam der Kaffee – das, was man nicht bloß in Sachsen mit liebenswürdigem Euphemismus »Kaffee« nennt – eine dünnbestrichene Semmel dazu – und dann mit Gottes Hilfe weiter bis zwölf!

Um die genannte Stunde – und früher schon – stellte ein Zittern sich ein, das der Handhabung des Federhalters entschiedene Schwierigkeiten bereitete. Doch dieses Übel ließ sich[272] heilen, indem man rasch bestiefelt den Weg zur »Speiseanstalt« antrat.

Diese Speiseanstalt, die beliebte Zufluchtsstätte aller mit Glücksgütern weniger Gesegneten, befand sich an der Ecke der Friedrichstraße und der Dorotheenstraße – es kann auch die Mittelstraße gewesen sein, ich weiß es nicht mehr genau – und lieferte für fünfzig Pfennige eine klare – allzuklare – Suppe, eine Scheibe Fleisch, deren weitreichende Oberfläche über die Geringfügigkeit ihrer dritten Dimension tagtäglich aufs neue hinwegtäuschte, und einen Berg Kartoffeln dazu, der jeglichen Mangel ausglich. Brot nach Belieben. Kurz, man wurde satt oder glaubte doch wenigstens, sich einreden zu dürfen, daß man satt war.

Dann zurück an die Arbeit, die gegen die Abendstunde hin die Formen der Ekstase annahm. Die Backen brannten, die Feder flog, und durch die Nische schwirrten Bilder, die immer handgreiflicher wurden, je röter die Dämmerung sich neigte.

Nun hieß es Schluß machen, und der Weg zur Speiseanstalt wiederholte sich.

Die Abendmahlzeit kostete nur vierzig Pfennig, war aber dafür um so reichlicher bemessen: drei Spiegeleier – ich will nicht schwindeln, aber in meiner Erinnerung lebt die heilige Dreizahl – ein Haufen Salat und Bratkartoffeln gar nicht zu zählen.

Und jetzt folgte eine Charakterschwäche, die ich nicht verschweigen darf: Zu dem Tagesprogramm gehörten noch zwei letzte Arbeitsstunden, die die pflichtgemäße Ziffer voll zu machen hatten. Aber ich glaube, ich habe sie während des ganzen Sommers nicht ein einziges Mal innegehalten.

Allzu heftig hämmerte das Blut in den Schläfen, allzuviel süße Mädelchen liefen, des Anschlusses dringend bedürftig, auf den Bürgersteigen herum oder füllten die Bänke im Friedrichshain und im Tiergarten, als daß ich mich in meiner heißen[273] Bude einsam verschließen durfte. Hätte ich den lieben Kindern noch ein Glas Bier bezahlen können – ich wäre restlos glücklich gewesen. Manchmal freilich geschah es doch. Aber heftige Gewissensbisse waren die unausbleibliche Folge, denn der Wettlauf zwischen der sich leerenden Kasse und dem sich häufenden Manuskript wurde aussichtsloser von Tag zu Tag. Andererseits aber brachte die eine Stunde verliebten Geplauders oftmals Kraft und Frische für den kommenden Tag. Der Heimweg wurde zum Fest und das Einschlafen auf harter Diele ein Reigen lieblicher Bilder.

Morgens um drei begann der Tanz dann aufs neue.

Die vier Wochen waren längst vorüber, und noch lag die Vollendung der Arbeit in weiter Ferne. Eine kurze Novelle hatte es sein sollen, ein weitläufiger Roman wurde daraus. Das schlimmste aber war, daß ich das Manuskript mit seinen Unleserlichkeiten keinem Prüfenden zur Durchsicht anbieten konnte; eine abermalige Niederschrift war unumgänglich notwendig, sollte das Geschaffene nicht ewig mein Geheimnis bleiben. Der Herbst konnte herankommen, ehe ich imstande war, das fertige Werk stolz und verschämt in die Hände meines Gönners zu legen.

Meine Barschaft aber ging zu Ende? Was tun? Sich durchhungern natürlich. Einen andern Ausweg gab es nicht.

Zu Anfang Juli war es, als ich die Schlemmerei in der Speiseanstalt engültig zum Teufel schickte. An ihre Stelle traten vier Schrippen, die insgesamt für zehn Pfennige zu haben waren und die ich mit vorausschauender Weisheit so einteilte, daß anderthalb bis zwei für die Abendmahlzeit übrigblieben. Es war stets ein kritischer Augenblick, wenn um die Mittagszeit der für das Nachtmahl dienende Vorrat in der linken Ecke der obersten Schublade aufgestaut wurde. Und manchmal war er um vier Uhr doch schon verschwunden.

Hierzu gönnte ich mir eine Zukost, deren Folgeerscheinung, das Magendrücken, mit dem Sattsein eine erfreuliche Ähnlichkeit[274] hatte. Das war die sogenannte »Bruchschokolade«, die zwar sandig und ranzig schmeckte, aber immerhin Schokolade war und von der es für zehn Pfennige eine ganze Tüte voll gab.

So ganz schlecht konnte sie übrigens nicht sein, denn das kleine Lieschen hatte eine ausgesprochene Vorliebe dafür, die kaum zu stillen war.

Gegen die Stunde der Abendmahlzeit hob sich die Türklinke, und mein kleiner Liebling erschien auf der Schwelle, um, jeder konventionellen Lüge bar, den gewohnten Tribut für sich einzufordern. Und dann gab es eine wahrhafte Feierstunde. Ihre Puppe hatte sie gleich mitgebracht, und da wir beide nicht geizig waren, so fütterten wir sie gemeinsam.

Aber eines Abends kam das kleine Lieschen nicht mehr. Sie lag auf dem grünen Sofa und erklärte, sie habe keinen Appetit und man möge sie in Ruhe lassen.

Und ein paar Tage später erklärte sie auch das nicht mehr, sondern lag still mit halbgeschlossenen Lidern und träumte vor sich hin.

So ging es etliche Wochen lang. Der Arzt kam und verschrieb Medizinen, die Mutter saß vor sich hin starrend dem kranken Kinde zu Füßen, und ihre großen Augen wurden immer noch größer. Wenn ich schlafen ging, saß sie da, und wenn ich in der Morgendämmerung aufstand, saß sie noch immer da. Ich mochte dann noch so sehr beteuern, ich würde bei offenbleibender Tür auf die Kleine schon Obacht geben, sie rührte sich nicht.

Und wieder kam ein Abend, da gingen wir alle nicht schlafen, denn das kleine Lieschen, das sonst so artig gelegen hatte, wollte durchaus vom Sofa herab und hatte Schaum vor den Lippen.

Und als sie endlich Ruhe gab, da war sie gestorben.

Kopflos lief ich zu dem nahe wohnenden Arzte, der sehr böse darüber war, daß ich seine Nachtruhe störte, aber doch[275] schließlich mit mir kam, um uns als Neuigkeit mitzuteilen, was wir lange schon wußten.

Und die Mutter fiel in Krämpfe.

Am Begräbnistage ließ ich meinen Schreibtisch im Stiche – der liebe Gott verzieh mir auch dieses – und fuhr mit auf den Kirchhof. Wir waren vier Männer, die wir den kleinen Sarg auf dem Schoße hielten. Und August, der Älteste, saß auf dem Bock. Den Pfarrer hatte man sich gespart, erstens, weil wir alle Sozialdemokraten waren, und zweitens, weil die Sache ohnehin schon viel kostete. Und es ging ja auch so.

Dann tranken wir noch rasch eine Weiße mit Himbeer, und ich aß heimlich meine Bruchschokolade dazu, die nun niemand mehr mit mir teilte.

Als wir zu Hause ankamen, stand in der offenen Türe die Mutter, die wegen ihrer großen Schwäche nicht hatte mitfahren können, und schaute uns gierig entgegen, als hätten wir ihr noch wunder was für Nachricht zu bringen. Aber viel zu erzählen wußten wir nicht. Und eine halbe Stunde später saßen die Männer wieder auf ihrem Schneidertisch und ich vor meinen Schreibereien.

Die Mutter hat sich von diesem Schlage nie mehr erholt. Ihr Lächeln wurde zu Eis, und wenn ich das Wohnzimmer durchquerte, saß sie vor offenen Schubladen und streichelte Röckchen und Puppen.


Der Hochsommer kam und mit ihm die ersehnte Umschrift des fertig gewordenen Werkes.

Mein Nachtquartier hatte ich wieder ins Bett zurückverlegen müssen, denn wenn ich nun von der Diele aufstand, vermochte ich nicht mehr, mich zu erwärmen, vielleicht, weil die Nächte kühler wurden, vielleicht auch, weil der Mangel an richtiger Nahrung mich blutarm gemacht hatte.

Einmal war ich in der Friedrichstraße Neumann begegnet, der als Hauslehrer bei dem Parfümeriehändler Schwartze[276] gute Tage durchlebte. Er hatte mir einen Taler geliehen, und infolge des mir angeborenen Leichtsinns war ich damit sofort in die Speiseanstalt gegangen. Aber das ungewohnte Essen bekam mir schlecht. Schwere Magenschmerzen überfielen mich und hörten nicht auf, bis ich das Genossene wieder von mir gegeben hatte.

Das böseste von allem war, daß ich meinen lieben Wirtsleuten Miete sowohl wie auch Auslagen seit zwei Monaten hatte schuldig bleiben müssen, und sie brauchten es selber sehr nötig.

Arzt, Medizin und Begräbnis hatten große Summen verschlungen, und Schneiderrechnungen nicht zu bezahlen, war damals, als der Herrenanzug noch sechzig Mark kostete, ein vielgeliebter Sport. Heute, da es sich um Kapitalien von zwanzig – bis fünfzigtausend Mark handelt, wird man sich besser zu sichern wissen.

Wenn ich mittags in die Küche kam, um mir frisches Trinkwasser zu holen, fiel mir auf, daß das Herdfeuer nicht brannte, und bald mußte ich zu meiner Bestürzung erkennen, daß die Familie meines Wirtes genau so schlecht lebte wie ich, nur um mich nicht mahnen zu müssen.

An diesem Tage wanderte das Letzte, was ich besaß, meine Taschenuhr, in das bequem gelegene Leihamt, wo der Winterüberzieher, der ja in solchen Fällen den Vorrang verdient, schon längst für sie Quartier gemacht hatte.

Als ich mit den sechs Mark, die ich von dem Verleiher erhalten hatte, zu meinem Wirte kam, wollte es der liebe Gott, daß ihm eben ein Sommeranzug bezahlt worden war. Darum lud er mich großmütig ein, die Summe vorerst für mich zu behalten, und das half ein tüchtiges Ende weiter.

Mit immer heftigerer Sehnsucht umkreiste ich den Omnibus, der auf dem Platz am Rosentaler Tor stand und der mir täglich einen Gruß von meinem Gönner zu bringen schien.

In mir lebte die fixe Idee, wenn ich erst so weit war, das Verdeck[277] zu erklettern, um ihm mein Werk zu Füßen zu legen, dann würden zu selbiger Stunde alle Not und alles Leid verflogen sein. Geld, Lob, Ruhm, alles würde a tempo auf mich herniederregnen. Oft sah ich ihn vor mir, wie er mich beim Anblick der dichtbeschriebenen Bogen als Freund und Bruder gerührt in seine Arme schloß. Aber bis dahin währte es noch manchen Tag. Je unbarmherziger ich mich hetzte, desto schwerer ging die Arbeit vonstatten. Die sechzehn täglichen Stunden wurden zwar immer noch leidlich innegehalten; aber die Fiebrigkeit im Hirn stieg, und für die abendlichen Streifereien fehlten schon lange die Kräfte. Gerade, daß ich mich noch zu dem nahen Koppenplatz schleppte, über dessen Bänken der Herbstwind schon raschelnde Lieder sang.


Fertig! Also jetzt war ich fertig!

Unter hießen Tränen hatte ich meine Liebenden sterben sehen. Ihr Unglück packte mich weit grausamer als damals, da sie im Konzept gestorben waren, weil meine Nerven inzwischen erheblich nachgelassen hatten.

Vereinsamt

Roman von Hermann Sudermann.

Roman! Welch ein stolzes Wort!

Da stand's und war durch nichts mehr aus der Welt zu schaffen.

Ich fuhr in die Stiefel und rannte zum Koppenplatz, weil ich in der frischen Luft meiner Erschütterung am leichtesten Herr zu werden meinte.

Es war neun Uhr abends und längst schon Nacht. Ich warf mich auf die gewohnte Bank und suchte nach einer Lehne; aber sie hatte ja keine. Darum kauerte ich mich zusammen, so daß der Rücken in den Armen eine Stütze fand, und weil die Phantasie einmal im Gange war und von der Kette des bisherigen Geschehens losgelassen nach neuer Betätigung verlangte, ersann sie mir in jener Stunde gleich drei Stoffe auf einmal,[278] die ich mit allen anderen treu durchs Leben getragen habe. Der eine hat in meinen »Litauischen Geschichten« unter dem Titel »Mix Bumbullis« seine Form erhalten. Die beiden anderen »Brot um Brot« und »Des Boskies Ende« harren noch der Niederschrift. –

Am nächsten Nachmittag um viere fuhr der Omnibus, der das Rosentaler Tor mit dem Askanischen Platze verband, nicht mehr ohne mich von hinnen.

Auf dem Verdecke hockend, hielt ich die zehn deckellosen Hefte, die mein Heiligstes auf ihren Blättern bargen, krampfhaft unter den Arm gepreßt, denn ich fürchtete, sie könnten mir durch irgendeinen Stoß verlorengehen.

In einer Stunde würde ich vor ihm stehen, ihm, dem Allmächtigen, der mein niedriges Dasein nun mit sich in die Höhe riß.

Der Anhalter Bahnhof war inzwischen mächtig vorwärtsgekommen.

Aber ich auch!

Mit demütig-stolzem Herzpochen stieg ich die teppichbelegten Treppen hinan, die von Milchglaskandelabern flankiert wurden, wie man sie aus Ölpapier geschnitten manchmal auf der Bühne sah.

Es dauerte lange, bis auf mein Klingeln hin ein Schritt sich meldete. Eine Kette wurde zurückgeschoben. Das war damals nicht gewesen.

»Der Herr Doktor?« fragte das Mädchen, den Fremden argwöhnisch messend. »Der Herr Doktor sind nicht zu Hause.«

»Wann kommt der Herr Doktor?« fragte ich, annehmend, daß ich unten auf ihn würde warten können.

»Das ist ganz unbestimmt«, erwiderte das Mädchen. »In vierzehn Tagen vielleicht.«

Meine Knie, die mich schon seit Wochen schmerzten, gaben nach. Ich sank rücklings gegen das bronzierte Treppengeländer.[279] Was nun? Ein Glück, daß ich so viel Fassung behielt, um nach des Herrn Doktors Adresse zu fragen.

»Helgoland«, war die Antwort, und dann folgte der Name eines Fischers, den ich sofort wieder vergaß.

Ratlos stand ich unten und sah mich um.

Gerade noch zehn Pfennige besaß ich. Die Frage war: Hungrig bleiben und fahren oder essen und zu Fuße gehen?

Ich wählte das letztere, kaufte mir über die schon verzehrten vier Schrippen hinaus eine große Kringel und dachte beim Essen darüber nach, wie merkwürdig die berühmten Dichter sind, daß sie, anstatt in ihren reichen und vornehmen Wohnungen zu bleiben, wo die Milchglaskandelaber schon im Treppenhause stehen, sich niedrige Fischerhütten zum Obdach wählten.

Ich freilich hätte es gern ebenso gemacht. Aber ich zählte ja noch nicht.

Als ich in die Anhalter Straße einbog, las ich über einer dunklen Haustür auf einem Schild die Worte »Deutsche Romanzeitung« und in Augenhöhe auf einem Täfelchen »Verlag von Otto Janke«.

Die »Deutsche Romanzeitung« kannte ich wohl. Sie gehörte zu dem Journalzirkel, der mein Heimatdorf mit geistiger Nahrung versah. Über ihren Nummern hatte ich schon manche Stunde in seliger Weltentrücktheit zugebracht.

Der Arm, unter dem die Schicksalsblätter ruhten, zuckte bedeutungsvoll. Rasch entschlossen trat ich ein.

Zum erstenmal im Leben stand ich in einem Verlagskontor. Der Herr, der hinter dem Auslieferungstische auf mich zutrat, jung, blond, mit kaum vernarbten Schmissen – der Juniorchef des Hauses, wie ich später erfuhr –, maß mich mit einem Blicke, der mir zu sagen schien, daß meinesgleichen ihm nicht fremd war.

»Nehmen Sie auch Romane von Anfängern?« fragte ich, erstaunt ob meines eigenen Mutes.[280]

»Wenn sie gut sind«, erwiderte er lächelnd.

»Dann kann ich mein Manuskript wohl gleich hier lassen?«

»Bitte.« Er notierte sich Namen und Adresse und fügte hinzu, ich möchte in etwa vier Wochen mal wieder nachfragen kommen.

Ich erwiderte, das wolle ich gerne, und empfahl mich, von einer neuen Hoffnung angeweht. Hätte sie nur ihrer Feindin, der Verzweiflung, nicht so verteufelt ähnlich gesehen!

Als ich nach langer Wanderung in der Auguststraße landete, schallte mir aus der Gastwirtschaft, die in dem Nebenhause blühte, ein wüstes Gegröhle entgegen, von Trompetentönen stoßweise begleitet.

Ich fragte einen in der Haustür Stehenden, was da los sei.

»Es ist die Stammkneipe der Scharfrichtergesellen«, erwiderte er, »und die feiern die heutige Hinrichtung Hödels.«

Richtig! ... Hödel – Nobiling – das alles war an mir vorbeigeglitten, als hätte nirgendwer in weiter Fremde es geträumt. Lebendiger als der alte Kaiser Wilhelm war ein anderer Monarch, der König Herodes, mir geworden; denn in den Mußestunden dieses Sommers hatte ich mir meinen »Johannes« ausgedacht.

Als ich wieder in der Nische meines Mansardenfensters saß, legte ich ein paar Briefbogen vor mich hin und schrieb in fliegenden Sätzen nieder, was ich im Laufe dieses Sommers getan und gelitten hatte, wie das ganze Luftschloß auf diesen einen Tag hin aufgebaut gewesen und wie es nun elend zusammengebrochen sei.

Zwei Marken hatte ich noch. Die klebte ich auf den Umschlag und schickte das Geschriebene nach der englischen Insel Helgoland an Doktor Hopfen ab. Ich tat das alles in einer Art von wohliger Betäubung, und als ich vom Briefkasten her durch die spätnächtigen Straßen rannte, hatte ich immerzu das Gefühl: »Wie glücklich bist du doch.«

In welcher Weise die nächsten acht Tage vergingen, weiß ich[281] nicht mehr. Ich glaube, ich habe meistens auf dem Bett gelegen und nach der Glocke hingehorcht. – Da endlich brachte der Postbote einen jener heißgeliebten und ersehnten Briefe aus braunem Büttenpapier, die ich vom vorigen Winter her wohl kannte, und als ich ihn zagend öffnete, fiel ein Fünfzigmarkschein heraus.

Viel Not ist mir beschert gewesen während meines bunten und verworrenen Lebens, und viel Gutes ist erlösend an mir geschehen. Doch keine Wohltat, wie sie auch geartet sein mochte, hat diese je verwischen können.

In dem Briefe stand:

»Mein lieber junger Freund! Was ich Ihnen hier sende, wird Ihnen ein willkommmener Beistand sein, und Sie sollen es auch redlich abarbeiten. Gehn Sie nach Empfang dieses in meine Wohnung und melden Sie sich bei meiner Hausdame, Fräulein Mathilde Jacobson. Sie ist von mir verständigt und wird Ihnen den häuslichen Nachhilfeunterricht meiner beiden Knaben in meinem Auftrag übergeben.

Ihr H.H.«


Wieder einmal war ich gerettet.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 265-282.
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