Sechzehntes Kapitel

Das Haus des Dichters

[282] Fritz und Helmut hießen die beiden, wohlgebildete und wohlerzogene Kinder, die sich der Führung des neuen Hofmeisters gern überließen. Auch ein kleines Jungfräulein lief herum, Lilli mit Namen, die mir malerisch kundtat, daß sie wenigstens nichts mit mir zu tun hatte.

Die Leiterin des Haushalts, dieselbe, auf die mein Gönner mich hingewiesen hatte, war eine nicht mehr junge Dame mit kühnem Profil, kurzsichtig blinzelnden Augen und braunem, trocknem Wirrhaar. Obwohl sie mir vom ersten Augenblicke an mit einer Art von gerührtem Wohlwollen entgegenkam, war ich doch so verschüchtert, daß es lange Zeit dauerte, bis ich erkannte, daß ich in ihr eine Freundin besaß.

Und meine Freundin ist sie geblieben, weit über die Hopfensche Zeit hinaus. Sie hat die schwersten Jahre meiner Jugend segnend begleitet. Und von den zwei Frauen, denen ich zu verdanken habe, daß ich nicht doch noch am Wege liegengeblieben bin, ist sie die eine. Von der anderen, die mich Jahre später aus dem Strudel des westlichen Berlin herauszog, wird in diesem Buche noch nicht die Rede sein.

Um fünf Uhr nachmittags, am Mittwoch und Sonnabend um drei, begann meine Pflichtenzeit. Bis dahin durfte ich mir selber leben. In der Auguststraße blieb ich wohnen, und der Omnibus, zu dem ich so lange sehnsüchtig emporgestarrt hatte, sah mich nunmehr als täglichen Fahrgast.

Eines Abends, als ich mich über den Schulheften meiner Zöglinge gerade häuslich eingerichtet hatte, wurde ich nach vorne befohlen. Der Doktor war zurückgekehrt und wünschte mich zu sprechen.[283]

In einem dunkelblauen, trikotartigen Arbeitsanzug empfing er mich und fragte mich, wie es mir in seinem Hause gefalle.

Ich dankte ihm mit Begeisterung.

»Für die Dauer können Sie ja nicht bei mir sein«, sagte er.

»Denn meine Mittel erlauben mir nicht, den Kindern einen Hauslehrer zu halten. Aber bis Sie was Besseres haben, bleiben Sie immerhin.«

Und dann erkundigte er sich nach dem Schicksal der Arbeit, von der ich ihm geschrieben hatte.

Als ich ihm berichtete, daß sie nicht weit von hier auf der Redaktion der »Romanzeitung« liege, zog er mißmutig die Brauen zusammen und sagte: »Das wird nichts. Die Leute zahlen nicht.«

Aber auf meinen bescheidenen Einwurf hin, ich möchte die mir gebotene Aussicht nicht gerne verscherzen, fügte er sich und meinte: »Gut. Warten Sie die Frist ab. Sie werden ja sehen.«

An demselben Tage durfte ich mit ihm und seiner Familie zu Tische sitzen. Und zum erstenmal im Leben umfing mich der Schimmer einer von kupfernen Arabesken durchbrochenen Hängelampe, die mir für lange Zeit das Symbol vornehmen Behagens geblieben ist.

Nach der Suppe gab es eine von Saft quellende Rinderbrust, die der Hausherr selber zerlegte, und allerhand fremde Zutaten, deren Anblick schon beseligte. Die Krone aber war der Nachtisch: goldbraune Kugeln, mit süßem Saft gefüllt, die brützelnd auf dem Tische erschienen und dann noch dick mit Zucker bestreut wurden.

Ich fühlte meinen ewigen Hunger plötzlich so arg anschwellen, daß ich fürchten mußte, in meiner Gier die Grenzen des Schicklichen zu überschreiten, und darum nahm ich fast gar nichts. Da half Fräulein Mathilde mir nach, die mich schon oft mit einem abendlichen Butterbrot begnadet hatte, und legte mir auf, so daß ich schließlich mit heißrotem Kopf und[284] in einem kaum je gekannten Glück der Fülle von der Mahlzeit aufstand.

Später habe ich oft, am Ende sogar regelmäßig, an diesem Tische gesessen, aber jenes erste Mal, das mich mit plötzlichem Schwunge aus Not und Niedrigkeit emporhob, ist mir für immer im Gedächtnis geblieben.

Vorläufig freilich ging das Darben weiter.

Die Vorlesungen des Wintersemesters hatten begonnen, und um das Versäumnis des vorigen Halbjahrs nachzuholen, füllte ich den Stundenplan von neun bis eins ganz mit Kollegien voll. Wo ich das Geld dafür hergenommen habe, weiß ich nicht mehr; vielleicht sind sie mir gestundet worden, vielleicht habe ich auch hospitiert.

Zur selben Zeit begann ich mich nach neuen Lektionen umzusehen, mit denen ich die freie Zeit zwischen eins und drei oder fünf nutzbringend ausfüllen konnte. Ich studierte den Inseratenteil der großen Blätter und fand in der Tat zwei Stellen, deren Honorar mir aussichtsvoll erschien.

Die erste führte mich zu einer Sattlerwitwe, die ihre Geschäftsbriefe von mir durchgesehen wünschte, wobei sie sich in deutscher Orthographie zu vervollkommnen gedachte. Ein grobknochiges und jähzorniges Weib, das seine Gesellen prügelte und es nicht fassen konnte, daß plötzlich jemand da war, der ihr gegenüber unweigerlich recht behielt. Als ich ihr eines Tages ein Wörterbuch mitgebracht hatte, in dem »alles drinstand«, glaubte sie, meiner nicht mehr zu bedürfen, und setzte mich an die Luft.

Die andere Stelle war ernster zu nehmen. Eine Mama, der guten Gesellschaft angehörig und selber noch von wohliger Fraulichkeit, hegte den Wunsch, ihre Tochter als Blenderin in den Salons auftreten zu sehen und wie mit erstklassigen Toiletten, so auch mit erstklassigem Esprit liebevoll auszustatten. Für das erste Bedürfnis sorgte eine bekannte Schneiderwerkstatt, für das zweite wurde ich engagiert.[285]

In der Auswahl des Stoffes war mir im allgemeinen freie Hand gelassen. Je buntscheckiger, desto besser. Literatur, Philosophie, Heraldik, Soziologie – das heißt mit Verschweigung des nicht standesgemäßen Sozialismus –, Ästhetik – das heißt mit Auslassung alles Unschönen, und unschön waren die meisten Holländer, »überhaupt der sogenannte Realismus«, unschön war sogar Michelangelo –, ferner Musikgeschichte, Ägyptologie – denn man wollte demnächst eine Reise ins Pharaonenland unternehmen –, Biologie, Mythologie, und was sonst noch an »logien« zu haben war.

Als Opfer dieses Anschlags stellte sich ein stilles, blondes Mädelchen dar, das gerne Papeterien klebte und mich während meines Vortrags mit süßen, hilfeflehenden Augen ansah.

Man glaube nicht, daß mein Amt zu den leichten gehörte. Mama selbst war nicht ohne Bildung und wußte in allen möglichen Winkeln des Wissens Bescheid, wenn sie auch gelegentlich die erstaunliche Vielseitigkeit des Maler-Philosophen Feuerbach zu rühmen verstand und von Demokrit als einem der Sophisten sprach, die man wegen ihrer Unsittlichkeit am besten ganz überginge. Sie paßte scharf auf und las selber nach, um mich hinterher zu kontrollieren.

Eine ausgiebige Vorbereitung war notwendig. Woher die Zeit dazu nehmen? Woher aber vor allem die Zeit, um für mich selber tätig zu sein?

Da gab es wieder nur ein Mittel: den Schlaf auf das Quantum Friedrichs des Großen zu beschränken und um zwei Uhr morgens auf den Beinen zu sein. Um zwei, wohlverstanden, und nicht, wie faule Leute täten, erst um drei.

Niemand hinderte mich, um neun ins Bett zu kriechen. Und wenn zu dieser Stunde rasch noch einmal nachgeheizt wurde, blieb ich sogar vor der gefürchteten Morgenkälte bewahrt.

Nun begannen wahre Orgien der Energie.

Das Aufwachen geschah ganz von selber. Ja, häufig schlief[286] ich der größeren Sicherheit halber erst gar nicht recht ein. Um Viertel auf drei am Arbeitstisch, um Viertel auf sechs mit dem Dichten gestoppt, um Viertel auf acht mit den Vorbereitungen zur Lehrstunde fertig, dann noch rasch die Kollegienhefte durchgesehen, gefrühstückt, gehantelt – diesen Genuß mag man sich ausmalen! – und dann heidi! in die Vorlesungen.

Hatte ich vier Stunden lang voll Hingabe nachgeschrieben, dann kam erst die Krönung des Ganzen: der Gang nach der Sigismundstraße zu meiner Schülerin, in die ich mich wie selbstverständlich bis über die Ohren verliebt hatte.

Aber Mama paßte auf. Und über eine, wenn auch noch so dialektfreie Augensprache kamen wir niemals hinaus.

Einmal, als ich zu kopfmüde war, um mich des Präparierten zu entsinnen, versuchte ich mich durchzuschwindeln, indem ich den Inhalt des im Kolleg eben Gehörten zum besten gab. Aber das dauerte kaum fünf Minuten, da legte sich Mama schon ins Mittel.

»Das scheint mir zu tiefgehend«, sagte sie. »Sie müssen sich überhaupt vor Gründlichkeit hüten.

Ein gewisser Oberflächenglanz muß über dem allen liegen. Denken Sie, Sie machen eine elegante Tischkonversation, wo man so sprüht.«

Nun sprüh du mal gefälligst und mach eine elegante Tischkonversation, wenn du seit zwei Uhr morgens hungrig bist und nichts zu essen kriegst.

Aber einmal kriegte ich doch zu essen, und das war gleichzeitig das Ende.

Ich befand mich gerade eifrig dabei zu »sprühen«, da wurde mir so sanft und so selig zumute. Ein Singen erhob sich ringsum, blaue Schleier legten sich mir vors Auge. Ich mußte mich rasch an der Tischplatte festhalten.

»Was ist Ihnen?« hörte ich die Stimme der Mama wie aus weiter Ferne.[287]

»Nichts«, sagte ich und markierte ein Lächeln. »Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen.«

»Ich werde Ihnen einen Imbiß holen«, sagte sie halb mitleidig und halb ärgerlich, und der gewohnten Vorsicht uneingedenk verließ sie das Zimmer.

Nun muß ich doch wohl umgefallen sein, denn als sie mit einem Teller in der Hand wieder erschien, fand ich mich auf dem Teppich sitzen und meine holde Schülerin weinend über mich geneigt.

Am nächsten Morgen erhielt ich eine Postanweisung über dreißig Mark und auf ihr die Mitteilung, daß die Lehrstunden fortan wegfallen müßten, da eine baldige Abreise in Aussicht genommen sei.

Noch manchmal habe ich mir später in der Sigismundstraße zu schaffen gemacht, aber das süße, hilfeflehende Augenpaar ist mir nie mehr begegnet.


Um die gleiche Zeit geschah es, daß ich mich der Bühnenkunst zuwandte.

Meine Karriere war kurz und nicht überaus glanzvoll.

Eines Tages las ich im Annoncenteil des Tageblatts, daß der Theaterverein »Blaue Schleife« einen ersten Liebhaber suchte.

»Warum sollst du nicht?« dachte ich. »Deine Abende hast du frei, und wenn du was verdienst, darfst du auch ausschlafen.«

Ich begab mich also nach dem in der Schönhauser Allee gelegenen Direktionsbüro, das sich nach längerem Suchen als eine Gastwirtschaft entpuppte. Und als ich den Mann hinter dem Schanktische nach dem Direktor fragte, ergab sich ferner, daß er es selber war.

Er maß mich mit unverkennbarer Billigung und fragte dann, nicht ob ich Talent, sondern ob ich einen schwarzen Gehrock habe.[288]

Der schwarze Gehrock, den man heute nur auf Begräbnissen und etwa noch in Ministerkanzleien vorfindet, gehörte damals als notwendiger Bestandteil zu der Garderobe jedes sich in der Welt bewegenden Mannes. Ihn entbehren, hieß von der Gesellschaft ausgeschlossen sein. Der meine, immer noch jener, den die Kunst des Dorfschneiders Paetzel geschaffen, hatte sich bereits den verschiedensten Lebenslagen gewachsen gezeigt. Zwar ging er über den Knien höchst unvorschriftsmäßig auseinander, wenn man aber, gleichsam zufällig, die Hand in den Busenlatz steckte und dabei – ebenfalls wie zufällig – den linken Schoß ein wenig in die Höhe hob, ward ihm jene tadelfreie Linie zu eigen, die die Meisterstücke der er sten Berliner Ateliers vor allen anderen Kreationen auszeichnet.

Ich durfte daher mit Stolz bejahen.

»Dann ziehen Sie ihn heute zur Probe an«, sagte er, »und hier ist was zum Auswendiglernen.«

Er reichte mir ein Heft, dessen Inhalt ich kannte. Es war die Rolle des Ferdinand von Bruck in dem Wilbrandtschen Einakter »Jugendliebe«, die ich auf dem heimischen Liebhabertheater bereits mit großem Erfolg gespielt hatte.

Von den Proben schweige ich. Wer den »Sommernachtstraum« kennt, kann sich ohne Mühe von ihnen ein Bild machen.

So kam der Sonntagabend heran, an welchem die Vorstellung vonstatten gehen sollte.

Siegessicher begab ich mich in die Garderobe. Es war gewiß nicht Überhebung, wenn ich mir sagte, daß zwischen mir und meinen Mitspielern Vergleichsmöglichkeiten nicht bestanden.

Schon mein erstes Erscheinen wurde ein Triumph. Als ich in meinem unwiderstehlichen Gehrock, schön geschminkt und gelockt, auf die Szene hinaustrat, erhob sich im Zuschauerraum ein bewunderndes »Ah«, dem nur wenige Neider sich[289] mit einem ruhegebietenden »Pst« entgegenstellten. Ich durfte also Großes erwarten.

Als ich aber zu reden anhub – was war das? Was wollte das heimliche Tuscheln und Kichern, da doch die Rolle so ernst war?

Und plötzlich erschallte ein Ruf von Bank zu Bank, mit Gelächter begrüßt, gräßlich zu mir empor:

»Der kommt wohl frisch von Albing mit de Schnallpost?«

Da war mir alles, alles klar.

Mein ostpreußischer Akzent, den ich auch heute nicht ganz abgelegt habe und auf den ich sogar ein wenig stolz bin, zeugte damals noch mit nichts verhehlender Treuherzigkeit von meiner Herkunft und meines Stammes Art. Mit ihm begabt durfte ich als Groteskkomiker meines Erfolges sicher sein. Doch als junger vornehmer Weltmann war ich selbst in diesem Kreise unmöglich.

Wohl versuchte ich weiterzureden. Aber wir kennen ja unsere lieben Berliner. Nun ihre Ulkstimmung einmal geweckt war, gab es kein Halten. Immer neue Lachsalven tobten zu mir empor, und das »Mitspielen« wollte eben beginnen.

Da erstand mir in dem Direktor selber ein Retter. Vom Bierkran her, wo sein Stammplatz war, trat er hemdärmelig hervor, erhob seine mächtige Stimme und schrie in das Gelächter hinein: man möchte sich lieber was schämen, denn ich sei ein anständiger junger Mann und hätte keine Schuld, daß ich dahinten und nicht am grünen Strand der Spree geboren sei. Übrigens könne man Gott danken, daß ich nicht aus Sachsen käme, denn dann wäre es noch schlimmer.

Diese Pauke beruhigte die meisten Gemüter. Ich konnte meinen Part zu Ende führen, ohne daß mehr als hier und da ein heimliches Prusten mich unterbrach. Und als der Vorhang fiel, wurde Herr Schöppke – das war der Name, den der Wirt mir auf dem Theaterzettel beigelegt hatte – mit lachender Begeisterung vor die Rampe gefordert.[290]

Daß ich dem ehrenvollen Rufe nicht Folge leistete und daß ich schleunigst von hinnen floh, ohne auf das mir zustehende Spielhonorar von zehn Mark irgendeinen Anspruch erhoben zu haben, wird man mir gerne glauben, auch ohne daß ich es versichere.

Dies alles schreibt sich ruhig und lächelnd herunter, und mit ruhigem Lächeln mag man es hinnehmen. Aber damals hat es viel Kummer gekostet, und die zerstörten Hoffnungen fraßen immer aufs neue die Seele wund.

Auch mit meinem Roman wurde es nichts. Nachdem ich verschiedene Male aufs Wiederkommen vertröstet worden war, riet mein Gönner mir, eine kraftvollere Tonart anzuschlagen. Das half, und als ich zu festgesetzter Stunde ein letztes Mal erschien, erklärte man mir, man habe den Roman nun wohl gelesen, man würde ihn auch drucken wollen, als Honorar aber könne man mir nur zwölf Freiexemplare bieten, die mir gleich nach dem Erscheinen zur Verfügung stünden.

Da wuchs ich zornig empor, verlangte das Manuskript auf der Stelle zurück und erhielt es ohne Widerstreben.

Von nun an lag es lange auf dem Schreibtisch des Doktors, der gerade ein eigenes Werk beendete und darum keine Zeit fand, sich mit meinem Geschreibsel zu beschäftigen.

Da legte sich Fräulein Mathilde fürbittend ins Mittel, und eines Tages wurde ich nach vorne gerufen, um den Spruch, der Tod und Leben für mich bedeutete, von meinem Richter zu empfangen.

Und es wurde ein Todesurteil. Die ersten Seiten waren mit Strichen übersät. Fehler reihten sich an Fehler, die ich mit Zerknirschung als solche erkannte, und die Scham fiel über mich her wie eine lähmende Faust.

Nur einmal wagte ich eine kleine Gegenrede, indem ich sagte: »Herr Doktor, ich habe das mit meinem Herzblut geschrieben.«

Da strich er mit nachdenklichem Lächeln den langen, roten[291] Bartkeil und erwiderte: »Ihr Jungen schreibt mit Herzblut, und wir Alten schreiben mit Tinte. Aber unsere Tinte brennt röter als euer Herzblut.«

Nun lag das liebe Bündel, in dem mit tausend Schmerzen einst Bogen auf Bogen gehäuft war, entwertet und verworfen wieder in meiner Schublade. Und so liegt es noch heute – dicht neben der »Tochter des Glücks«. Wenn ich im Frühling nach meinem Blankensee hinauskomme, sage ich ihm jedesmal »Guten Tag«, und dann wird mir weit und weh zumute.


In meinem täglichen Leben vollzog sich um jene Zeit die glückliche Veränderung, daß ich als regelmäßiger Gast zu den Mittagsmahlzeiten der Familie hinzugezogen wurde.

Von nun an war es mit dem Hungern vorbei. Denn was der Vormittag an Nahrung verlangte, konnte ich allenfalls aus eigenen Mitteln bestreiten.

Aber auch mein frühmorgendlicher Fleiß geriet in die Brüche. Wie ich in früherer Zeit bei den Schwindsüchtigen zu Gaste gewesen war, so ging ich nun mit fliegenden Fahnen zu den Herzkranken über. Bis dahin hatte ich nur gewußt, was ein Herz ist, wenn ich mich überschwommen hatte oder verliebt war. Jetzt wollte das Stechen und Rumoren da links, wo es liegt, nie mehr ein Ende nehmen. Und wenn ich nachmittags die drei Treppen zu der Wohnung des Doktors emporklomm, blieb ich vor Atemnot oft am Geländer hängen. Fräulein Mathilde, die mein Leiden mitansah, ruhte nicht eher, als bis ich ihren Vetter, den berühmten Internisten Professor Jacobson aufgesucht hatte, dem ich freundlich von ihr empfohlen war.

Er empfing mich mit lächelndem Wohlwollen, klopfte, horchte, zählte und fragte dann kopfschüttelnd nach meiner Lebensweise. Und diesmal wurde ich nicht ausgelacht, sondern bekam die ernste Mahnung mit auf den Weg, meine[292] Jugendkräfte nicht zu vergeuden. Denn Arbeit könne nicht minder zum Laster werden, wie Müßiggang es sei.

Von nun an durfte ich liegenbleiben bis achte. Aber das wundgepeitschte Gewissen trieb mich noch lange Zeit hindurch allstündlich in die Höhe, ehe mit dem Morgenschlaf das Herz sich wieder beruhigte.

Langsam glitt mein Leben in freundlichere Gestaltung zurück, und meine Freundin Mathilde wies mir gütig den Weg. Im Künstlervolk zu Hause und selber künstlerisch durchädert bis ins Mark, wußte sie überall Bescheid, wo Anregung und Steigerung zu holen war.

Sie führte mich in die Ausstellungen der Bilderhändler, in Adventsspiele und Kirchenkonzerte, in die Vorlesungen langhaariger junger Dichter, in die Liederabende schüchterner Sängerinnen – und vor allem zu Bilse führte sie mich, der damals dem musikhungrigen Volke der Herrgott war. Daß er auch als Heiratsvermittler unsterbliche Verdienste hatte, davon ahnte ich nichts. Damals war mein gläubiges Ohr nur hoher und höchster Musik geöffnet, und Beethovens Hammerschlag klopfte allmächtig an ein selig aufspringendes Herz.

Heiße Ahnung erwachte in mir, daß ein Dasein bis zu seinen tiefsten Quellen hin der Kunst gehören kann, der Kunst in jeder Form, in jeder Strahlung – Kunst, so vielfältig wie das Leben, und doch nur eines wie das Leben auch.

Alles konnte so zu Kunst werden, jeder Erker im Straßenbilde, jede Wolkenballung am Abendhimmel, jede Marktfrau im Schnee, jedes Gebimmel vom Kirchturm, jedes Zucken der eigenen Seele.

Und diese Ahnung verdankte ich meiner Freundin Mathilde.

Der Weihnachtsabend nahte. Zu meiner feierlichen Freude sollte ich ihn im Dichterhause verleben dürfen.

Von meinen Schülern hatte ein jeder sein Glückwunschgedicht[293] prompt von mir geliefert erhalten. Daß sich »Flocken« und »Glocken«, »Heilige Nacht« und »Engelwacht« schlagkräftig in ihnen reimten, versteht sich für jeden von selbst, der in dieser Branche bewandert ist. Sie waren unter meiner Aufsicht auf köstlichen Bogen niedergelegt und stockungsfrei auswendig gelernt worden. Ich durfte der großen Stunde ohne Bangen entgegenharren.

Und nun war sie da. Ein Weihnachtsbaum strahlte auf – wunderbar wie der Sternhimmel selber. Geschenkteller von nie geschauter Üppigkeit umrandeten den Festtisch. Auch meiner wartete reiche Gabe. »Sie werden sich freuen«, hatte meine Freundin Mathilde schon vorher verheißungsvoll zu mir gesagt. Und als der Doktor mich freundlich bei der Hand nahm und zu meinem Platze führte – was fand ich? Eine Brieftasche mit einem Hundertmarkschein darin. »Bargeld lacht«, sagt das Sprichwort. Für mich aber war es ein Jubelgelächter, wie es im Himmel zu Hause sein muß, denn außer dem spärlichen Ertrag der oben geschilderten Lehrstunden hatte ich in diesem Vierteljahr noch nichts verdient und saß bei meinen Wirtsleuten schon wieder tief in der Kreide.

Mir wurde weh vor lauter Glück. Ich setzte mich still in eine Ecke und wußte nicht, was mit mir beginnen. Bedankt hatte ich mich, beglückwünscht hatte ich jeden. Nun hätte ich eigentlich gehen können. Aber ich vermochte es nicht. Minutenweise wollte ich diese Stunde auskosten, die nie mehr im Leben wiederkommen konnte, denn meines Bleibens war im Dichterhause nicht – das wußte ich ja.

Die Kinder waren mit ihrem Spielzeug beschäftigt. Fräulein Mathilde wandte sich bald zu dem einen, bald zu dem anderen und erklärte, ermunterte, half und verdang sich als Spielgenossin. »Ich muß sie die Mutter vergessen machen«, flüsterte sie im Vorübergleiten mir zu.

Der Doktor aber ging mit stapfenden Schritten schweigend zwischen dem strahlenden Weihnachtszimmer und den[294] dunklen Vorderräumen hin und her. Dort brannte nur die umschirmte Arbeitslampe über durchwühlten Papieren. Im milchigen Scheine wie ein Geistergebilde trat die Marmorbüste aus der bergenden Dämmerung.

Der Wandernde sprach zu keinem ein Wort. Und keiner sprach zu ihm. Bisweilen blieb sein Blick verloren auf den Kindern ruhen, dann stieg er wieder ins Dunkel zurück.

Ich ließ kein Auge von ihm, und wenn er hinter der Tür verschwand, beugte ich mich vor, damit er mir nicht entwiche.

Da sah ich, wie er neben der Büste Halt machte, die Arme um ihren Nacken schlang und die Stirn gegen den Marmor pressend in sich hineinschluchzte, so daß der ganze Körper zitterte und flog.

In mir wallte es heiß empor. Ich wollte ihm nachstürzen, wollte seine Hände packen und ihm sagen – ja, was?

Ich war ja nur ein armes Hofmeisterlein, aus Barmherzigkeit im Hause gehalten und meines Dichteradels ganz und gar beraubt. Denn nie mehr seit jenem verhängnisvollen Abend hatte der Doktor meiner Arbeit Erwähnung getan. Mit welchem Rechte durfte ich mich an ihn hängen, um mit meinem wertlosen und hoffnungslosen Stümperdasein die Stunde des heiligen Schmerzes zu entweihen?

Mein Platz war unweit der Tür. Ich hatte nur nötig, leise aufzustehen und nach der Klinke zu greifen. Dann war ich draußen.

Und das tat ich auch.

Als ich die Treppen hinunterstieg, war mir, als bliebe alles weit zurück, was mir Kraft und Freude, Halt und Sehnsucht im Leben war, als stiege ich in einen Abgrund von Not und Jammer, aus dem ich nie wieder emportauchen könnte.

Die Wanderung bis zur Auguststraße war lang. Aber je näher ich ihr kam, je häufiger die vertrauten Gestalten der allgemeinen Armut mich umhuschten, desto leichter wurde mir.

Ich gedachte der kümmerlichen Weihnacht, die in der[295] Schneiderwerkstatt auf mich wartete – auch hier fehlte ein Liebes, das vor einem Jahre noch dagewesen war –, und einer anderen Weihnacht gedachte ich, weit hinten im Litauerlande, die ich als überzähliger und überflüssiger Gast im vorigen Jahre hatte mitfeiern müssen.

Überzählig, überflüssig überall!

Nur in meinem Arbeitswinkel nicht. Und froh, daß er mein war, daß ich mein Leid in ihm austoben durfte, steuerte ich dem lieben Hause zu. –

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 282-296.
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