Siebzehntes Kapitel

In Glanz und Wonne

[296] Vor jenen grauen Jahren trug die Potsdamer Straße noch einen halb ländlichen Charakter. Vorgärten ließen gerade Raum für einen schmalen Bürgersteig. Die Schulter scheuerte sich an eisernen Gittern, und hinter verstaubtem Gebüsch ertranken niedrige Lusthäuser zwischen den Brandmauern der ersten Mietskasernen.

Auf der rechten Seite – wenn man vom Leipziger Platze kommt – stand in verträumter Stille eine weit zurückgebaute Villa, die auf der rechten und der linken Flanke je ein verdeckter Säulengang mit der Straße verband. Wer in ihr wohnte, wußte ich nicht, aber seit langem schon hatte ich sie mit sehnsüchtigem Wohlgefallen betrachtet, wenn ich an ihr vorbeigegangen war. Mit ihren goldumrandeten Spiegelfenstern, mit ihren blumengeschmückten Vasen auf dem kunstvoll umfriedeten Altan erschien sie mir wie ein kleines Märchenschloß, in dem gütige Feen irrenden Rittern eine Herberge geben.

Und eines Tages war ich in ihr zu Hause.

Das kam so: Meine Freundin Mathilde hatte ihrem Vetter, dem Professor, geklagt, daß es mit mir nicht länger so ginge. Ich müßte eine feste Stelle haben mit auskömmlichem Gehalt und der Möglichkeit, meine Studien zu Ende zu führen. Da hatte er im Kreise seiner vornehmen jüdischen Patienten Umschau gehalten und war zu dem Ergebnis gekommen, daß den Söhnen des Bankiers Neumann ein Hauslehrer nötig sei, der ihre unbewachten Stunden unter liebende Aufsicht nähme.

Weißbehandschuht und in schwarzem Kandidatenschlips, als sollte ich demnächst die Kanzel besteigen, war ich eines Vormittags[297] dort angetreten und in Gnaden empfangen worden. Ich bekam ein Gehalt, mit dem ich ein kleines Fürstentum hätte aufmachen können, außerdem von Mittag ab freie Station und die Zusicherung, daß ich mich zur Familie zählen dürfe.

Mein Gönner gab mir seine Segenswünsche mit auf den Weg und gestattete mir, ihn aufzusuchen, sobald ich seines literarischen Rates bedürfe. Wohnen bleiben konnte ich, wo ich war, und alle Vormittage gehörten mir.

Hat es je einen Sterblichen gegeben, dem so viel Glück auf einmal in den Schoß gefallen war?

Von nun an war ich Selbstherrscher an einer Tafel, die von schlichten Köstlichkeiten überquoll, und brauchte meine Macht nur mit der Erzieherin zu teilen, die die Schwestern meiner drei Schüler unter Aufsicht hielt, denn deren Eltern aßen zu späterer Stunde mit Gästen oder für sich allein. Hatten sie abgetafelt, dann kam unser Abendessen an die Reihe. Nur an Festtagen speisten wir alle zusammen.

Die Hausherrin war eine noch reizvolle Frau, weich und würdig und voll leidender Güte. Sie hatte sehr schöne Augen und konnte rot werden wie ein Backfisch, wenn irgendeine Gesprächswendung sie verletzte.

Meinen Chef bekam ich selten zu Gesicht. Er muß schon in den Sechzigern gewesen sein und trug graue Bartkoteletten, die ein gelbes, vertrocknetes Gesicht noch gelber und trockener machten. Er hatte eine weinerliche Art, sich über die Mängel des Haushalts zu beklagen, und kümmerte sich um die Kinder nicht viel. Nur einmal fand ich ihn in ihrem Kreise, wie er ihnen aus einem Schillerschen Drama vorlas, während sie jeden Vers mit johlendem Gelächter begrüßten. Und als ich neugierig näher trat, um zu erfahren, was es bei Schiller zu lachen gebe, fand ich zu meinem Erstaunen, daß er dessen hohes Pathos, das mir, solange ich denken konnte, heilig war, aus dem Stegreif parodierte. In geschäftlichen Dingen galt er[298] als ein Genie, und von seinem unermeßlichen Reichtum sprachen wir nur mit ehrfürchtigem Flüstern.

Zusammen mit meinen Schülern hauste ich in einem meist überheizten Zimmer des Giebelstocks, überhörte, korrigierte, schalt und lobte, wie es meines Amtes war, und gab mir Mühe, die Ungezogenheiten nicht zu bemerken, in die bei verwöhnten Jungen alle Lebenslust ausmünden will. Nur wenn ich von ihnen angelogen wurde, konnte ich wild werden.

Begabt waren die beiden Älteren gewiß. Aber faul auch. Das moralische Gleichgewicht blieb also gewahrt. – Und was den Jüngsten anbelangt, so wohnte er als Abc-Schütze noch in dem Paradiese, das diesseits von Gut und Böse liegt.

Rasch und widerstandslos paßte ich mich dem Wohlleben an, in das mein versöhntes Schicksal mich hatte hineinschneien lassen. Und wenn es auch nicht mehr als eine Atempause sein mochte, was mir beschert war, ich sog die neue Lebensluft durch alle Poren und mit solchem Ungestüm, daß aller Jammer bald verschwand, als wäre er nie gewesen.

Schlecht und undankbar war es von mir, daß ich mich nach kurzer Zeit für die Auguststraße zu schade fand. Ich spiegelte mir vor, der Weg dorthin und von dorther sei allzuweit, um ihn tagtäglich zurückzulegen. In Wahrheit aber hatte der Westen es mir angetan, und erst, als ich in der Lützowstraße ein behagliches und wohlausgestattetes Zimmer mein eigen nannte, glaubte ich meinem neuen Range nichts mehr schuldig zu sein.

Nur der Schneiderwerkstatt blieb ich treu, und da ich nicht mehr zu sparen brauchte, ließ ich mir von meinem Freunde Achtenhagen etliche Anzüge bauen, die von feinsten englischen Stoffen geschnitten waren, von Stoffen, an die seine Kundschaft sich sonst niemals heranwagte und in denen mein nun nicht mehr verhungerter Leib in ungeahnter Vornehmheit erstrahlte.[299]

Auch dem Wachstum meines Bartes wehrte ich nicht mehr, der alsbald in junkerlicher Fülle über die Schultern floß.

Aber meine gesellschaftliche Gewandtheit lag noch im argen.

Das merkte ich jedesmal, wenn das Haus Gäste hatte und ich hinzugezogen war. Meistens kam ich mir dann verlassen und verloren vor und hing mit heißer Dankbarkeit an dem Munde, der leutselig das Wort an mich richtete. Aber es konnte auch vorkommen, daß ich in vorlauter Schein-Sicherheit die Unterhaltung an mich riß und den Tisch entlang mit unreifen Sarkasmen um mich warf.

Auf einen jüngeren Verwandten des Hauses hatte ich es besonders abgesehen, vielleicht, weil ich mich als seinen heimlichen Rivalen betrachtete.

Er hieß Hugo Lubliner und hatte eben im Königlichen Schauspielhause einen vielerörterten Lustspielerfolg errungen.

Ihn selber zu bekritteln, das durfte ich naturgemäß nicht wagen, denn er war der Stolz der Familie und vergöttert von jedem, der in seine Nähe kam. Darum hielt ich mich an denen schadlos, die seinesgleichen waren, jenen Kümmerlingen, die im Fahrwasser der Franzosen segelnd das deutsche Theater mit marktgängigen Scherzen versorgten.

Einen von ihnen – ich weiß nicht mehr, wer es war – hatte ich bei einer abendlichen Tafelrunde so madig gemacht, daß schließlich niemand mehr mir widersprach und daß selbst Lubliner, der seine Partei genommen hatte, nichts weiter konnte als bedauernd sagen: »Was wollen Sie? Wir kochen alle mit Wasser.«

»Ich hab immer gedacht, wir kochen mit Feuer!« rief ich feurig zu ihm hinüber und fing als Belohnung einen Blick auf, den ich mir wie eine Rute hinter den Spiegel hätte stecken können, wäre er nicht noch vergänglicher gewesen als der, der ihn mir sandte.

Als ich etliche Zeit später im Parkett des Schauspielhauses[300] saß, wo ein neues Lustspiel von Hugo Lubliner seine Uraufführung erlebte, fand ich in einer Gesellschaftsszene einen jungen Tölpel vor, der mit zudringlicher Beflissenheit von einem Gaste zum anderen ging, um jedem mit einem Bückling anzuvertrauen:

»Mein Name ist Schumann. Mein Name ist Schumann.«

Ich fühlte mich rot werden, denn eine dunkle Erinnerung stieg in mir auf, daß ich auf dem ersten Gesellschaftsabend im Neumannschen Hause sehr darauf erpicht gewesen war, mich vorzustellen. Wenn auch ungern, mußte ich dem Autor zugestehen, daß er nicht schlecht beobachtet hatte.

Aber inzwischen war ich über dergleichen Mängel rasch hinausgewachsen. Ich hatte Ohr und Auge wohl gebraucht, und jeder neue Tag schärfte meinen Instinkt für das, was sich schickte und was verwerflich war. Visitenkarten auf schön kristallisiertem Eispapier ließ ich mir nicht mehr drucken, und Armbänder aus Berliner Filigraneisen schenkte ich an Geburtstagen den Töchtern des Hauses auch nicht mehr.

Ich lernte fühlen, welches Lächeln einen Tadel aussprach und welches andere Wohlgefallen mit sich brachte. Ich lernte schlagfertig sein und überhören, je nachdem die Stimmung es verlangte. Und wenn irgend jemand einen Schnitzer machte, empfand ich ihn ebenso schmerzlich, als wäre er mir selber entschlüpft. Sobald ich die Gesellschaftsräume betrat, begann mein Hirn zu arbeiten wie eine scharfgeheizte Dampfmaschine. Mir war, als ob ich auf einen Kampfplatz ginge, und eine innere Stimme rief: »Lerne, lerne, du wirst es einmal brauchen.«

Und so habe ich mein ganzes Leben lang gelernt und lerne heute noch von jedem, dem ich im Zwiegespräch gegenüberstehe.


Doch Wichtigeres gab es zu lernen, zumal die Nöte weggefallen waren, die es mir bislang grausam verwehrt hatten.[301]

Wenn ich vormittags ins Kolleg ging, hinderte mich kein leerer Magen mehr, kein Gliederzittern und keine Furcht vor dem fehlenden Mittagbrot, die Weisheit des Lehrenden ruhevoll auf mich einströmen zu lassen. Und was ich seit langem schmerzlich empfunden und als geistigen Niedergang gedeutet hatte, die innere Teilnahmlosigkeit, die Vergeblichkeit des Hörens und Behaltenwollens, war weggeblasen und machte dem glücklichen Bewußtsein wiederkehrenden Gedeihens Platz.

Zu jener Zeit wurde ich Paulsens andächtiger Schüler und empfand seine lächelnde Skepsis als etwas, was ich selber ureigen besaß. Auch Steinthal hörte ich mit Begeisterung, und Scherer nicht minder. Doch ihm gegenüber wurde ich das Gefühl der Nichthergehörigkeit nie los, als hätte ich mich zaungastmäßig in seine Nähe gedrängt.

Meiner Freundin Mathilde, die inzwischen Berlin verlassen und auf einer märkischen Domäne bei nahen Verwandten eine Heimat gefunden hatte, schrieb ich überschwengliche Briefe über die Fülle der neuen Offenbarungen, die mich gen Himmel hoben, und empfing ab und zu einen kleinen wohltätigen Dämpfer, der mich sanft auf irgendeinen grünen Rasen setzte.

Unter mein Brotstudium, das von alters her verhaßte, machte ich damals einen dicken Strich.

Es war mitten in einem Kolleg über die Geschichte des stummen e, das der berühmte Romanist Tobler dreimal wöchentlich las, wo ich eines Tages, der ewigen Belegstellen müde bis zum Ekel, mein Heft mittendurch riß, nach dem Hute langte und unbekümmert um die strafenden Blicke der Nächstsitzenden mich rasch zur Türe hinausklemmte.

Daß dieser Schritt der Verzweiflung mich für immer aus den Gleisen der Bürgerlichkeit hinauswarf und mich einer dunklen, gefährlichen Zukunft, vielleicht gar dem Untergang entgegenführte, das wußte ich wohl. Aber ich wußte auch, daß[302] ich mich in den Wüsteneien der Grammatik nie wieder würde heimisch machen können. Die Zeit war verpaßt, in der mein Hirn sich willig erwiesen hatte, Flexionen und Syntaxregeln in sich aufzunehmen. Mit achselzuckendem Hochmut sah ich darauf zurück, mochten sie noch so sehr die Basis bilden, auf der jedes geordnete fachliche Wissen sich aufbaute.

Was aus mir einst werden würde, war mir ganz egal. Bloß raffen – raffen – raffen. Leben, Erkenntnis, Schönheit, Kraft, alles, was täglich in tausend neuen Bildern und Gestalten schmeichelnd und drohend, rätselvoll und engelzüngig auf mich eindrang. –

Hinter der Neumannschen Villa gab es einen Garten, der tief in das zwischen den Straßen liegende Gelände hineinschnitt. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß mitten in dem steinernen Meere der Großstadt ein blühendes Eiland wie dieses sich den Blicken der Menschen verbergen konnte. Bäume und Sträucher wuchsen darin, die fremd und blütenschwer die Pfade umschleierten, auf denen Backfischlachen und Knabentrotz von junger Liebe zu erzählen wußten.

Ich stellte mich väterlich und sah und hörte nichts, was auch immer zwischen Abendrot und Mondenlicht auf mich eindringen mochte. Wie verzaubert saß ich in diesem heimlichen Eden und wußte in meinem einsamen Glücke nicht aus noch ein.

Zwei schöne Nichten waren oft zu Besuch – nicht verwandt miteinander, denn die eine gehörte zur Familie des Hausherrn, die andere zu der seiner Gattin.

Jede hatte eine andere Art von Schönheit. Aber die war so groß, daß ich nicht glaube, je im Leben etwas Schöneres gesehen zu haben.

Ich liebte sie beide, und wenn sie, in die Schleier ahnender Bräutlichkeit gehüllt – sie waren gerade im Begriff, sich mit sehr reichen Männern zu verloben – wenn sie, Blumen des fernen Orients vergleichbar, an mir vorüberglitten, dann[303] fühlte ich stets einen Taumel über mich kommen, als hätte der süß-giftige Odem des Gartens mich betäubt.

Die eine, der ich später in Gesellschaft bisweilen begegnet bin, ist in Jugend und Schönheit gestorben. Und einer unserer besten Erzähler hat sie zur Heldin eines vielgelesenen Romans gemacht. Die andere soll jetzt an einen italienischen Aristokraten verheiratet sein. Die Schicksale der beiden gleichen sich nicht. Um so mehr die Lieder, die ich an sie gedichtet habe, denn sie taugen alle nichts. –

Aus Frühling ward Sommer, und der Tag kam heran, an dem die Ferienreise angetreten wurde, deren Ziel, das Ostseebad Heiligendamm, in meiner Phantasie schon lange irrlichtelierte.

Noch nie war ich in einem Bade gewesen, denn die ostpreußischen Küstenorte in ihrer poweren Naturwüchsigkeit zählten nicht mit, und was sich hier ereignen sollte, überflutete mich schon jetzt mit Schauern betörender Romantik.

Ich hatte eine dumpfe Vorstellung, als täte in ihnen sich die große Welt, die Welt der Romane und der Salondramen, die Welt, die man sonst nur in Karossen an sich vorüberrollen sah, zu einem adeligen Gemeinwesen zusammen, in dessen Bannkreis alle trennenden Schranken fielen und ritterliche Sitte den Freibrief zu gleichberechtigtem Verkehren gab. Erzählte man sich doch, daß der Großherzog selber der Tafel präsidierte, an der alle Badegäste sich mittags in zwangloser Geselligkeit zusammenfanden. Erlebnisse harrten meiner, die mir Fernsichten öffneten in lauter gelobte Länder, Fernsichten, von denen ich zehren konnte ein halbes Leben lang.

Was sich nach kurzer Bahnfahrt vor mir auftat, schien als Schauplatz künftiger Taten meiner Erwartung vollauf gerecht zu werden.

Ein Kranz weißschimmernder Villen, am blauen Gestade schläfrig hingelagert, ein marmorhafter Tempel in ihrer Mitte,[304] von Palästen umrahmt, ein blumenbestandener Rasenplatz davor, und weit hinausgebaut in das Meer ein Pfahlgerüst, auf dessen Pfaden man wandeln durfte, seligen Träumen hingegeben.

Eines der Lusthäuser, die den Strand einsäumten, die Villa »Perle«, bewohnten wir – bewohnten es mit allen seinen Räumen, und das Turmzimmer hoch oben, vor dessen Fenster die Meeresweite wie ein perlmutterfarbener Teppich hing, gehörte mir. Mir, mir allein. Fernab von allem Weltgetriebe durfte ich dort hausen wie ein alter Seekönig in seinem Inselschloß.

Wahrlich, ich hätte nicht verdient, zwischen Wald und Heide geboren zu sein, wenn mir nicht im Vorgefühle dieser glückbringenden Einsamkeit das Verlangen nach äußerem Erleben in nichts zerronnen wäre.

Und dies Erleben ließ ohnehin auf sich warten. Ob wir auch zweimal am Tage, dem Glockenrufe folgsam, zur Table d'hôte nach dem griechischen Tempel wanderten, ob dort auch in zwei langen Reihen die Badegäste gesellig einander nahe saßen – das Häuflein, das wir bildeten, blieb für sich allein. Und keine von den schönen blonden Frauen und Mädchen, die mit ihrem starren Lächeln die Nachbarschaft zu fremder Ferne wandelten, zeigte jemals Lust, mit uns intim zu werden.

»Wenn der Großherzog erst da sein wird«, dachte ich bei mir, »dann wird der Bann sich schon lösen.«

Ich malte mir den Großherzog als eine Art von väterlichem Badekommissar, der nichts Eiligeres zu tun haben würde, als die getrennten gesellschaftlichen Gruppen miteinander zu verschmelzen und jedem, der sich in seinem Ländchen noch nicht zu Hause fühlte, ein liebender Berater zu sein.

Aber der Platz an der Spitze der Tafel, auf dem der hohe Herr dereinst gesessen haben sollte, blieb hartnäckig leer, und als er sich zum herzbeklemmenden Staunen aller Fremden eines[305] Mittags füllte, da war es schließlich ein reicher Maurermeister aus Rostock, der mit anderen Bürgern dieser guten Stadt über Sonntag den Strand bevölkerte.

So blieb also nichts weiter übrig, als sich bei Kellnern und Ladenmädchen nach Namen und Art der anderen Tischinsassen zu erkundigen. Namen von hohem Range flatterten auf, Namen, die zum Teil in der vaterländischen Geschichte eine Rolle spielten; nur schade, daß es keine Brücke gab, die zu ihren Trägern führte. Die gesellschaftliche Ausgeglichenheit, auf die ich gehofft hatte, scheiterte an irgendeiner unsichtbaren Schranke, die die stolze Zurückhaltung meiner Herrin noch zu verbreitern schien.

Aber mir tat das alles nichts. Da meine Zöglinge froh waren, wenn ich sie unbehelligt ließ, so durfte ich mein Leben leben ganz wie es mir – und dem Meere – gefiel.

Die Bootsverleiher sahen alsbald, daß ich auch gegen Wind und Wellen die Ruder wohl zu meistern wußte, und wenn bei hochgehender See die Ausfahrt den anderen streng verboten war – mich ließ man immer noch die Kette lösen. Wie ich das Boot durch die Brandung brachte, war meine Sache.

Die Todesgefahr, mit der ich ständig spielte – ein wenig aus Eitelkeit, wie ich bekennen muß –, packte mich eines Tages beim Schopfe, als ich mich dessen am wenigsten versah.

Windstille herrschte, und das Meer war spiegelglatt, als ich vom Stegpfeiler abstieß. Einer der Schiffer beugte sich über die Brüstung und rief mir nach, ich möge mich in acht nehmen, drüben in Dänemark gebe es Sturm. Ich lachte ihn aus, denn Dänemark war ja so weit.

Noch niemals hatte mir das Rudern eine solche Wonne gebracht, noch niemals hatte ich so herkulische Kräfte entwickelt. Das Boot flog dahin, als hätte der unfühlbare Sturm, der drüben in Dänemark tobte, in unsichtbare Segel geblasen.

So ging es wohl eine halbe Stunde lang. Das Land schwand dahin, die weißen Villen am Strande waren schon lange zu[306] mattschimmernden Pünktchen geworden. Da fiel mir auf, daß die Glätte des Wasserspiegels einem Wellenspiel Platz gemacht hatte, das in kurzen, tückischen Stößen den Kiel umplätscherte. Und als ich mich nach dem offenen Meer umwandte, bemerkte ich mit leisem Erschrecken, daß der Horizont in gar nicht weiter Entfernung von hochgehenden Wogen ausgezackt erschien.

Rasch kehrte ich dem Lande zu und legte mich in die Ruder. So eifrig war ich darauf bedacht, aus diesen unheimlichen Bezirken wieder herauszukommen, daß ich nicht einmal darauf achtete, wie eines meiner Röllchen – ja ich muß mit Beschämung gestehen: ich, der frischgebackene Weltmann, ich, der ich von harmlosen Sonntagszüglern schon für einen jungen mecklenburgischen Granden gehalten worden war, ich trug immer noch Röllchen – wie eines dieser Überbleibsel aus abgetaner Armut mir über die Hand glitt und neben dem Boote ins Wasser fiel.

Eine Weile lang arbeitete ich – meines Glaubens – mit voller Kraft darauflos und schmeichelte mir schon, ich hätte mich dem Lande längst um ein Bedeutendes genähert, da, wie mein Blick zufällig zur Seite ging, gewahrte ich – und der Herzschlag stieg mir zum Halse – daß die Manschette mit dem silbernen Knopfe darin sich immer noch friedlich neben mir schaukelte.

In der ganzen Zeit war ich dem Lande nicht um eines Haares Breite näher gekommen. Ich hatte mich womöglich, vom Sog gezogen, noch weiter von ihm entfernt.

Und nun begann ein Ringen auf Leben und Tod. Was bisher Arbeit gewesen war, wurde zum Spiel gegenüber der Kraftanspannung, die ich von mir fordern mußte, wollte ich in dieser Wasserwüste nicht elend zugrunde gehen.

Die Beine krampfhaft gegen die Bank gestemmt, die Arme in kürzestem Tempo und doch mit der Auswirkung des längsten Ruderschlags hin- und herwerfend, mit keuchender Brust[307] und vorquellenden Augen bezwang ich eine Wellenbreite nach der anderen, bezwang ich Fuß nach Fuß und alle die unmeßbaren Maße, die mich von Rettung und Weiterleben noch trennten.

Halbblind von rinnendem Schweiß, mit blutenden Händen und versagendem Herzen, ein Schwachsein nach dem anderen niederkämpfend, sah ich nach stundenlanger Qual endlich Steg und Wald und Villenschimmer näher und näher kommen.

Der Sog ließ nach, den hinsinkenden Gliedern gehorchte das williger werdende Boot, das Erlösung verkündend endlich an den Pfeilern entlangschrammte.

Der Steg stand voller Menschen, die mit Operngläsern nach mir ausschauten. Die Schiffer hatten mich längst verloren gegeben und empfingen mich mit polternden Vorwürfen.

»Nu aber forsch!« ermahnte ich mich.

»Was wollen Sie?« rief ich ihnen entgegen. »Das war sehr nett. Das mach ich morgen gleich wieder.«

Aber dann fiel ich doch bewußtlos zu Boden.


Wer in jenem gesegneten Erdenwinkel je zu Hause war, der kennt den Märchenwald, der sich hinter der Villa des Großherzogs auf der steilen Böschung des Strandes entlangzieht. Der Meerwind, der die schlangenhaften Verschlingungen der Äste einst geschaffen, hat sie freilich inzwischen auch wieder zerstört, und wer heute dort spazierengeht, ahnt kaum, in welch abenteuerlichen Formen Stamm und Zweig, von Moosen silbrig leuchtend, einst in die Höhe schoß.

Dort scheinbar lesend sitzen, den Blick über Buch und Strand und Meer hinweg ins Abendrot getaucht, und träumend der Schicksale harren, die eine Fee dem Glücklichen beschert, war Glück schon an sich, und blieb Glück, auch wenn sich nichts weiter daraus ergab als ein einsamer Heimgang.

Aber einmal kam das Schicksal doch. Kam in Gestalt einer[308] heißäugigen, gertenschlanken jungen Frau, die sich ratlos umsah und dann auf hohen Stöckelschuhen freundlich nähertrippelnd in sehr gebrochenem Deutsch nach dem Wege zum Kurplatz fragte.

Und als ich aufsprang und mich zur Führerschaft erbot, da ward mein Schicksal noch freundlicher und sprach mit einem Lächeln der Bezauberung: »Ah, c'est vous, monsieur le comte! Quelle chance pour moi, de vous avoir trouvé. Je sais maintenant, que je suis en sûreté.«

Ich suchte mein Französisch zusammen und stammelte etwas von Irrtum und Verwechslung. Aber mein Schicksal ließ sich nicht beirren.

»N'essayez-pas de me tromper«, lachte es. »On vous m'a montré sur le débarcadère.«

Mein Widerstand erstarb. Wenn mein Schicksal so wollte, was war zu machen?

Und als wir nun in raschem Bekanntsein friedlich nebeneinander herwandelten, erfuhr ich, daß mein Schicksal durch allerhand seltsame Umstände hierher verschlagen war, daß es auf jemanden wartete, mit dem es »en secret« zusammentreffen wollte, und daß ihm inzwischen die Zeit sehr lang wurde. Es gehöre zwar derselben Gesellschaft an wie ich, müsse sich ihr aber gerade darum strengstens fernhalten. Es lebe in einer Villa ganz für sich, lasse sich die Speisen durch seine Domestiken dorthin schaffen und vermeide es, bei hellem Tage an öffentlichen Orten gesehen zu werden. »Car, vous savez, on se connaît, on s'est vu à Bade-Bade, à Ostende, à Biarritz, à quel endroit encore. Et comme je suis ici sous un pseudonyme, ça me serait très pénible, n'est-ce pas?«

Nachdem ich mein Ehrenwort gegeben hatte, daß alles zwischen uns ein ewiges Geheimnis bleiben würde, erfuhr ich zwar nicht den wahren Namen meines Schicksals, aber mir wurde doch kund, daß es dem der Montmorencys und der Talleyrand-Périgords einigermaßen nahestehe.[309]

Und in Rücksicht auf mich: »Nous appartenons à la même société, ça suffit.«

Sollte ich nun sagen: »Sie irren, madame la comtesse, ich bin ein armer Hauslehrer aus dem Gefolge eines Berliner Bankiers und durch ganze Welten von der Gesellschaft getrennt, zu der Sie gehören?« Gewiß, ich hätte es müssen. Aber hierfür reichte meine Charakterstärke nicht aus. Das »cher comte« klang so süß vertraulich aus ihrem Munde, es schuf eine so sichere Bundesgenossenschaft über tausend Schranken hinweg, es war so natürlich, so ganz dem Erleben des Augenblicks angemessen, daß das Dasein, worin ich mich bisher leidlich wohl gefühlt hatte, in schofle Unmöglichkeit zurücksank.

Noch vor den ersten Ansiedlungen des Ortes war ich gehalten, ihr Lebewohl zu sagen, denn ich durfte beileibe nicht wissen, welche der Villen sie bewohnte. Aber als Tröstung wurde mir die Erlaubnis, morgen um dieselbe Stunde, an demselben Orte auf sie zu warten.

Und ich wartete nicht umsonst. Ich wartete überhaupt nicht, denn sie war schon da. Wie sie auf der Bank lachend zur Seite rückte und mir die Hand gnädig zum Kusse bot, schien mir dies Schicksal gnädiger als jedes andere, das mich bis hierher geführt hatte. Die Krönung meines Lebens schien es mir, und unfaßbar der Gedanke, daß es mich je aus seinem Bann entlassen könne.

Lange saßen wir an diesem Abend beieinander, in Weltanschauungsfragen tief verstrickt, und je mehr meine Liebe wuchs, desto flüssiger wurde mein Französisch.

Wir sprachen über die Verpflichtungen, die die Mitglieder der hohen Gesellschaft von Geburts wegen gegeneinander zu erfüllen haben, über die sublimen Formen, zu denen jede Leidenschaft sich bei ihnen verklärt, und wie alles Grob-Natürliche in ihrer nuancierenden und differenzierenden Gefühlsweise zu göttlicher Zartheit wird.[310]

»Si, par exemple, cher comte, vous vous avisiez de me montrer votre tendresse d'une manière vulgaire, ça me désillusionnerait beaucoup – beaucoup ... Ah si, si!«

Ich hätte zwar in meinen kühnsten Träumen nie gewagt, ihr eine vulgäre oder auch nicht vulgäre Art von Zärtlichkeit zu zeigen. Da sie aber selbst daran dachte, so hielt ich es doch für notwendig, die Heiligkeit des Naturrechts in Schutz zu nehmen und alles dessen, was unbeschadet den Gesetzen der hohen Gesellschaft aus ihm entsprang.

Und ich mußte sie wohl überzeugt haben, denn als ich ihr im Feuer meiner Rede unwillkürlich näher gerückt war, wich sie mir nicht aus, sondern ließ in entzückender Unbefangenheit ihre warme Schulter an meiner ruhen.

Ganz dunkel wird es in klaren Julinächten am Seestrande wohl nie. Und da ab und zu ein verspätetes Pärchen an unserer Bank vorüberstrich, so hielten wir es dem Geheimnis ihres Hierseins zuliebe – »car n'est-ce pas possible, que quelqu'un de la société me reconnaisse?« – schließlich für geraten, noch dunklere Partien aufzusuchen.

Ihr Freunde Heiligendamms, kennt ihr den Teufelssee, jenen holdseligen Weiher, der, wasserlinsenübersät, inmitten hoher Buchenhallen eingebettet liegt wie das Weihwasserbecken in den Wölbungen eines Doms?

Dort, wo gegen Mitternacht keines der schweifenden Liebespaare seine vulgären Zärtlichkeiten hintragen konnte, ließen wir uns nieder – bald auf einer Bank und bald wo anders – wie die Heiligkeit des Naturrechts, das sich auch hier den sublimen Formen der hohen Gesellschaft gegenüber sieghaft erwies, es gerade verlangte.

Nun aber kam der Rückschlag. Bisher war ich in das Abenteuer hineingetaumelt wie ein Blinder über den Wegrand. Endlich aber mußte ich mir klar werden, daß ich all mein Glück nur einem elenden Betruge verdankte. Das »cher comte« der Anrede trat zwar nicht mehr in die Erscheinung,[311] da es sanfteren Wendungen wie »mon chérie« und »mon petit« Platz gemacht hatte. Darum aber bestand die Voraussetzung, daß ich der hohen Gesellschaft angehörte wie sie, doch unverändert fort.

Nur geringe Maße der Moral unterschieden, mich von einem Hochstapler, und ein Hochstapler der Liebe war ich wortwörtlich.

Ich fühlte mich zerfleischt von Gewissensbissen. Ich schlief nicht, ich aß nicht, und wenn ein neues Stelldichein mich mit ihr vereinte, blieb ich traurig und zerstreut.

»Tu m'aimes trop, chérie«, sagte sie, bestrebt, sich diesen Stimmungswechsel zu erklären. »On ne fait pas le sournois. Ce n'est pas chic.«

Mit Entsetzen sah ich ein, daß ich ihr auf diese Weise schließlich lästig werden mußte, und schon erwog ich, mich ihr zu Füßen zu stürzen und alles zu gestehen – da ereignete sich ein Unglück, das meinen Plan ein für allemal vernichtete.

Bei einer unserer Rückwanderungen vom Teufelssee entdeckte sie zu unserer beiderseitigen Bestürzung, daß der eine der beiden Brillanten, die sie in den Ohren trug, nicht mehr vorhanden war.

Wir kehrten sofort um. Wir entzündeten sämtliche Streichhölzer, die ich in meiner Tasche fand, wir betasteten und durchwühlten das Gras in weitem Kreise rings um die Bank, auf der wir gesessen hatten, aber nirgends strahlte das ersehnte Sternlein uns entgegen.

Ein dumpfes Gefühl sagte mir, daß ich angesichts ihres weinenden Kummers – »c'est un cadeau de mon ami, vous savez. Qu'est-ce que je lui dirai? ah! ah! ah!« –, daß es demzufolge für mich nichts weiter zu tun gab, als mir den anderen Brillanten auszubitten, damit nach Rostock zum Juwelier zu fahren und den fehlenden Gefährten eilends herbeischaffen zu lassen.

Aber woher das Geld dazu nehmen?[312]

So schritt ich also ducknackig und kleinlaut neben ihr her und beschränkte mich darauf, ihr zu versichern, daß ich den ganzen morgigen Tag dazu verwenden würde, außer jener Stelle den ganzen Weg, den wir gegangen, abzusuchen.

Und das tat ich auch.

Wäre ich in der Naturgeschichte dieser Gräfinnen schon ein wenig bewandert gewesen, so hätte ich mir die Mühe gespart, denn ich hätte mir wie ein Astronom im voraus berechnet, daß solch ein verschwundener Stern sich niemals wiederfindet. Statt dessen begann noch ein anderer Gedanke mich zu quälen:

»Wenn sie jetzt erfährt, daß ich mich unter falschen Vorspiegelungen – oder wenigstens doch unter Duldung falscher Annahmen – in ihre Gunst hineingeschlichen habe, wird dann der Verdacht nicht in ihr hochsteigen, ich trüge an dem Verlust ihres Steines selber die Schuld?«

Ja, ich durchsuchte sogar all meine Taschen, um zu sehen, ob es sich nicht etwa fatalerweise in eine von ihnen hineinverirrt hätte.

Oh, ich litt unbeschreiblich. Und als ich in der Spätdämmerung wieder mit ihr zusammentraf, brachte ich kaum ein Wort über die Lippen. Aber auch sie schien herabgestimmt, blieb schweigsam und zu Liebesbezeugungen wenig erbötig. Wir schieden mit flüchtigem Händedruck, und abends darauf und auch an den folgenden Abenden kam sie nicht mehr. – Wenige Tage später fuhr ich nach Rostock, weil ich Zahnschmerzen hatte. Mir gegenüber saß im Coupe eine brave Bürgerin dieser Stadt, die in einem zweitrangigen Gasthaus, das fern vom Strande lag, Quartier genommen hatte. Wenn sie mich auch nicht gerade für einen jungen Grafen hielt, so imponierte ich ihr doch sehr, weil sie mich gelegentlich aus dem Turmzimmerfenster der Villa »Perle« hatte hinausschauen sehen.

Von ihr erfuhr ich Wunderdinge – erfuhr von einer aristokratischen[313] Tischgesellschaft, die an gewissen Abenden in der Gartenveranda des Kurhauses unter dem Vorsitz des Großherzogs speiste – »aber davon dürfen die anderen nichts wissen, damit sie immer noch auf ihn warten« –, erfuhr ferner von der Existenz eines heimlichen Spielklubs, der sich der gütigen Duldung des hohen Herrn erfreute, obwohl er nach deutschen Gesetzen streng verboten war, und erfuhr schließlich von einem kleinen Skandal, der sich eben darin zugetragen hatte.

Ein Franzose, der als Croupier in deutschen Bädern Gastrollen gab und der mit seiner jungen Frau im Waldhaus ihr Tischnachbar gewesen, war durch einen ihm nachgesandten Warnungsbrief als »Grec« entlarvt und von dem Klubvorstand an die Luft gesetzt worden. Infolgedessen hatte er sich rasch verflüchtigt und mit ihm seine Frau, an der übrigens auch nicht viel dran gewesen war, da sie sich allabendlich, während ihr Mann im Klub saß, mit einem Hauslehrer herumgetrieben hatte.

So endete meine erste Erfahrung mit den Damen der großen Welt.


Von nun an gehörte ich in meinen Freistunden wieder ganz dem Meere und gedieh so außerordentlich dabei, daß ich den Übermut bald wieder aus allen Poren spritzen fühlte.

Als ich bei Schulbeginn mit meinen Zöglingen heimgeschickt wurde und Berlin in meiner neuen Glorie wiedersah, wußte ich nicht, was mit all den Kräften beginnen, die in mir aufgespeichert lagen.

In triumphierender Körperlichkeit schritt ich dahin, nußbraun, mit den Muskeln eines Preisringers, und mein Bart wurde immer noch länger.

Auch höchst fein war ich geworden. Ich parfümierte mich, ich schaffte mir dünnwandiges chinesisches Teegeschirr an mit zwei Tassen – denn man kann nie wissen! – und Blumen[314] mußten beim Frühstück immer vor mir stehen. Sodann glaubte ich mir schuldig zu sein, nur echte Havannas zu rauchen, und wenn ich mich nach der Morgenmahlzeit in ihre Duftwolken hüllte, fühlte ich mich ganz den jungen Weltmännern gleich, die den kommenden Tag zwischen Klub und Rennstall, zwischen Salon und Boudoir erfreulich einzuteilen wissen.

Und eine gewisse schmachtende Grazie legte ich mir zu, die zwar mit meinen Boxerkräften nicht ganz übereinstimmen wollte, die aber problematischen Naturen nun einmal eigen ist.

Bei alledem verstieg ich mich zu einem geistigen Hochmut, der zu dem äußeren Stande meiner Studien in argem Widerspruche stand, mochte er auch – meine Unreife in Betracht gezogen – durch eine rasch arbeitende und reich versorgte Gedankenfabrik einige Begründung erfahren. Faulenzen tat ich nie. Ich las viel, ich stöberte in allen Wissensgebieten herum, und jeder Vormittag führte dem blutgefüllten Hirne neue Beute zu.

Wäre ich ein junger private gentleman gewesen, Millionenerbe und in der guten Gesellschaft durch Geburt zu Haus – an dem Bilde, das ich aus mir zurechtzumachen strebte, wäre nicht viel auszusetzen gewesen. Aber der Luxus, mit dem ich mich umgab, bestand ja nur in meiner Phantasie. Der Blumenstrauß auf meinem Tisch kostete fünfzig Pfennige, die echte Havanna fünfundzwanzig, und das möblierte Zimmer, das Zeuge meiner Lebemannsträume wurde, hatte ich für achtzehn Mark pro Monat bis zum Herbste gemietet und im voraus bezahlt.

Ich kann nicht einmal sagen, daß ich die wirkliche Lebewelt, nach deren Vorbild ich mich modelte, um ihre Daseinsfreuden beneidete. Die meinen erschienen mir wertvoller, denn sie pumpten mich nicht aus und waren in ihren gedanklichen Ausschweifungen an keine Schranken gebunden.[315]

Trotzdem hätte ich gern einmal mit eigenen Augen gesehen, wie es dort zuging. Schon allein mein künftiges Dichtertum verlangte es von mir. Wenn ich die Feder ansetzte, um niederzuschreiben, was mein Geist mir eingab, erkannte ich alsbald, daß ich im Dunkeln tappte. Immer wieder entstanden Skizzen, die eigentlich an der Seine spielten, denn was ich wirklich an Anschauungsmaterial besaß, hatte ich aus französischen Büchern gezogen.

Diesem Mangel wurde abgeholfen.

Einer der jungen Herren, dem ich zur Frühlingszeit in den Gesellschaftsräumen meines Chefs begegnet war, hielt mich eines Tages bei meinem Gruße auf der Straße an, fragte mich freundlich, wie es mir gehe und ob es mir Vergnügen bereiten würde, ein kleines Junggesellenfest mitzumachen, das er demnächst in seiner Wohnung zu geben gedächte. Ich würde bei dieser Gelegenheit einige der schönsten Kokotten kennenlernen, die Berlin im Augenblicke aufzuweisen hätte.

Mir wurde heiß vor freudiger Bestürzung, und ich dankte ihm begeistert, den gebotenen weltmännischen Gleichmut ganz außer acht lassend.

Von nun an war all mein Denken aufgelöst in glückseliger Erwartung. Aber auch Angst hatte ich. Wenn ich plötzlich zu Hofe befohlen worden wäre, ich hätte dem, was meiner harrte, nicht mit bangerem Herzklopfen entgegensehen können.

Wie würde ich bestehen vor denen, die auf der Menschheit Höhen wandelten? Würde ich elegant genug sein? Würde ich weltläufig genug sein? Und vor allem: würde mein armes Kandidatendasein nicht ganz plötzlich zum Steine des Anstoßes werden?.

Bisher hatte ich sie nur in Proszeniumslogen thronen sehen, spitzenumhüllt, juwelenbehängt, die bleichen, glutäugigen Häupter von Straußenfedern umschattet, diese Wunderblumen, deren Düfte den Tod brachten, diese Sphinxe, die während[316] eines saugenden Kusses ihre Krallen dem Manne ihrer Wahl ins zuckende Fleisch bohrten.

Noch manch anderes Bild aus der Antike spielte hinein: Geistsprühend würden sie sein und an den Geist ihrer Verehrer unerhörte Anforderungen stellen, ganz wie die einstigen Hetären, denen ein Perikles, ein Alcibiades gerade nur gut genug war. In dionysischem Rausche würden sie sich emporschwingen über die Schwere dieses Erdendaseins, die uns arme Bürgerskinder zeitlebens im Banne hält.

Wie ihnen folgen in jene seligen Höhen, wenn die Flügel fehlen, uns ihnen gleich über den Alltag hinaus zu heben? –

Der Abend des Festes kam heran.

Mein Freund Otto Neumann wollte mich gerade zu einer Kneiperei abholen und machte große Augen, als ich ihm beiläufig und herablassend sagte: »Entschuldige mich, ich bin heute auf einem Kokottensouper.«

Wenn man zur großen Welt gehört, weiß man, was man sich schuldig ist.

Als ich die Wohnung des Gastgebers betrat, die von mittelalterlichen und orientalischen Waffen starrte, als wäre er eben mit Trophäen beladen von einem Kreuzzuge zurückgekehrt, während er doch das Bankgeschäft seines Vaters noch niemals verlassen hatte, fand ich eine Gesellschaft von Herren und Damen vor, die sich teils schweigend zu langweilen schien, teils flüsternde Gruppen bildete, denen untereinander der Zusammenhang fehlte.

Der Wirt legte mir beim Vorstellen den Doktortitel bei, den auch mehrere andere – hoffentlich mit größerem Rechte – ihr eigen nannten.

Die Herren, die sämtlich älter waren als ich – einige hatten sogar schon Glätzchen und graue Schläfen –, schüttelten mir teils wohlwollend, teils befremdet die Hand. Die Damen, die sich meinem ungeübten Auge durch nichts von anderen Damen unterschieden, maßen mich mit strenger Prüfung und[317] kehrten dann gleichgültig zu ihren Gesprächen zurück. Irgend etwas an mir schien zu meinen Ungunsten zu sprechen. Erst später erkannte ich, daß es die von mir zum Frack angelegte weiße Krawatte war, die mich als nicht hergehörig brandmarkte. Denn der Smoking war damals noch nicht in Mode, und die Halbwelt strafte jeden mit der ihm gebührenden minderen Achtung, der die ihr gebührende mindere Achtung nicht durch eine schwarze Frackkrawatte weltgewandt zum Ausdruck brachte.

Die Folge war, daß ich auch bei meinen Tischnachbarinnen nur wenig Beachtung fand. Erst als ich zufällig erwähnte, daß ich vor kurzem aus Heiligendamm zurückgekehrt war und etwas von dem intimen Vorfall unterfließen ließ, der sich in dem dortigen Spielklub zugetragen hatte, errang ich mir einige Gewogenheit, die aber rasch wieder abflaute, als ich gestehen mußte, daß ich die handelnden Personen nur dem Namen nach kannte.

Im übrigen ging es den anderen Herren der Tafelrunde nicht viel besser. Einige wurden sogar von ihren Damen vollständig als Luft betrachtet. Man unterhielt sich über sie hinweg und wandte sich ihnen nur zu, wenn das geleerte Glas eines neuen Gusses bedurfte.

Das einzige Thema, bei dem man standhielt, waren die Gardeoffiziere. Adelsnamen schwirrten durch die Luft, als gelte es, den ganzen Gotha herzubeten, und da die anwesenden Herren, die zum größten Teil der jüdischen Finanzwelt angehörten, zu jenen Kreisen nur flüchtige Beziehungen hatten, so mußten sie sich meistens aufs Zuhören beschränken, wenn sie nicht zufällig unter diesem oder jenem ihr Jahr abgedient hatten.

Auch Sprachklang und Ausdrucksweise der Damen zeigten sich der Garde sorgsam angeähnlicht; wenn sie mit hochgezogener Oberlippe knarrend und knautschend den kleinen Prinzen Putzi und den langen Baron Schnups und den ulkigen[318] Jrafen Misepeter ins Treffen führten, glaubte man diese Herren selber oder doch mindestens ihre Karikaturen vor sich erscheinen zu sehen.

Als die Stimmung höher stieg, zeigte man sich vertraulichen Mitteilungen nicht abgeneigt. Sie bestanden darin, daß man neben die Namen der Liebespaare, die in der Berliner Lebewelt zu den berühmten gehörten, nun auch die Ziffern setzte, durch die sie sich verbunden fühlten.

»Dieser gibt dieser so viel«, und »jener gibt jener so viel« – in endlosen Variationen wiederholte sich dieses Liebeslied.

Manchmal verstiegen sich die genannten Summen ins Reich des Phantastischen und wurden dann entsprechend belacht und bespöttelt. Manchmal sanken sie auch zu rührender Bescheidenheit herab, ohne daß sich – ich will dies zu Ehren der Damen nicht unerwähnt lassen – irgendein Ausruf der Verachtung oder auch nur der Verwunderung dagegen erhob. So besinne ich mich auf gewisse vierhundert Mark, die ein damals vielgenannter junger Prinz einer gerade zum Theater gehenden Schönheit als monatliches Entgelt für treue Dienste dankbar zuerkannte. Und wenn ich der Empfängerin später, als wir beide unseren Weg gemacht hatten, auf der Bühne begegnete, sah ich immer die Zahl vierhundert, von einer Gloriole umrandet, über ihrem sieggekrönten Haupte schweben.

Doch noch weiter stieg die Begeisterung und wandte sich auf ihrem Höhepunkt den kleinen Abwegigkeiten zu, durch welche sich Cytherens Priesterinnen – natürlich, soweit sie abwesend waren – die graue Bahn der Pflicht verschönten.

»Die hat den nebenbei«, und »jene hat den nebenbei«, und »dann hat sie noch viele andre«, und »wenn ihrer wüßte, ach!« – Ein Wispern und ein Tuscheln und ein Zwischen-zwei-Händen-sprechen erhob sich über den Tisch weg, so daß man unter der Bürde von all den Geheimnissen, die man nicht erfahren durfte und doch erfuhr, sich wie ein sträflich[319] Eingeweihter vorkam, wie ein heimlicher Teilhaber am Schicksalsplan.

So wichtig war das alles, so sehr bildete es den Inhalt des allein lebenswerten Lebens, daß ich mir erst mühsam wieder klarmachen mußte, wie wenig es mit mir und meiner Existenz zu schaffen hatte. Und als der Wirt die Tafel aufhob, hatte ich mich so sehr in diese Welt hineingelebt, daß ich mich erst schweratmend fragen mußte: »Wo bist du?«, ehe ich wieder zu mir kam.

Und ein Grausen überlief mich bei dem Gedanken, daß man verurteilt sein könnte, in einem Interessenkreise dieser Art eine glückliche und vor Tausenden gesegnete Jugend hilflos hinzubringen.

Beim schwarzen Kaffee sonderten sich zum erstenmal die Paare aus, die in eheähnlicher Weise zusammengehörten. Und gerade diejenigen Damen, die vorhin ihre Zusammenhänge mit der Garde am heftigsten betont hatten, bewiesen dadurch, daß sie dem oder jenem plötzlich auf den Schoß sprangen, daß sie, wenn auch nur zeitweilig, in der Finanz Anschluß gesucht und gefunden hatten.

Auch Eintagspaarungen vollzogen sich in aller Güte. Und da die Zahl der geladenen Herren und Damen die gleiche war, geschah es von selber, daß auch bei mir sich jemand anfand, der Kameradschaft mit mir zu halten geneigt schien.

Es war eine blasse, hochschlanke Blondine, in Schwarz gekleidet, mit fahlen Lippen und schmalen, müden Augen, die sich nur selten und scheinbar ungern öffneten. Sie hatte bei Tische mir gegenübergesessen und war von allen die schweigsamste gewesen. Wenn sie aber den Mund aufgetan hatte, waren ihre Worte von so scheelem Hochmut durchtränkt gewesen, daß sie mir von der ganzen Tafelrunde als die Widerwärtigste erschienen war.

Nun hatte ich sie aber und durfte nicht unhöflich werden. Ich fragte sie nach ihren Verbindungen in der großen Welt und[320] bekam den Gotha prompt noch einmal heruntergebetet. Dann, als der Aufbruch sich näherte – einige der neuen Paare hatten es eilig, unter Dach und Fach zu kommen –, bat sie mich, sie zu einer Droschke zu geleiten, und ich wußte keinen Grund, es ihr zu verweigern. Dabei fand es sich, daß wir ungefähr den gleichen Weg hatten. Es verstand sich also von selbst, daß sie mir neben sich Platz machte und daß ich mit ihr fuhr.

Vor ihrer Wohnung lohnte ich den Kutscher ab, denn ich wollte die übrigbleibende Strecke zu Fuße gehen. Da, wie ich sie zur Haustür geleitete, gewahrte ich, daß sie einen kleinen Bogen machte und dann mit der linken Hand – spielend oder liebkosend – über den herabgelassenen Rollvorhang des Ladens strich, der dicht neben dem Hauseingang gelegen war. Zugleich kam ein eigentümlicher Laut aus ihrer Kehle, der wie das Miefen eines jungen Hundes klang.

Ich wollte mich rasch verabschieden. Da sagte sie ganz obenhin: »Kommen Sie nicht noch für einen Augenblick zu mir herauf?« Ebenso dankbar wie entschieden lehnte ich ab, denn ich hatte von den Preisen gehört, mit denen diese Damen sich einzuschätzen pflegen, und mochte die Ersparnisse, die ich während der letzten sechs Monate gemacht hatte und die mir ein Notgroschen für meine dunkle Zukunft waren, nicht in einer laschen Abendstunde aufs Spiel setzen.

Da sah ich, wie eine plötzliche Angst in ihre maskenhaften Züge trat, und mit einem Lächeln, das flehend sein sollte, mir aber immer noch recht überheblich erschien, rief sie in wehleidigem Tone: »Ach, tun Sie's doch! Bloß für 'ne Viertelstunde! Mir is'n Unglück passiert. Seitdem fürchte ich mich, allein nach Hause zu kommen.«

Ich begleitete sie also drei Treppen empor – in ein Wohnzimmer, das vom Flur her durch eine Doppeltür zu erreichen war. Stickige Kelims als Fenstervorhänge, Plüschportieren und sogenannte Smyrnateppiche betonten den Wunsch,[321] Pomp zu entfalten, den Pomp, der in jenen Jahren wütete. Aus dem Schlafzimmer, dessen Tür halb offen stand, drang in mattem Blaulicht eine Ahnung von Spitzen und Silber.

Mir wurde sehr beklommen zumute. Wie kam ich hier wieder hinaus?

Die Herrin der Wohnung legte schweigend Hut und Mantel ab, bot mir eine Zigarette, die ich ablehnte, warf sich in einen Schaukelstuhl, rauchte, sang, warf die Zigarette wieder fort, und noch mitten im Singen fing sie zu schluchzen an.

Und als ich sie dann ermuntert hatte, sich ihr Leid von der Seele zu reden, erfuhr ich folgende Geschichte:

Vor einem halben Jahre hatte unten im Hause ein junger Kaufmann ein Material- und Delikateßwarengeschäft aufgemacht, und da er ein Anfänger war und im Kundenfang wenig bewandert, hatte sie es sich angelegen sein lassen, ihren Aufschnitt und sonstigen Bedarf von ihm zu holen, obwohl die Auswahl bei ihm nur klein war. Und wenn sie zum Abendessen Herrenbesuch erwartete, hatte sie ihm das Besorgen der Weine anvertraut, die er dann stets mit Eifer und Geschick zur Stelle schaffte.

So waren sie zu einem freundlichen Bekanntsein gediehen und hatten manche halbe Stunde angenehm miteinander verplaudert.

Da – eines Tages – kam ein Brief von ihm. Mit der Post. Obwohl er doch im selben Hause wohnte. Sie dachte, es sei eine Rechnung, aber sie war sich keiner Schulden bewußt.

Und als sie ihn öffnete, da war es keine Rechnung, sondern ein Liebesbrief.

Zuerst hatte sie gelacht. Als sie sich aber überlegte, wie still und fleißig der junge Mann in seinem Geschäfte 'rumhantierte, wie er immer lieb und freundlich war und wie bescheiden er in dem finstern Loche hinterm Laden schlief und wohnte, da kam ihr die Sache gar nicht mehr so komisch vor. Doch dann überlegte sie wieder, daß es immerhin recht peinlich für[322] sie sein würde, im Hause einen Aufpasser zu haben, der ihre Besuche kontrollierte und den sie nicht einmal würde achten können, wenn er nicht eifersüchtig war.

Sie beschloß also, zu ihm zu gehen und ihm gut zuzureden.

Und das tat sie denn auch. Er möge keine solchen Dummheiten machen, er wisse doch, daß sie gebunden sei – sie war wirklich gerade in festen Händen, wenigstens zwischen vier und sieben – und daß aus ihnen nie was Richtiges werden könne.

Zum Abschiede reichte sie ihm freundschaftlich die Hand, und er ließ sie gehen, ohne den Mund zu öffnen.

Acht Tage lang holte sie wieder ihren Aufschnitt. Es schien, als wäre nichts gewesen, und als sie eines Abends Langeweile hatte, wollte sie ihn schon zu sich heraufbitten, da bekam sie einen zweiten Brief. Wieder durch die Post. Des Inhalts: Was sie sich wohl von ihm dächte? Ob sie glaube, daß er keine ehrlichen Absichten habe? Er wisse ja, daß er arm und wenig gebildet sei und eigentlich kein Recht habe, an sie zu schreiben. Aber wenn sie Ja sagen wolle, dann würde er ihr sein Leben lang die Hände unter die Füße legen.

Von diesem Augenblicke an ging ein großer Wechsel in ihrem Wesen vor. Sie fühlte, daß sie ihn von Herzen liebte und daß es nichts Schöneres für sie geben könne, als eine schlichte und tätige Bürgersfrau zu werden, die Freude und Leid mit ihm teilte. Aber zu gleicher Zeit kam auch eine große Angst über sie, daß er, von ihrem bisherigen Wandel abgeschreckt, in seinem Entschlusse wieder irre werden könne, sobald es keine Hindernisse mehr zu überwinden gab. Zudem sagten ihr ihre Liebeserfahrungen, daß man um so geringer eingeschätzt wurde, je rascher man einem Verehrer zu Willen war.

Also beschloß sie, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen und erst dann zu erhören, wenn sie sicher sein konnte, daß er ungeachtet ihrer laufenden Beziehungen in Treue zu ihr hielt.[323]

Sie gab ihm darum keinerlei Antwort, und statt wie bisher selber zu gehen, schickte sie ihre Aufwärterin hinunter, um, was sie brauchte, bei ihm einzukaufen. Auch genierte sie sich nicht, mit ihrem Freunde recht sichtbar vor dem Laden stehen zu bleiben, obwohl sie sich ja vorstellen konnte, wie weh ihm dieser Anblick tat.

Dabei dachte sie nur noch an ihn und malte sich in tausend Bildern aus, wie herrlich das Leben werden würde, wenn sie erst an seiner Seite sorgend und rechnend hinter dem Ladentische waltete. Ihren Schmuck wollte sie verkaufen um neue Mittel ins Geschäft zu bringen, wollte den Laden vergrößern, wollte – ach, was wollte sie nicht alles!

Freitag morgen – ja, es war ein Freitag -da kam ein Blumenstrauß von ihm. Zwar lag keine Zeile dabei, aber sie wußte trotzdem sofort, daß er von ihm sein mußte.

Ihr erster Gedanke war: »Lauf 'runter und wirf dich ihm an den Hals.« Aber dann kam die Angst von neuem und riet ihr: »Warte noch, warte noch ein bißchen.«

Jede einzelne Blume küßte sie viele, viele Male. Aber als sie zur Haustür hinausging, sah sie sich nicht einmal nach ihm um.

Am Sonnabend dachte sie: »So, nun soll's genug sein«, aber für den Abend hatte ihr Freund sie zu einem Ausgang eingeladen. Bei dieser Gelegenheit wollte sie alle Beziehungen zu ihm lösen, um sodann als eine freie und reine Braut vor ihrem Auserwählten dazustehen.

Darum verschob sie es bis zum Sonntag. Um zwölf, das wußte sie, schloß er den Laden. Vorher wollte sie die Aufwärterin mit einem Zettelchen hinunterschicken, worin nichts weiter stehen sollte als: »Bitte, heute mittag bei mir zu essen«, und das Weitere würde sich dann von selbst ergeben.

Um sieben Uhr abends holte ihr Freund sie ab. Zuerst gingen sie ins Theater. Hierauf – in der Weinstube – gab es eine[324] große Aussprache, die damit endete, daß er ihr eine reichliche Summe zusagte, die sie froh und dankbar annahm, da ja alles dem Geschäft zugute kommen mußte. Als sie um eins vor ihrer Wohnung anlangte, fand sie einen Brief in der Türspalte stecken. Diesmal hatte er nicht die Post bemüht.

Mit tausend Freuden riß sie den Umschlag auf.

Da stand:

»Mein teures Fräulein! Wenn Sie dieses Schreiben empfangen, werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Ich sehe ein, daß ich zu gering bin, um mein Auge zu Ihnen zu erheben, und gehe darum in den Tod. Mein letzter Gedanke wird bei Ihnen weilen. Leben Sie wohl und verzeihen Sie mir. Ihr Sie ewig liebender

R.K.«


Diese Geschichte erzählte sie mir, und zum Zeichen, daß sie nicht log, holte sie den Abschiedsbrief aus seinem Verschluß und reichte ihn mir.

Ich brauchte nicht erst zu fragen, ob er Ernst gemacht hatte.

»Seit dem Tage kann ich gar nicht mehr einschlafen, wenn nicht einer bei mir oben ist«, klagte sie, aus ihrem Schaukelstuhle aufstehend, »und das ist auch allein der Grund, weswegen ich Sie mitzukommen bat.«

Nun hätte ich nicht zweiundzwanzig Jahre alt sein müssen, wenn in diesem Augenblicke das Verlangen, den Erlöser zu spielen, in mir nicht lebendig geworden wäre.

Ich bat sie also, zur Ruhe zu gehen. Ich würde mich noch für ein paar Minuten zu ihr setzen, und dann würde der Schlaf schon kommen.

Sie lächelte ungläubig und verschwand, die Tür hinter sich leise ins Schloß drückend.

In der Stimmung eines Heiligen überschritt ich nach einer Weile die Schwelle ihres Schlafgemachs, vor dem mir so bange gewesen war.[325]

Sie lag in lauter Spitzen da, und ihre naßgeweinten Augen lächelten mich an.

Ich setzte mich neben sie auf das Kissen, und sie machte sich für ihren Kopf ein Nest auf meinem Schoß. Dann begann ich auf sie einzureden. Was, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht, ob sie zugehört hat, aber sie seufzte tief und getröstet dabei.

Mir war so weitäugig zumut, als hätte das Leben neue Tore vor mir aufgetan, als hätten tausend Rätsel sich gelöst, als hätten tausend Fernen sich entschleiert.

Sobald ich merkte, daß sie fest schlief, legte ich ihren Kopf leise in die Kissen zurück, nahm das Schlüsselpaar, das auf dem Wohnzimmertische lag, und stieg zur Haustür hinab. Den Rollvorhang des Ladens streichelte ich geradeso, wie sie es getan hatte, und dann ging ich weinend nach Hause.

Am nächsten Vormittag schickte ich ihr die Schlüssel mit einem Veilchensträußchen zurück, aber besucht habe ich sie nicht mehr.

Dies ist die Geschichte meines ersten Kokottensoupers.

Es sind ihm in meinem Leben nur wenige gefolgt.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 296-326.
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