Zweites Kapitel

Auf eigener Scholle

[23] Das Dämmergrau der ersten Jahre fängt sich zu lichten an. Die Erinnerungen werden bewußter und knüpfen sich enger zusammen. Ich sehe einen Burschen von bald sieben Jahren, mit einer Seehundsfelltasche auf dem Rücken, tapfer den weiten Weg durch Wald-und Weideland zur Schule gehen. Die Furcht von früher her war abgetan, ja, es kam vor, daß er, wenn auf dem Heimwege ein Litauer gutmütig Halt machte, um ihn auf seinem Leiterwagen mitzunehmen, rasch hinten aufkletterte und ebenso rasch wieder absprang, um sich seitwärts in den Wald zu schlagen.

Diese Gänge dauerten nicht lange – nur vom August bis zum Oktober, dann wurde die Schule aufgelöst. Wie der freundliche Mann hieß, der den weinenden kleinen Strampel liebevoll zwischen die Knie nahm, habe ich vergessen. Und dann blieb ich zu Hause, bis im November der große Umschwung eintrat, der mich dem einsamen Waldgut entführte und mitten ins große Leben warf.

Mein Vater, der bislang auf dem Gute Pächter gewesen war, hatte durch rastlose Arbeit, durch Sorgen und Sparen so viel hinter sich gebracht, um die Anzahlung für ein eigenes Grundstück beschaffen und darauf eine Brauerei erbauen zu können.

Das Häuschen, in dem ich die ersten Dichterträume geträumt, in dem ich manche Nacht hindurch viele Bogen schönen, weißen Papiers verschrieben habe, in dem ich bis zum dreißigsten Jahre nach mancher wilden Wanderfahrt Zuflucht und Ausruh fand, steht heute neu aufgeputzt, wenn auch halb in die Erde gesunken, und meine alte Mutter wohnt[24] ihm schräg gegenüber. Ich wollte es ankaufen und herrichten lassen, aber da ich es ebenso wie die dahinterliegende und jetzt in ein Wohnhaus verwandelte Brauerei hätte niederreißen und neu aufbauen müssen, und da überdies meine Mutter mir erklärte, sie fühle sich bei ihrem hohen Alter ohne Miteinwohner nicht sicher genug, so ließ ich mein Vorhaben fallen. Aber ich verspüre doch stets einen kleinen Stich im Gewissen, wenn ich bei meinen Besuchen in der Heimat an dem lieben Anwesen vorübergehe, dessen Bild von Jahr zu Jahr meinem Erinnern fremder wird.

Damals war es schneeweiß und blitzblank, und die nun verschwundene Vorlaube, die meiner Mutter unermüdliche Hand selber gezimmert hatte, schimmerte gastlich mit Ruhebänken und Schattengrün.

Der Beginn des neuen Lebens freilich war trübe genug. Jenem Novembertage, an dem wir aus unserem Waldwinkelchen in die ungewisse Fremde zogen, habe ich im zweiten Kapitel von »Frau Sorge« ein paar Zeilen gegönnt. Jawohl, Frau Sorge – die war fortan bei uns zu Hause. Meine Geleitverse sind nicht aus der Luft gegriffen, obwohl mein alter Vater mir böse gewesen ist, als er sie las. »Der Jung' bringt mich um meinen letzten Kredit«, hat er gesagt, »und ganz so schlimm ist es auch nie gewesen, denn für Sattessen habe ich immer gesorgt.«

Es ist wahr, mein lieber Alter, der du nun schon fünfunddreißig Jahre dein hartes Leben ausschläfst, für Sattessen hast du immer gesorgt, und ich möchte dir nun, da ich Überfluß habe, tausendfach wiedergeben, was du an mir getan! Statt dessen mußtest du in Not und Sorge sterben. Zwei Jahre zu früh. –

Und hier möchte ich gleich von meines Vaters Ursprung reden. Er war der Sprößling eines mennonitischen Bauerngeschlechts in der Elbinger Niederung, in der ebenso wie um Marienburg und Danzig herum die ihres Glaubens wegen aus[25] Holland vertriebenen Sektierer sich angesiedelt hatten. Mein Großvater hieß mit Vornamen Daniel, ebenso wie jener geistliche Liederdichter des sechzehnten Jahrhunderts, der in manchen Literaturgeschichten als mein Vorfahr genannt wird. Wie andere Parvenüs sich eine Ahnengalerie anschaffen, so habe ich mir nämlich einen Dichtervorfahren zugelegt, oder vielmehr: ich habe nicht widersprochen, wenn wohlwollende Biographen mei ner dichterischen Sendung durch Herleitung von jenem frommen Pedanten Nachdruck zu geben versuchten. Es kann sein, es kann auch nicht sein. Wer will es beweisen? In Wahrheit schließt meine Familienchronik in wenig aristokratischer Weise mit dem genannten Bäuerlein ab, das in einem Winkel des Wickerauer Kirchhofs, zwei Meilen von Elbing, begraben liegen soll.

Warum mein Vater nicht Landmann wurde wie er, sondern, um Brauereidienste zu tun, nach der Stadt zog, ist mir nie klar geworden. Wahrscheinlich war ihm als jüngerem Kinde eines angeheirateten zweiten Mannes die Hoffnung verschlossen, sich jemals ein Eigenes zu erwerben. Von einer regelrechten Lehrzeit habe ich nie etwas gehört. Viel mehr als ein Brauknecht wird er am Beginne seiner Laufbahn nicht gewesen sein. Aber er war begabt und strebsam und las und lernte ohne Maßen, so daß er sich bereits ein Jahrzehnt später eine geachtete Stellung als Braumeister in Liebemühl bei Fischhausen hatte erobern können. Dort hat er meine Mutter kennengelernt, die als Tochter einer Schiffskapitänswitwe gesellschaftlich wohl über ihm stand, wenn sie auch arm war wie eine Kirchenmaus.

Er hat auch – scheu und von seinem Unwert überzeugt – erst viel später um sie geworben und ging zuvor nach Kurland, um sich in gleicher Stellung die Anfänge eines Heiratsgutes zu erwerben. Das muß ihm auch gelungen sein, denn nach etlichen Jahren kehrte er heim, sich seines Glückes zu versichern. Sein Antrag wurde angenommen, und als er nun nach[26] Kurland zurückeilen wollte, den Grund zu einem Hauswesen zu legen, blieb er zwei Meilen vor der russischen Grenze im Schneetreiben stecken. Während er in dem Heydekrüger Gasthause sehnsüchtig auf die Weiterfahrt des Postschlittens wartete, erfuhr er von einem Tischnachbarn, daß unfern des Ortes eine Pachtung angeboten wurde, die für ihn geschaffen schien.

Darum bin ich »zwischen den Wäldern« geboren, darum ist das Memelland, das geliebte und nun verlorene, meine Heimat geworden. Wäre jenes Schneetreiben nicht gewesen, so würde ich heute wohl ein Deutschrusse sein, oder die Letten hätten mich schon erschlagen.

Fürs erste kam ich mit zwei jüngeren Brüdern in die Schule der Frau Pfarrer Hugenberger. Diese stattliche, temperamentvolle Frau, die aus Schrullen und Ekstasen zusammengesetzt war und die später in Not und Einsamkeit verkam, war wegen schlechter Behandlung ihrem Manne davongegangen und hatte zwei Töchter mit sich genommen, die sie nicht minder malträtierte, als sie selbst malträtiert worden sein mag. Beide noch Kinder, frech, rotznasig und zu dummen Streichen allzeit bereit. Sie saßen mit uns zusammen auf der Schulbank und nährten dauernd den Geist des Widerstandes, der sich in geheimnisvollem Getuschel zu verstecken pflegte. Wen sie ins Vertrauen zogen, der stieg zu einer höheren Klasse des Menschentums empor; wer sich ausgeschlossen sah, der sank in Schmach und Schande.

Diese ersten Schuljahre, so wenig ich in ihnen gelernt haben mag, sind auf meine geistige Entwicklung von tiefgreifendem Einfluß gewesen. In ihnen habe ich die Leidenschaftlichkeit kennengelernt, mit der man eine Überzeugung pflegen und vertreten kann. Und so dauerhaft ist dieser Brand geworden, daß auch die Jahre des Alterns ihn nicht haben löschen können.

War ich schon fromm gewesen, so wurde ich es jetzt so sehr,[27] daß keine Inbrunst mir genugtun konnte. Wenn die Frau Pfarrer beim Morgengebete für uns Schüler als die räudigen Schäflein zu Gott dem Herrn um Vergebung flehte, dann wurde die Zerknirschung in mir so arg, daß ich oftmals beschloß, mir das Leben zu nehmen, weil ich seiner unwürdig war. Aber auch die Güte Gottes lehrte sie mich kennen und fachte Jubelstürme in mir an, deren ich nur Herr werden konnte, indem ich mich in der Brauerei auf den obersten Gerstenboden flüchtete, wo ich dann vor einer offenen Luke, die grünende Herrgottswelt tief unter mir, singend und weinend auf den Knien lag. Keine Macht der Welt hätte mich abhalten können, sonntags nach der Kirche zu pilgern, und wenn die Eltern daheim bleiben mußten, dann machte ich Knirps mich allein auf den Weg, der nun von der anderen Seite gemessen wohl auch eine Viertelmeile betrug. Und hatte ich den Pfarrer Hoffheinz, der in seiner Art nicht weniger leidenschaftlich war, auf der Kanzel knien und schluchzen gesehen, dann war es mir damit noch lange nicht genug, dann ging ich erst noch in die katholische Kirche und hörte die Messe. Kam ich dann schwach vor Hunger nach Hause und das Essen stand nicht gleich auf dem Tisch, dann schloß ich mich in dem Giebelzimmer ein, in dem wir Kinder zusammen mit Großmama schliefen, hängte mir eine bunte Bettdecke um und zelebrierte das Hochamt weiter, zu dem, wie ich erfahren hatte, sowieso ein vorheriges Fasten gehörte.

Und noch eine andere inbrünstige Liebe nährte Frau Pfarrer Hugenberger in mir: die Liebe zum Königshause. Die Erinnerung an jene Gefühlswelt ist mir für spätere Zeiten sehr wertvoll geblieben, denn ich habe nun immer gewußt, wie es in Kopf und Herz derjenigen aussieht, die, nach altpreußischem Muster erzogen, den König und das Königtum als den Mittelpunkt alles irdischen Denkens und Fühlens betrachten und in ersterbender Hingabe seinen Befehlen untertan sind. Ich muß gestehen, diese Verquickung von Krone und Altar,[28] von Gottesmacht und Herrschertum ist nicht ohne glückbringende Harmonie, mag sie auch nur für die Armen im Geiste geschaffen sein. Über den Gram der vielgeliebten Königin Luise, die ja bekanntlich infolge der Schmach des Vaterlandes an gebrochenem Herzen starb, habe ich mehr Tränen des Mitleids geweint als über die Schmach des Vaterlandes selber. Und die, ich weiß nicht wieviel Ellen lange Leberwurst, die bei der Krönung des Königs von den Meistern der Fleischerinnung durch die Straßen Königsbergs getragen und dann an die jubelnde Menge verteilt wurde, bildete für mich den Höhepunkt aller menschlichen Freuden.

Freilich – bald kam der Umschwung. Doch davon später.

Im übrigen war es nur wirres Zeug, was Frau Pfarrer uns lehrte, aber in dieser Wirrnis lagen Schätze vergraben. Was sie auch immer vortrug, hatte Phantasie und schuf Phantasie. Die Welt wurde eine Bilderreihe und die Weltgeschichte nicht minder. Ich habe damals Cäsar ermorden sehen, weit besser als später im Deutschen Theater, und als im März 1813 König Friedrich Wilhelm III. in Breslau einritt, habe ich selbst unter den Freiwilligen gestanden und ihm ins Angesicht den Schwur geleistet, für die Rettung Preußens zu sterben. In der Gletscherwelt des Monte Rosa war ich nicht weniger zu Hause als in den Palmenwäldern des Orinoko. In Sibirien habe ich als Verbannter die Aussätzigen gepflegt, und auf den Fidschiinseln habe ich mich im warmen, wellenbespülten Sande gerekelt.

Frau Pfarrer litt häufig an Schnupfen, und um Taschentücher zu sparen, kam sie morgens mit einem Bettlaken ins Schulzimmer, das ihr häufig von einer ihrer Töchter nachgetragen wurde wie eine Kurschleppe. Das breitete sie rings um das Podium aus, so daß sie, wenn sie erst saß, wie von Wolken getragen war, und manchmal schien es, besonders um die Nachmittagsdämmerung, als ob aus diesen Wolken heraus Bilder und Gestalten quollen in unermeßlicher Fülle, so daß[29] man schließlich nicht mehr wußte, wo man war, und beim Schulschluß jäh zum Leben erweckt werden mußte.

Noch eine zweite Bildnerin war mir in jenen Jahren beschert, der ich lebenslangen Dank schulde. Sie hat mir Geist und Herz geweitet, hat die Fülle der inneren Bilder ins Unendliche vermehrt und meinen Überzeugungen endgültige Richtung gegeben.

In der Bodenkammer meines Elternhauses stand ein riesengroßer Kasten, bis zum Rande gefüllt mit mehr oder minder zerlumpten Blättern. Zehn Jahrgänge der »Gartenlaube«, vom Jahre 54 bis 64 reichend. Sie hatten meinem Vater auf seinen Wanderfahrten geistige Wegzehrung geboten und waren dann von ihm ins Eheleben übernommen worden. Die Nummerreihen, die er sich nach Rußland hatte senden lassen, zeichneten sich durch glänzendschwarze Übertünchung aus, die hier und da halbe, ja ganze Seiten bedeckte und eine unermeßliche Neugier schuf zu erfahren, was der russischen Zensur als verbrecherische Irrlehre und geistiger Seuchenstoff erschienen war. Aber kein Kratzen und Schaben, kein Aufweichen und Zerknittern half. So liegen die Blätter noch heute in meiner Mutter Rumpelkammer. Jenes Schutzmittel hat sich dauerhafter erwiesen als der Staat, den es zu schützen bestimmt war.

Doch immerhin blieb noch genug, um meiner durch Frau Pfarrer großgezogenen Königstreue das Lebensmark auszusaugen. Die »Gartenlaube« ist bis zum österreichischen Kriege die eigentliche Trägerin des demokratischen Gedankens, das freiheitliche Gewissen Deutschlands gewesen, und erst später, als die bismärckische Bezauberung einen neuen Glauben an die Sendung des Hohenzollernhauses wachrief, ist sie in dieses Lager übergegangen. Was mir damals in die Hände fiel, atmete noch Groll und Aufruhr. Auf jeder Seite gewitterte der Sturm von 48 nach, und überall stand ungeschrieben das Gelübde baldiger Vergeltung. So bin ich zwischen[30] dem achten und zehnten Jahre vom Schleppenträger altpreußischen Vasallentums zum haarbuschigen Barrikadenkämpfer geworden, und noch als ich mich der Prima näherte, war es das Ziel geheimster Wünsche, für meine Ideen auf dem Schafotte zu sterben. Vor allem aber wuchs eine Stimmung in mir auf, die der Demokratie und ihren Verfechtern das Monopol waschechter Gesinnungstüchtigkeit zuerkannte, während alles, was dem Throne diente, zu den Schuften hinabsank. Das hat mich aber nicht gehindert, daß ich nach 70 dem deutschen Kaisertum inbrünstig ergeben war und der Kyffhäuserlegende dankzitternden Tribut darbrachte. Mit einem trüben Lächeln über all das hinzugleiten, fällt heute nicht schwer. Ihr, die ihr jung seid und nur den sorgenvollen Abend der Kaiserherrlichkeit habt schauen dürfen, ihr ahnt nicht, wie hold jene Torheit war!

Die leicht errungenen Triumphe des Jahres 66 habe ich noch nicht mit vollem Bewußtsein durchgekostet, sonst wären scharfumrissene Erinnerungen an jene Sommerwochen in mir wach geblieben. Marschierende Soldaten, ein paar Extrablätter und die Neuruppiner Bilderbogenchronik sind alles, was in meinem Hirn davon noch übrig ist. Um so lebhafter hat die Düppeler-Schanzen-Legende auf mich eingewirkt, weil sie sich allzeit mit Hilfe einiger Spaten in tobende Wirklichkeit umsetzen ließ.

Aber nicht nur den Sinn für Politik hat jener zerlumpte Blätterhaufen mir beigebracht. Auch die Pforten epischer Dichtung schloß er mir auf. Ihr werdet lachen, wenn ihr die Namen Ruppius und Temme hört, und werdet nicht glauben wollen, daß diese Längstvergangenen imstande waren, unermeßliche Reichtümer über den Werdenden auszuschütten. Mochten sie mir erzählen, was sie wollten, der eine dürftige Kriminalgeschichten aus meiner östlichen Heimat, die ich gar nicht als Heimat erkannte, der andere nüchterne Auswandererschicksale – die heißhungrige Phantasie sog Nahrung aus[31] jedem Gestein und schuf zu dem einen Knabendasein noch Dutzende anderer Leben hinzu, die ich schauend und träumend weiterspann, bis ich nicht wußte, in welches von ihnen recht eigentlich dieser Körper gehörte.

Ähnliches mag jedes phantasiebegabte Kind an sich durchgemacht haben, aber nicht jedem war vergönnt, seine Einbildungskraft so ungehemmt zu entwickeln.


Zu jener Zeit stand's schlimm um meines Vaters Haus. Die Leute wollten sein Braunbier nicht trinken. Es war nicht schlechter als das der anderen Brauereien, aber er ermangelte der Fähigkeit, sich und sein Produkt in Szene zu setzen. Da war sein Konkurrent, Herr Münsterberg aus Werden, schon ein ganz anderer Kerl. Wenn der mit seinen flotten Vatermördern und der prallen, perlengestickten Zigarrentasche von Gasthaus zu Gasthaus fuhr, anpreisend und überredend, dann hätte ich den Wirt sehen mögen, der seinen Leistungen widerstand. Und wenn morgens der Werdener Bierwagen, mit Tonnen bergehoch beladen, auf der Chaussee an uns vorüberfuhr, dann standen wir alle angstvoll hinter der Gardine, und Mama preßte die Hand aufs Herz und ging schweigend nach hinten.

Und dann kam das schwerste aller Jahre – dann kam das Notstandsjahr.

Das war im Sommer 67, da gab es überhaupt keine Sonne mehr. Vom Juni an Tag für Tag nichts wie sickernder, suppender, trommelnder Regen. Das Erdreich weichte auf, der Roggen reifte nicht, die Erntefelder sahen aus wie Lehmtennen, denn alle Halme lagen glatt und braun und feuchtglänzend am Boden. Und das Schlimmste von allem: die Kartoffeln verfaulten. Was man zu Ende August als genießbar dem Boden entzog, hatte Haselnußgröße und war mit Pfropfen durchsetzt, sie gingen querdurch bis ans andere Ende. Erst gegen Mitte September stellte zugleich mit dem Herbstreif[32] blauer Himmel sich ein – aber da war schon alles verloren. Das hieß hungern, und unter Umständen hieß es verhungern.

Wer hätte in solchen Zeiten, in denen jeder Groschen ein Schatz ist, Bier trinken mögen!

Darum wurde auch im Sudermannschen Hause Schmalhans Küchenmeister. Freilich – wenn ich euch heute erzähle, daß die Butter vom Tische verschwand, daß die Fleischtage rar wurden und daß die Semmeln zur Sonntagskost aufstiegen, so macht euch das verflucht wenig Eindruck, denn wir haben Schlimmeres kennengelernt, und die meisten stecken noch dick mitten drin. Aber vergeßt nicht, daß das, was wir heute erleben, unseren Enkeln, falls sie inzwischen nicht eingegangen sind, manche Gänsehaut über den Leib jagen wird. Wer heute Jungmädchen ist, braucht bloß in die Jahre zu kommen, um als Märchentante die Kinder das Gruseln zu lehren, nur daß ihre Märchen einst härteste Wirklichkeit waren.

Und es gab damals auch viele, die waren noch weit ärmer als wir. Im Chausseegraben lagen sie familienweise und konnten vor Schwäche nicht weiter. Die Tür stand tagüber von Bettlern nicht still, und wenn man ihnen das übliche Zweipfennigstück gab, so schimpften sie, denn Kupfer kann man nicht essen. An den Markttagen war es besonders schlimm: dann belagerten sie die Haustür und prügelten sich um den Eintritt, und meine Mutter teilte unser Letztes mit ihnen. Die Kartoffeln, so schorfig, so klein wie sie waren, wurden in Kesseln gekocht und an die Draußenstehenden verteilt, die sie noch siedendheiß und mit den Schalen verschlangen.

In den Hausflur ließen wir sie ungern, denn was von ihnen zurückblieb, machte sich tagelang juckend bemerkbar. Jeden Abend gab's große Jagden in Hemde und Beinkleid, und hätte man damals schon gewußt, wo der Hungertyphus eigentlich herstammt, Mama wäre noch viel ängstlicher gewesen.[33]

Als der harte ostpreußische Winter hereinbrach, wurde das Elend erst recht groß. Wahrhaftig, die eigene Not verschwand hinter der, die sich schlotternd und zähnefletschend tagtäglich rund um uns auftat. Und die Not erst, die sich nicht mehr sehen ließ! – Mama war tapfer wie immer. Mit den anderen Vorsteherinnen des Frauenvereins fuhr sie von Dorf zu Dorf, lindernd und helfend überall, wo Hilfe und Linderung gerade noch als Wunder vom Himmel herabfallen konnten.

So nahte das Weihnachtsfest. Und uns Kindern wurde bedeutet, daß dieses Mal infolge der großen Not an eine Bescherung nicht zu denken war; wir möchten uns zufriedengeben und uns derer erinnern, denen im Leben nie ein Weihnachtsbaum brennt. Das kam uns hart an, und von allen Entbehrungen, die das Notstandsjahr auferlegte, war dies entschieden die härteste. Aber in unserem tiefsten Innern ließ das Gefühl sich nicht zum Schweigen bringen: so schlimm kann es nicht werden, und Mama wird schon Rat schaffen.

Auch meldeten sich gewisse Anzeichen, daß allerhand Vorbereitungen im Schwange waren, die auf Großes und Heimliches hinwiesen. In der Weihnachtswoche konnten wir nicht mehr einschlafen, und wenn Großmama hinter ihrem Bettschirm tiefer atmete, dann schlüpften wir leise zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, um zu erforschen, was unten geschah. In unseren Hemden standen wir frostzitternd im eiskalten Hausflur, bald der eine, bald der andere mit dem rechten Auge vorm Schlüsselloch, dessen Lichtschimmer bewies, daß Mama immer noch auf war. Mochte es zwölf sein oder zwei oder drei, Mama saß vor ihrem Arbeitskasten und nähte. Aber niemals zeigte sich ein Baumbehang oder ein vergoldeter Apfel.

Darum schwand uns bei Tage jegliche Hoffnung, aber in der nächsten Nacht begannen wir das Spiel der Sehnsucht aufs neue.[34]

Der Weihnachtsabend kam heran, und wir durchstöberten sämtliche Winkel, aber nicht die Spur eines Tannenbäumchens ließ sich entdecken, und wenn wir uns Mama an den Hals hängten, blieb sie dabei: »In diesem Jahre gibt's keine Bescherung.«

Wäre nur das weiche und verschämte Lächeln nicht gewesen, mit dem sie sich aus unsrer Umklammerung löste, und da bei uns der Tannenbaum nicht schon am Abend, sondern nach alter Strandsitte erst am Weihnachtsmorgen angezündet wurde, so brauchten wir immer noch nicht zu verzagen.

In dieser Weihnachtsnacht schlossen wir drei kein Auge. Als die Uhr zwölf schlug, tappten wir zum ersten Male hinunter – da saß Mama noch vorm Nähzeug. Um eins zum zweiten Male – da war das Schlüsselloch verhängt.

Hatten wir in den vorigen Nächten Großmama erweckt, und hatte sie uns verraten? Oder waren wir vorher im Hausflur zu laut gewesen?

Wie dem auch sein mochte, Schlimmes konnte die neue Heimlichkeit nicht bedeuten.

Um zwei war noch Licht. Um drei auch noch. Um vier wurde es dunkel. Und um fünf saßen wir fertig angezogen auf unseren Stühlen, um, wenn wirklich die Glocke klang, den großen Augenblick nicht zu versäumen.

Um sechs erwachte Großmama und sagte wie immer: »Ich habe diese Nacht kein Auge zugemacht, so unartig seid ihr gewesen.«

Um sieben Uhr zündete sie Licht an und begann, sich hinter dem Bettschirm anzuziehen. Das tat sie freilich auch sonst um diese Zeit, aber heute war Feiertag – warum heute? Und dann schalt sie: »Kinder, die so böse sind, daß sie ihre alte Großmama nicht schlafen lassen, die wollen auch noch eine Bescherung haben?«

Da war es mit unserer Zuversicht von neuem zu Ende.

Um halb acht brach der erste Morgenstrahl durchs Fenster.[35] Nun war gar nichts mehr zu hoffen, denn bei Tage können die Weihnachtsbäume nicht brennen.

Aber plötzlich – noch heute, da ich dies niederschreibe, macht mein Herz einen Sprung – ging es tieftönig wie eine Kirchenglocke »Bum, bum, bum« durchs ganze Haus.

Und als wir hinunterstürmend die Tür des Wohnzimmers aufrissen, da brannte der Weihnachtsbaum genau so hell, wie er in glücklichen Jahren gebrannt hatte. Und ringsum standen die bunten Teller und lagen die Geschenke in nicht geringerer Fülle, als sie uns sonst beschert worden waren.

Zwar, sah man genauer hin, so fand es sich, daß in dem Stall ein Pferdchen fehlte und daß der Säbelgriff mit einer Drahtschlinge an der Klinge befestigt war – Böswillige hätten sagen können, es seien alte Bekannte –, wir aber staunten und jubelten und hatten nie eine reichere Weihnacht erlebt.

Später, als wir größer waren, hat meine Mutter uns erzählt, wie die Bescherung zustande gekommen war. Sie hat alles in allem nach heutigem Gelde drei Mark fünfundsiebzig gekostet. –

Auch jener böse Notstandswinter ging vorüber, und als das Haff und die Flüsse aufgetaut waren, lagen eines Tages am Heydekrüger Marktplatz zwei große Frachtkähne von einer seltsam bauchigen Form, wie wir sie noch niemals erblickt hatten. Die waren von Stettin übers Meer gekommen und bis zum Rande gefüllt mit Kartoffeln, eigroßen, glattschaligen, goldgelben Kartoffeln, wie sie uns schon fast aus dem Gedächtnis verschwunden waren.

Die Leute standen in Haufen ringsum und besahen sich das Wunder. Der Verteilungsausschuß ging ans Werk, und von nun an wurde es besser.


Von meiner alten Großmutter habe ich noch gar nichts erzählt.

Fast jedes Menschenkind trägt ein Stückchen Poesie mit sich[36] herum, von dem es nichts weiß und die anderen nichts wissen und das in sehr seltenen Fällen Glück, doch meistens Unglück heißt.

Die Witwe eines Schiffskapitäns war sie, das sagte ich schon. Sie hieß Charlotte Raabe und hat ihr Leben in einem Häuschen verbracht, das hold eingebettet in Flieder und Linden am Abhange des Schwalbenberges liegt, von dessen Höhe man weithin über Pillau und das Haff und das Meer hinausschaut. Eine Landmark krönt ihn, ein mächtiger Ziegelbau, der zu jenen Zeiten noch nicht da war.

Als ihre fünf Kinder – drei Mädchen und zwei Knaben – gerade darauf warteten, erzogen zu werden, da geschah es, daß ihr Mann, der auf großer Fahrt nach Indien unterwegs war, mit seinem Schiffe nicht wiederkam. Da stieg sie denn, sobald ihre kleine Schar sie entbehren konnte, zum Schwalbenberg hinan und hielt Ausschau morgens und abends und sommers und winters. Die Leute mochten tausendmal sagen, das Schiff sei verloren und ihr Mann komme nie mehr, sie kehrte sich nicht daran und wartete. Und wenn sie noch lebte, so würde sie auch heute noch warten. Aber ihr Geist verwirrte sich nicht. Im Gegenteil: mir scharfem Blick und harten Händen meisterte sie ihre Not und erzog ihre Kinder streng und in der Furcht des Herrn, bis sie dem Leben gewachsen waren.

Der eine der Knaben ging zur See, der andere kam ins Lehrerseminar, das älteste der Mädchen heiratete einen Maurer, das jüngste einen Beamten, der gar noch adlig war, die mittlere wurde meine Mutter. Und als sie nun allen eine Versorgung geschaffen hatte, da fand sich's, daß für sie selbst keine Bleibe mehr war. Der Ältesten hatte sie ihr Häuschen vermacht, bei der ging es gar ärmlich zu, bei den anderen war es der angeheiratete Teil, der sie nicht mochte, kurz, sie zog umher und wußte nicht, bei wem von den Ihren sie ihr Haupt in Ruhe niederlegen konnte. So landete sie schließlich in meinem[37] Elternhause, wo sie auch gestorben ist. Mein Vater war immer gut zu ihr, aber sie war böse – was wir Rangen so »böse« nannten – und sie weinte hinter ihrem Bettschirm oft halbe Nächte lang. Erzählen konnte sie wundervoll. Sie hat mit ihren eigenen Augen Napoleon gesehen, und vor dem Donner der Schlacht von Friedland hat sie sich sehr gefürchtet und die Ohren voll Watte gestopft. Sie stammte aus gutbürgerlichem Hause – ihre Vorfahren waren Kantoren und Ärzte gewesen, und eine ihrer Jugendfreundinnen, die auch ich noch besucht habe, die »Tante« Ulrike von Yorck, war eine Nichte des großen Generals.

Wenn abends der Wintersturm die Nordwand des Hauses anheulte und die Gardinen vom kalten Zuge sich blähten, dann war ihre Zeit gekommen, dann lauschten wir ängstlich der traurigen Mär von Preußens Unglücksjahren und ahnten nicht, daß wir selber einst größeres Unglück erleben sollten.


Winterszeit – Schlittschuhzeit! Ein großes Fest.

Heute, da ich den Winter hasse und die kurzen Monate der Wärme und des Blühens als ein karges Gnadengeschenk auszukosten bestrebt bin, kann ich mir kaum noch vorstellen, mit welcher Inbrunst wir dem ersten Frost entgegenharrten. Freilich ist meine Heimat mit ihren Strömen und Überschwemmungen, mit ihren langen Kältezeiten und dem kurzlebigen Tauwetter dazwischen, das nur dazu dient, die Eisflächen vom Schnee zu befreien, für den Schlittschuh ein Betätigungsfeld wie kaum ein anderes in Deutschland.

Keine väterliche Strenge, keine mütterliche Sorge war unserer Leidenschaft gewachsen. Hätte man uns eingesperrt, wir wären zur Bodenluke hinausgeklettert. Hätte man uns die Schlittschuhe weggenommen, wir hätten uns welche aus Brettern und Messerklingen selber verfertigt. Und das haben wir gelegentlich mit Gottes Hilfe auch wirklich getan.[38]

Wenn die Kälte unter zwanzig Grad Reaumur hinabsank und ohne erfrorene Finger und Nasenspitzen die Heimkehr unwahrscheinlich schien, dann mußten wir zu Hause bleiben, und das kostete Tränen genug. Aber sonst war uns volle Willkür gegönnt. Nur dem Einbrechen stand man von elterlicher Seite mit ausgesprochener Abneigung gegenüber, und kamen wir mit nassen Kleidern heim, so setzte es Haue.

Nach sehr harter Frostzeit, in der wir, bis zu den Augen vermummelt, gerade nur in die Schule gehen durften, geschah es eines Tages, daß ein linderes Lüftchen wehte: Minus 16 Reaumur, beinah wie im Juli. Da gab es natürlich kein Halten.

Mit meinem Bruder Otto, der anderthalb Jahre jünger war als ich, trieb ich mich auf dem Szieszefluß umher, und das lindere Lüftchen fegte das Eis vor uns blank, als sei es dazu gemietet.

Von Gefahr oder Unsicherheit war naturgemäß nicht die Rede. Nun gibt es jedoch in jedem strömenden Gewässer faule Stellen, die niemals recht zufrieren wollen. Sie sind dem Ortskundigen meistens bekannt, und auch ich wußte mit ihnen Bescheid. Ein Gutes aber mußte der klotzige Frost doch gehabt haben; darum lief ich jeder Vorsicht bar glatt in eine Blänke hinein und kam erst wieder zu mir, als ich im Wasser paddelnd die Kante des festeren Eises umklammert hielt.

Ein wenig mehr Schwung, und ich wäre nie mehr zum Vorschein gekommen. Mein Bruder half mir vollends heraus ... Was nun beginnen? ... Mit nassen Kleidern nach Hause zu kommen, war unmöglich. Noch unlängst hatte es ein Donnerwetter gegeben, und die Wegnahme der Schlittschuhe stand vor der Tür.

In solchen Fällen gibt es nur ein Mittel: man zieht sich aus, hängt die Kleider an einen Baum und läßt sie trocknen. Und so geschah es. Mein Bruder half mir die Schlittschuhe abschnallen. Die Stiefel behielt ich der Sicherheit wegen an, aber[39] Mantel, Jacke und Hosen schaukelten sich alsbald programmäßig am nächsthängenden Aste.

Das Hemde hörte nach wenigen Augenblicken zu triefen auf. Das war schon ein schöner Erfolg – und das lindere Lüftchen wehte mir wollüstig um die klappernden Beine.

Ja, so stand ich nun da und schaute sehnsüchtig dem Prozeß des Trocknens zu. Der ging über Erwarten hurtig vonstatten.

Die Hosen fühlten sich nicht mehr im mindesten feucht an, doch wenn die Beinlinge einander berührten, dann gaben sie ein Geräusch von sich, als ob man Steine gegeneinander reibt.

Das kam uns unheimlich vor.

»Ich werde sie doch lieber anziehen«, sagte ich zu meinem Bruder. Aber als ich den Wunsch in die Tat umsetzen wollte, ergab es sich zu unserem Schrecken, daß die beiden Seiten so fest zusammengefroren waren, als wären sie zu einem Stücke verwachsen. Mit dem Schlittschuh wurden sie rasch auseinandergeschlagen, bis sie zwei Röhren bildeten, die ohne jeden Beistand auf dem Eise standen wie Männer. In diese Röhren kroch ich wieder hinein, desgleichen in die gewaltsam geweiteten Ärmel, und dann kam der Heimweg. Daß er im Laufschritt vonstatten ging, wird jeder mir glauben, auch ohne daß ich's beteure.

Mama hatte eben die Lampe angesteckt und maß uns mit flüchtiger Teilnahme.

»War es auch nicht zu kalt?« fragte sie.

»Ach, es war wundervoll!« erwiderte ich und freute mich, daß sie nicht daran dachte, uns zu betasten.

»Wenn ich mich jetzt an den warmen Ofen setze«, so überlegte ich, »dann müssen die Kleider bis zum Abendbrot trocken sein.«

Also gut. Den lauen Kaffee verschmähte ich, um keine Zeit zu verlieren, und drückte mich dicht an die heißen Kacheln.[40]

Um den Sofatisch herum entwickelte sich das abendliche Familienleben. Mama saß über ihr Nähzeug gebeugt, Großmama strickte, und die beiden Brüder – der jüngste war noch nicht so weit – machten tugendhaft ihre Schularbeit.

Derweilen saß ich am Ofen und zitterte.

Da ereignete es sich, daß Mamas Händen irgendein Zeugstück entfiel. Sie bückte sich – bückte sich noch einmal – und ihr Blick wich nicht mehr vom Boden.

»Was ist das schon wieder?« fragte sie, mit dem Finger auf eine Dielenritze weisend, in der ein dünnes, dunkles Rinnsal dahergesickert kam. Der Finger erhob sich langsam und folgte der Richtung des Rinnsals bis zu dessen Quelle, die nirgendwo anders als am Ofen und gerade da sich befand, wo ich meine zwei Füße hingestellt hatte.

Sie stand auf, kam geradewegs auf mich zu, ihre prüfenden Hände glitten an meinem Körper entlang, und da war es mit dem Geheimtun zu Ende.

Aber dieses Mal gab es keine Haue, nicht einmal ein Scheltwort gab es. Ich wurde eilends ins Bett gestopft, bekam heißen Holundertee zu trinken, und am nächsten Morgen war nichts geschehen.


Oh, ihr glückseligen Schlittschuhfahrten ins weite Land hinaus! Späterhin habe ich einmal versucht, Kunstläufer zu werden – es ist mir mißlungen – gerade nur bis zum »Gegendreier« hab ich's gebracht. – Aber alle Seligkeiten des aufgestachelten und befriedigten Ehrgeizes sind unvergleichbar der weltentdeckenden Abenteuerlichkeit, mit der ein beflügelter Kinderfuß den blauen Fernen entgegeneilt.

Mein Auge hat manches von den Wundern der Welt geschaut. Ich habe die funkelnde Gletscherwelt zu meinen Füßen sich breiten sehen, ich bin auf schaukelndem Kamel und mit dem Kompaß als Führer in den sandigen, granitdurchstarrten Unendlichkeiten der Libyschen Wüste umhergeirrt, ich bin[41] auf dem Indischen Ozean gefahren wie die seligen Götter, und die grüne, triefende Dämmerung des tropischen Urwalds hat mir ihre Geheimnisse hergeben müssen. Aber das Schönste von allem hat mir meine arme litauische Heimat geboten.

Gegen den Ausgang des Winters hin, im Monat März, wenn die erste Schneeschmelze die weiten Wiesen zu einem uferlosen See gewandelt hat, aus dem nur hier und da ein Gehöft oder eine Baumkronengruppe gleich Inseln herausragt, dann pflegt bei blauendem Frühlingshimmel ein kurzer, milder Frost noch einmal einzusetzen, der um die Mittagsstunde bei Windstille zu widersinniger Wärme wird.

Dann pflegen sich die Wasserflächen noch einmal mit einer leichten Eiskruste zu bedecken, die bei Tage leise abschmilzt und zur Nacht wieder stärker wird. Sie wird gerade stark genug, um einen Schlittschuhläufer zu tragen, und ist so glasklar und durchsichtig, daß man nichts von ihr gewahrt, selbst wenn man dicht über ihr dahinfährt. Im Gegenteil, man sieht nichts weiter wie unter ihr das niedergebogene grüne Gras und die Fischchen, die glitzernd in den Gräben hin und her schießen. Wäre das Klingen und Klirren nicht, mit dem die Schlittschuhe das Eis durchschneiden, man würde des Glaubens sein, erdentbunden durch die Lüfte zu schweben. Und schließlich glaubt man es wirklich. Nie, selbst im Traume nicht, habe ich die Illusion des Fliegens so ungeschmälert durchgekostet wie an jenen sonnenklaren Märznachmittagen, an denen Himmel und Erde in eins zusammenwuchsen und alle Langsamkeit und alle Schwere in lachender Wonne sich löste.

Der große Strom, der sonst ein sagenhaftes Dasein führte, da er wohl eine Meile entfernt war und von Kleinjungensbeinen niemals erreicht werden konnte, lag schon nach zehn Minuten in königlicher Ruhe da – weiße Schollengebirge, an den Rändern von blauleuchtenden Spiegeln übergossen. Auf diesen[42] Spiegeln fuhr man hinaus in die fremde Welt, und das Herz jubelte nahenden Feenländern entgegen.

Und eines kam – sich dehnend zu lichtüberströmter Unendlichkeit. Der Strom wurde breiter und breiter – und plötzlich war er nicht mehr da – hatte sich aufgelöst in unabsehbarem Leuchten und Glitzern. Das Auge ertrank in Fluten des veilchenfarbenen Glanzes, die über breite kristallene Brücken daherströmten. Die Bläue rechts und links, die sich weitab in Nebeln verlor, glich nicht der Bläue des Inneneises, sie war durchmustert von Funken und Blitzen, als habe sie einen Sternenhimmel verschluckt, und dunkle, schmale Bänder zogen sich quer hindurch. Das waren die Schrecken der Schlittengespanne, die offenen Stellen, in die man hineinfuhr wie in den Rachen des Todes.

Umkehren oder weiter hinaus? Nein, weiter hinaus. Trotz Herzklopfen und Todesgefahr. Einen Trunk Unendlichkeit trinken, ein Staubkorn werden wie jener Schlitten, der weit, weit in der Ferne als schwarzes Pünktchen quer über das Haff kroch.

Das Eis erklang, die Risse donnerten, und so flog man hinein in die Lichtwelt. Bis sie anfing, sich purpurn zu färben, bis das Blau sich zu Rosa verklärte und der blasse Märzenmond plötzlich am Himmel stand.

Dann aber dalli zur Umkehr! Der Abendfrost kam, die Kleider dampften, und konnte man noch in leidlicher Dämmerung zurück über den Stromdamm klettern, dann war man heilfroh.

Und dann plötzlich war alles zu Silber geworden. Silbern die Dächer – silbern die Baumkroneninseln – silbern die Bläue des Eises. Selbst das Gras, das verzaubert unter gläserner Decke des Frühlings harrte, war mit Silberfunken besetzt. Aber die Fischchen schliefen.

Und war man am Heimatufer gelandet und stapfte mit steifen Beinen dem Elternhause zu, dann wußte man niemals mehr,[43] wo man recht eigentlich gewesen war. In einem Traumland? Auf einer Himmelswiese? In jenem Märchengarten, dessen goldene Pforte nur Glückskindern sich auftut?


An einem solchen blauleuchtenden Märzentage geschah es, daß die beiden Töchter der Frau Pfarrer Hugenberger ihrer Mutter davonrannten.

Als wir morgens in das Schulzimmer kamen, fanden wir unsere Lehrerin in Hut und Mantel, tränenüberströmt und händeringend zwischen den Bänken umherirren.

»Die Undankbaren!« schrie sie. »Die entarteten Geschöpfe! Die Schlangen, die ich an meinem Busen genährt habe! Denen ich jeden Bissen vorgekaut und jeden Trunk zwischen den Händen gewärmt habe! ... Aber ich werde hinter ihnen herfahren! Ich werde sie einfangen! Und dann werde ich sie züchtigen, wie noch nie Kinder gezüchtigt worden sind ... Und ich kenne auch ihre Mitschuldigen! Ich weiß, wer mit ihnen zusammen das saubere Plänchen ausgeheckt hat!«

Damit sah sie uns der Reihe nach drohend an, und wir knickten schuldvoll zusammen.

»Für heute habt ihr frei«, fuhr sie fort, »aber morgen werde ich unter euch treten und fürchterliche Musterung halten! Dann gnade euch Gott und auch euren Eltern und Elterseltern, die solche Verworfenheit gezeugt haben.«

Das war so ihre Redeweise – und nicht bloß an Tagen der Katastrophe.

Und dann toste sie von dannen, denn der Wagen, auf dem sie den Entflohenen nachsetzen wollte, machte sich draußen bemerkbar.

Wir Schulkinder – zehn oder zwölf an der Zahl – schickten uns an, nach Hause zu gehen und den unverhofften Feiertag bestmöglich auszunutzen.

Da gewahrte ich, daß Ottilie – Ottilie Settegast, das liebe, blonde Mädel mit den zwei Mäuseschwänzchen im Nacken –,[44] die mir seit langem von allen Gefährtinnen am besten gefiel, in einem Winkel saß und weinte.

Ich wußte auch sofort, warum sie weinte, denn nicht umsonst hatte sie seit Wochen mit den Davongelaufenen zusammengesteckt und getuschelt, und da sie als Tochter eines Auswärtigen – des Besitzers von Oszkarten – über Mittag in der Schule blieb und sich ihr Mitgebrachtes auf dem Herde der Frau Pfarrer wärmen ließ, hatte sie doppelt und dreifach Gelegenheit gehabt, das verbrecherische Komplott schmieden zu helfen.

Mein Herz wurde von Mitleid weit, ich wartete, bis die Brüder und sämtliche anderen das Zimmer verlassen hatten, und trat dann an sie heran, um sie zu fragen, was ihr fehle.

Ihr fehle nichts, und ich möge meiner Wege gehen.

Aber so leichten Kaufes war ich nicht abzufinden. »Wenn du nun wirklich dabei gewesen bist«, sagte ich, »das schadet ja nichts, ich würde auch geholfen haben, aber ihr habt mich ja nicht ins Vertrauen gezogen.«

Da wurde sie weicher. »Was soll ich nun anfangen?« klagte sie, »ich sitze hier ganz allein, und der Wagen holt mich erst abends.«

»Du gehst zu deinem Onkel«, riet ich.

Ihr Onkel war der alte Apotheker Settegast, von dem ich späterhin noch viel zu erzählen haben werde.

Nein, das könne sie nicht. Wenn man ihre rotgeweinten Augen sähe, dann würde man sich was denken, und dann bekäme sie Schelte.

»Komm mit, Schlittschuh laufen.«

Das möchte sie schon, aber sie habe keine Schlittschuhe da.

»Ich werde dir welche besorgen.«

Damit wollte ich hinauslaufen, aber sie bat so sehr, ich möchte sie nicht allein lassen, daß ich sie mit mir nahm und an unserem Gartenzaun warten hieß, bis ich meinem Bruder Franz die Schlittschuhe, mit denen er eben abziehen wollte,[45] für zehn Hosenknöpfe – ich besaß sie noch gar nicht, aber ich hätte sie mir im Notfalle von den Sonntagskleidern geschnitten – mühsam abgehandelt hatte.

Auf die Wiesen gingen wir nicht – da hätten wir an der Apotheke vorbei müssen – aber hinter dem Dorfe gab es rings um einen sandigen Hügel einen tiefgelegenen Roßgarten, der um diese Zeit meistens überschwemmt war. Dort trieben sich nur Volksschüler herum, und die zählten nicht.

Von jenen Vormittagsstunden habe ich keinen Augenblick vergessen. Wir wiegten uns in der wärmenden Märzensonne, wie Katzen im Thymian spielen, und in mir fragte eine Stimme: »Was ist das nur? Was ist das nur? Warum ist die Welt so schön, und warum ist es so schön, Ottiliens Hand zu halten? Und wenn sie spricht, warum sind ihre Worte so anders, als anderer Menschen Worte jemals gewesen sind?«

Und sie hatte so viel Vertrauen zu mir. Sie erzählte von ihrem Geheimbuch. Und von den Streichen ihrer großen Brüder erzählte sie, die in Memel auf dem Gymnasium waren. Und von einem Freunde, den sie zu Weihnachten mitgebracht hatten. Der verehre sie sehr, aber sie mache sich nichts aus ihm.

Jetzt wußte ich, ich verehrte sie auch, und jenen hätte ich ermorden können, obwohl sie sich nichts aus ihm machte.

Als der Mittag kam, wurden wir hungrig. Sie hatte Furcht, in die leere Wohnung der Frau Pfarrer zurückzukehren, und ich wiederum getraute mich nicht, sie zu uns einzuladen, denn fremde Tischgäste mitzubringen war in unserm Haushalt nicht Sitte.

Und damals aßen wir auch noch von Wachstuch.

Ich beschloß also, bei ihr zu bleiben, rannte rasch nach Hause und erreichte unter dem Vorwande, Frau Pfarrer habe mich beauftragt, in der unverschlossenen Wohnung nach dem Rechten zu sehen, daß ich beim Mittagessen fehlen durfte. Sogar zwei dickbelegte Semmeln bekam ich auf den Weg, damit mir nicht schwach würde.[46]

Nun hausten wir beide zusammen bis zum Abend. Wir machten Feuer im Herde und wärmten ihr Mittagbrot. Sie hatte Wurstsuppe mit, das weiß ich noch heute, in einer breithalsigen Flasche, wie man sie sonst zum Einmachen braucht, und einen zusammengeklappten Eierkuchen, von dem ich abbeißen durfte. Nie hatte mir im Leben etwas so schön geschmeckt.

Und dann wuschen wir auf wie gelernte Dienstmädchen und brachten auch gleich die ganze Wohnung in Ordnung. Unser Eifer war gar nicht zu bändigen, und immerzu ersannen wir neue Geschäfte, bis plötzlich der Wagen draußen stand, der Ottilien abholen kam.

Mir war das Herz schließlich so beklommen gewesen, daß ich mich beinahe freute, als sie von hinnen fuhr. Nun stand ich allein in dem leeren Schulzimmer, in dem es plötzlich eiskalt war, denn an Heizen hatte niemand gedacht, und ich fing an, mich zu fürchten. Aber ich hatte nicht den Mut, nach Hause zu gehen. Mir war, als müsse sich etwas ereignen, irgend etwas Großes, Freudiges, noch nie Dagewesenes.

Ihre Büchertasche hatte sie liegen lassen. Vielleicht, daß sie den Kutscher umkehren ließ und sie holte. Ich sah ihre Schreibhefte durch und küßte die Stelle, auf der ihre Hand zuletzt gelegen hatte. Ich setzte mich auf ihren Platz und streichelte die Kante, an die sie sich lehnte. Und derweilen fürchtete ich mich immer mehr, denn es fing an, dunkel zu werden.

Da faßte ich endlich einen Entschluß, legte den Schlüssel unter die Strohmatte und machte, daß ich davonkam.

Am selbigen Abend saß ich bis zur Schlafenszeit im Ofenwinkel der dunklen Vorderstube und malte mir aus, wie ich ein großer Mann werden würde, ein General, ein Minister oder ein Dichter, und wie ich dann eines Tages heimkommen und den Rittergutsbesitzer Settegast um die Hand seiner Tochter bitten würde, die mir nun nicht mehr verweigert[47] werden konnte, wenn auch mein Vater nicht zu den »Honoratioren« gehörte.

Am nächsten Morgen saßen die beiden Missetäterinnen auf ihren Plätzen, als wäre nichts geschehen. Frau Pfarrer flocht in ihr Morgengebet eine Stelle ein, in der von mißratenen Töchtern die Rede war, die Gottes Gnade in die verzeihenden Arme der schwergeprüften Mutter zurückgeführt habe. Und dann stiegen wir beruhigt in die französischen Konjugationen hinein.

Ich schielte unverwandt nach Ottiliens Platz hinüber, auf dem auch sie saß, als wäre nichts geschehen. Sie hatte die Arme vor ihrer Grammatik gefaltet, und die Mäusezöpfchen hingen über die Blätter.

Mein Auge bat und bettelte, vier Tadel bekam ich mindestens, aber nicht einmal beim Tadeln sah sie mich an.

Trotzdem muß von dem, was zwischen uns geschehen war, etwas durchgesickert sein, denn eines Tages wurde mir mitten in der Stunde ein zusammengefalteter Zettel zugeschoben, auf dem stand: »O.S. liebt H.S.« Ich schrieb darunter: »H.S. liebt O.S.« und schickte den Zettel zurück.

Nun gab es drüben unter den Mädchen ein Kichern ohne Ende. Ottilie aber war böse und grüßte mich nicht mehr.

Das hat mich wochenlang herzbrechenden Kummer gekostet, und der finstere Ofenwinkel erlebte verzweifelte Schwüre und heroische Entschlüsse ohne Zahl.

Bis eines Tages durch die gleiche Post ein Pillenschächtelchen an mich gelangte. Darin lag ein blauer Perlenring, und auf dem Boden waren mit Bleistift die Worte geschrieben: »O.S. für H.S.«

Diesmal quittierte ich nicht, denn ein Blick auf Ottiliens glutübergossenes Gesichtchen verriet mir, daß drüben ein Ränkespiel im Schwange war. Ich bin auch nie dahintergekommen, ob der Ring in Wahrheit von ihr stammte, aber gehütet habe ich ihn als Heiligtum viele Monate lang. –[48]

Eines Tages blieb sie aus, und uns wurde erzählt, sie habe eine Gouvernante bekommen. Von nun an sah ich sie nur noch, wenn sie gelegentlich einmal auf der Chaussee vorüberfuhr.

Ich glaube, ich habe den Oszkarter Wagen an der Art seines Rasselns von weitem gekannt, denn eine Ahnung sagte mir schon immer im voraus: »Jetzt kommt sie.«

Dann versteckte ich mich hinter dem wilden Wein unserer Veranda. Um nichts in der Welt hätte ich hervorzutreten und sie zu grüßen gewagt, und leuchtete ihr rotes Jäckchen auf – das trug sie auf ihren Fahrten immer von Sommeranfang an –, dann stach es mir wie eine züngelnde Flamme mitten ins Herz. Dann bin ich hinter die Brauerei gelaufen, wo der Schwengel der großen Pumpe als Traumschaukel immer für mich bereit hing, und habe gelacht und geweint und bin sehr glücklich gewesen.

Von dem frühen und tragischen Tode Ottiliens werde ich noch zu erzählen haben. –

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 23-49.
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