Zwanzigstes Kapitel

Die Rettung

[357] Auf dem Dönhoffsplatz, gegenüber dem Denkmal des Freiherrn vom Stein, stand das Preußische Abgeordnetenhaus, ein unansehnlicher Kasten, der sich aus Zeiten enger Armut in die Fülle des größeren Deutschlands hinübergerettet hatte.

Dort trat ich eines Tages ein – aus Unmut, aus Verlassenheit, und weil ich mit den Mittagsstunden nichts Besseres anzufangen wußte.

Und aus diesem Gange erwuchs mir eine neue Zukunft.

Ich hatte es gut getroffen. Der Saal war übervoll. Drüben in einem Verschlage, der der Parkettloge eines Theaters ähnelte, saß eingepfercht ein Häuflein älterer Herren, alle dunkel gekleidet – nur einer, der Massigste, der Markigste von ihnen, der den rechten Eckplatz innehatte, trug Kürassieruniform.

Das Herz fing mir zu schlagen an. Das war mein Feind und der Feind des Volkes. Das war der große Verderber Bismarck.

Was vorging, verstand ich nicht gleich. Ein kleines Männchen mit runden Brillengläsern und einem Eulenkopf – später erfuhr ich, daß es Windthorst war – redete heftig auf Bismarck ein, und dieser verbeugte sich bisweilen, lächelte halb zustimmend und halb ironisch und schrieb mit einem armlangen Bleistift Bemerkungen auf ein vor ihm liegendes Blatt.

Als der kleine Mann geendet hatte, brachte er ihm mit leise aneinandergelegten Handflächen einen Beifall dar, von dem man nicht wissen konnte, ob er als Hohn oder als Höflichkeit gelten wollte, und wandte sich dann lebhaft an seinen Nachbar,[358] einen alten Herrn mit langen, weißen Bartkoteletten – das war der Minister des Innern, Herr von Puttkamer, wie man rings um mich flüsterte – und sprach so lebhaft und dringlich auf ihn ein, als ob er ihm seine Ansicht mit einem Hammer einrammen müsse. Aber plötzlich horchte er auf – vom Präsidentenstuhle war der Name »Eugen Richter« in den Saal hineingeklungen –, schoß herrisch zu einer unwahrscheinlichen Höhe empor, warf den Bleistift unwirsch vor sich hin und verließ den Saal.

Noch einmal blauaufflammend erlosch der Farbenfleck in der zuschlagenden Tür.

Eugen Richter – das war mein Mann! Das war der trotzige Tribun, der gegenüber der Kriecherei vor Fürstenthronen, gegenüber den Keulenschlägen der junkerlichen Reaktion den Nacken steif hielt – einer der wenigen in deutschen Landen, die ihren Mannesmut noch nicht zu Markte getragen hatten.

Er sprach – er sprach mit heiser blecherner Stimme und einem Zähneziehen, als wolle er Ströme von Scheidewasser über die Köpfe der Gegner ergießen. Dabei schob er die linke Schulter vor wie ein losschlagender Boxer.

So war's recht! So war's recht! Das Gewissen eines in Knechtschaft ersterbenden Volkes hatte durch ihn Faust und Stimme bekommen. In ihm war Hoffnung, in ihm Erlöstsein. Wenn man den übermütigen Bedrückern so kühn entgegentrat, mußten sie nicht in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle bereuend zu Kreuze kriechen?

Aber das taten sie nicht. Im Gegenteil. Als er geendet hatte, erhob sich auf der Rechten, dort, wo die gutsherrlichen Machthaber des platten Landes und die vielen Landräte saßen, erhob sich einer, ein geschniegelter und schönfrisierter Herr, und erwiderte ihm mit knarrender Korpsstudentenstimme – oh, ich kannte sie wohl, diese schmißbedeckte Suffisance! – erwiderte ihm Dinge, die mich in Zorn und Wut erstarren[359] machten. Ich hatte nur einen Gedanken: Dem Kerl müßte man aufsengen – gezogene Pistolen – zehn Schritt mit Avancieren – und niederknallen. Denn das war die Sprache, die er verstand, die einzige.

Und dann kam Rickert, der bekannte Führer der »Sezession«, die sich unlängst von den Nationalliberalen getrennt hatte. Den liebte ich. Liebte ihn schon nach den ersten Augenblicken, in denen er geredet hatte. Ein mittelgroßer Mann, in den Fünfzigern etwa – langgestrichenes Braunhaar, scharfe Brillengläser vor guten, erregt blickenden Augen – eifrig, eilig, mit warmem, weichem, vielleicht allzuweichem Pathos ... Ach, das tat wohl, die schurigelnde Hoffart jenes Gardeassessors gekennzeichnet und verurteilt zu sehen! Nur schärfer, unerbittlicher, spießrutenhaft, skorpionenhaft hätte es geschehen müssen. Mir war, als sollte ich zu ihm hinüberrufen: »Kß! Kß! Kß!« Und als er geendet hatte, blieb mir das mutlose Gefühl: »Es hilft ja doch nichts.«

Aber ich liebte ihn, liebte ihn mit zager, ein wenig mitleidiger Liebe, und ich habe ihn immer geliebt, auch als ich nach bald zweijähriger Zusammenarbeit mich von ihm trennen mußte.

Doch ich will hübsch der Reihe nach erzählen.

Seit jenem Tage, an dem ich durch Zufall ins preußische Abgeordnetenhaus hineingeraten war, hatte ich ein neues Interessengebiet, in dem ich alsbald widerstandslos gefangensaß. Allem, was Politik heißt, hatte ich bisher nur dasjenige Maß von Anteilnahme entgegengebracht, das einem grollenden Staatsbürger zukommt und das sich darauf beschränkt, die Fäuste zu ballen und im übrigen die Dinge gehen zu lassen, wie wenn sie auf einem fremden Planeten ihren Schauplatz hätten.

Mit einem Male sah ich, daß in meiner nächsten Nähe, von meiner Stube aus in fünf Minuten zu erreichen, sich tagtäglich ein Drama abspielte, das weit mehr bedeutete als alles Theater,[360] das Leben und Vaterland und das eigene Schicksal selber war.

Von nun an wurde ich Stammgast in dem Hause am Dönhoffsplatz, und wenn dort gerade nichts los war – der graue Palast am anderen Ende der Leipziger Straße, der sich das »Reichstagsgebäude« nannte, beherbergte Kämpfe und Erschütterungen von noch ganz anderem Kaliber, denn dort wurde die Weltgeschichte brühheiß aus dem Ofen gezogen.

Von nun an las ich die Parlamentsberichte in den Zeitungen mit gierigem Auge und zitterndem Herzen, und was ich nicht verstand, dessen suchte ich durch ergänzende Arbeit Meister zu werden.

So konnte es nicht ausbleiben, daß meine Freundin Mathilde, die den Plan meiner Selbstverbannung mit Bestürzung verfolgt hatte, auf mein neues Treiben aufmerksam wurde; und als sie mir bei unserer nächsten Zusammenkunft – die Unterhandlungen mit einem pommerschen Rittergutsbesitzer standen schon dicht vor dem Abschluß – die lächelnde Frage vorlegte, ob ich nicht doch lieber in Berlin bleiben und zur Politik übergehen wolle, da hatte ich zum erstenmal, seit wir uns kannten, die widrige Empfindung, sie mache sich über mich lustig.

Aber das tat sie durchaus nicht. Denn wenige Tage darauf erhielt ich von ihr einen Brief, darin stand nichts weiter als: Der Reichs- und Landtagsabgeordnete für Danzig, Herr Landesdirektor Rickert, lasse mich bitten, ihn dann und dann in seiner Wohnung zu besuchen.

Spornstreichs rannte ich zu ihr.

Was das bedeute? Nichts bedeute es, als daß sie Herrn Rickert, in dessen Hause sie verkehre, von mir erzählt habe und daß er der Meinung gewesen sei, für solch eine frische und unverbrauchte Kraft könne man, wenn sie sich bewähre, immer Verwendung finden.[361]

Da sank ich in die Sofaecke, wo ich sonst in dumpfer Ermattung vor mich hingedrönt hatte, wie von einem Blitzschlag gefällt, und konnte mich kaum wieder hochzwingen. –

Zur festgesetzten Stunde zog ich die Klingel in dem Hause der Matthäikirchstraße, wohin ich befohlen war.

Ein herzerfreuender Händedruck – ein vertrauendes Forschen aus eilig abirrenden Augen ... Was ich wisse? Was ich könne? Was mich für die Laufbahn eines politischen Journalisten qualifiziere?

Oh, ich war nicht blöde. Ich wisse alles. Ich könne alles. Und für die Laufbahn eines politischen Journalisten sei ich nicht nur hervorragend talentiert, sondern auch mit besonderem Fleiße vorbereitet.

Volkswirtschaft? »Aber selbstverständlich.« ... Meinen Schmoller kannte ich doch. Daß ich von allem, worauf es ankam, keine Ahnung hatte, ging mir erst später auf.

Na schön. Fürs erste möge ich mich im Büro der »Liberalen Korrespondenz« bei deren Redakteur, Herrn Bartsch, melden und ihm mitteilen, daß ich von nun an die Parlamentsberichte übernehmen würde.

Damit war ich entlassen.

Als ich im Hausflur stand, öffnete er hinter mir die Tür und rief mir nach: »Eine Frage noch. Sind Sie Jude?«

Ich verneinte.

»Das ist gut«, erwiderte er. »Ich bin zwar Vorsitzender des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, aber wenn Sie Jude wären, könnte ich Sie nicht anstellen.«

Das Büro der »Liberalen Korrespondenz«, die als hektographiertes Parteiorgan von der »Sezession« gegründet war, um die gesinnungsverwandten Zeitungen mit Nachrichten zu speisen, befand sich auf dem Hofe desselben Hauses, in dem Rickert seine Wohnung hatte.

Herr Bartsch, ein aufgeschwemmter Vertilger von Mosel mit Selter, gutmütig, redselig, zum Sich-unterordnen vorherbestimmt,[362] führte allda in ängstlicher Pflichttreue ein ungesundes Hinterstubendasein, dem er sich nur sonntags für etliche Stunden entraffte, um in dem nahen Tiergarten für die ganze nächste Woche die Lungen voll Luft zu pumpen.

Er empfing den jungen, flotten Akademiker mit dem leblosen Aufblick des gescheiterten Schulmeisters, zu nachsichtiger Hilfe im voraus bereit.

Ricken hatte ihn bereits benachrichtigt. Am nächsten Vormittage sollte ich in einer Sitzung des Herrenhauses mein neues Amt antreten. In ihm war ich noch nie gewesen. Seine Vornehmheit hatte mich stets bewogen, in scheuem Bogen drum herumzugehen.

Nun hielt ich eine Empfehlungskarte an Herrn von Forckenbeck in Händen, der als Oberbürgermeister von Berlin dorthin gehörte, und kam mir so wichtig vor, als wäre ich selber schon Mitglied.

Mit Verbeugungen ließen die Diener mich ein. Einer wies mir den Weg durchs Treppenhaus in eine langgestreckte Galerie, in der Gruppen hochstämmiger Männer langsam daherschritten, und ging fort, den Gesuchten zu holen.

Schwarze Lederpolster luden zum Ausruhen ein. Ein blauer Duft zog mir entgegen. Inbrünstig sog ich ihn auf. Wie lange schon hatte ich ihn nicht mehr geschlürft, den Rauch der echten Havannas, der so weihevoll wie eine Opferwolke in diesem Tempel der Feudalität gen Himmel stieg!

»Da gehen sie nun in Haufen«, dachte ich, »die Helden der Romane, die ich immer noch nicht geschrieben habe – die Fürsten und die Grafen, deren Leben nichts wie Romantik ist – zum Greifen nahe und doch wie weltenfern.«

Ich hätte sie beim Kragen nehmen und wegschleppen mögen, nur, um sie zum Zweck des Bedichtens kennenzulernen.

Und dann kam Herr von Forckenbeck, den ich von den Bildern der illustrierten Blätter her längst kannte, gab mir freundlich die Hand und ließ mir einen Platz auf der Mitgliedertribüne[363] anweisen, dort, wo die blaublütigen Damen saßen, deren Männer – oder hier müßte man wohl sagen »Gemahle« – Preußens Gesetze lächelnd bestätigten.

In welch erlauchter Ruhe spielten die Dinge dort unten sich ab! Die Herren von der »anderen Fraktion« – das waren die Bürgermeister – wurden so wohlwollend abgetan, daß ich, wäre ich einer von ihnen gewesen, vor lauter Scham den Mund nicht mehr aufgetan hätte.

In den zwei hinteren Winkeln des Saales befanden sich Ecksofas mit dunklen Lederpolstern, ähnlich wie die in der Wandelhalle. In jedem von ihnen hatte sich ein langer junger Herr niedergelassen und wurde beim Sich-lang-hinstrecken immer noch länger.

»Die müssen ganz vornehm sein«, dachte ich mir, »denn sonst könnten sie sich nicht so lümmeln.«

Und richtig! Als der Namensaufruf der Abstimmung sie in ihrer erhabenen Beschaulichkeit störte, ergab sich's, daß der eine – ich glaube – ein Prinz mit halbfranzösischem Namen, der andere ein Fürst war, dessen Name golden in Preußens Geschichte erglänzte.

Der Bericht, den ich abends auf dem Büro in den gewünschten zehn Zeilen zusammenfaßte, kam noch rasch auf den Stein, und als ich am nächsten Morgen das Berliner Tageblatt öffnete, fand ich ihn auf der vordersten Seite gleich nach dem Leitartikel wieder.

Voll Andacht betrachtete ich mir das erste Gedruckte, das nun aus meiner Feder in die Welt ging.

»Eine gewisse staatsmännische Weisheit muß doch wohl drin sein«, sagte ich zu mir mit bescheidener Selbsteinschätzung, »sonst hätte ein so bedeutendes Blatt ihm nicht die erste Stelle eingeräumt.«

Wenige Tage später erhielt ich eine Einlaßkarte zur Journalistentribüne des Reichstags und fühlte mich hiermit feierlich in die Gilde aufgenommen.[364]

Ein günstiger Zufall verschaffte mir einen Platz auf der untersten Bank dicht vor der Brüstung, so daß ich, Bismarcks mächtige Schädelwölbung senkrecht unter mir, in Ruhe feststellen konnte, daß von den drei Haaren, mit denen die Witzblätter seine kahle Platte begabten, nicht ein einziges da war. Auch wie häufig das Wasserglas mit der mattgelben Flüssigkeit – die einen sagten, es sei kalter Tee, die anderen, eine nicht sehr schwache Kognakmischung – neu aufgefüllt vor ihn hingestellt wurde, blieb mir durchaus nicht verborgen. Ich beobachtete, wie mit dem rechten Arm zugleich der ganze Riesenkörper erbebte, wenn er seine steilzügige Unterschrift auf die hingebreiteten Bogen pflanzte; und wie er gelegentlich seine Ministerkollegen anschnauzte, das sah ich auch. Manchmal war mir, als sei ich ganz in ihn hineingekrochen und lächelte und verneigte mich statt seiner – oh, mit welch niederträchtiger Grazie er das tat! – und stutzte und grollte und verwunderte mich statt seiner – jede Verwunderung kam einer Todesdrohung gleich – und schaute statt seiner mit rasch zurückgewonnenem Gleichmut auf die Pygmäenschar hinab, die ihm das Leben sauer machte.

Mein Haß gegen ihn wagte sich erst wieder hervor, wenn er nicht mehr da war. Solange ich ihn vor mir sah, war das menschliche Übergewicht seiner äußeren Erscheinung und seines inneren Gefüges so stark, daß kein anderes Gefühl als das der menschlichen Unterwerfung in mir aufkommen konnte.

Und er erschien in Wahrheit als der einzige Mensch unter lauter Puppen, die die Regierungsbänke bevölkerten. Wesenlos saßen sie da – alle sahen sie gleich aus und benahmen sich gleich, und wenn sie redeten, war's, als klappere eine Maschine. Die echten Symbole jener unpersönlichen Begrifflichkeit, die der gute deutsche Untertan »Obrigkeit« oder »Behörde« nannte. –

Und dann kamen zwei unvergeßliche Tage – unvergeßlich[365] schon darum, weil ich ihnen Stellung und Aufstieg verdankte – da sah ich ihn menschlicher denn je. Allzu menschlich sah ich ihn.

An dem ersten geschah folgendes:

Irgendeine der Linksparteien – ich glaube sogar die, für die ich arbeitete – hatte eine Interpellation wegen der landläufigen Wahlbeeinflussungen eingebracht, die schon längst zum Himmel schrien.

Von den Landratsämtern aus war ein engmaschiges Netz von konservativen Vertrauensmännern über die Wahlkreise hingeworfen. Jeder Amtsvorsteher, jeder Ortsschulze, jeder Gendarm und beinahe auch jeder Gastwirt und jeder Lehrer handelte als Agent der Regierung. Daß die Gutsherren ihre Leute mit Wahlzetteln versahen und unter Aufsicht der Inspektoren wie eine Hammelherde zur Urne trieben, verstand sich von selbst – jedes Wider-den-Stachel-Löcken hätte sofortige Entlassung mit sich gebracht –, aber auch die Bauern und die kleinen Handwerker des platten Landes sahen sich, wenn sie nicht bereits von Überzeugungs wegen zu den Regierungstreuen gehörten, schon um des lieben Friedens willen genötigt, sich ihnen anzuschließen. Denn die Benachteiligungen und Zurücksetzungen, die ihnen anderenfalls drohten, waren ohne Zahl. Wären die Städte nicht gewesen, die sich eine gewisse Selbständigkeit zu wahren gewußt hatten, Deutschland oder wenigstens dessen nordöstlicher Teil – im Süden und Westen regierte der Pfaffe – hätte sich schon längst in einen schwarzweißen Kirchhof verwandelt. So wenigstens fühlten wir damals – und viele meinen, die Geschichte habe uns recht gegeben.

Das Bild jener Wahlbeeinflussungen, die, wie gesagt, in den Landratsämtern ihren Ursprung hatten, war von dem ersten der Redner in seiner ganzen charaktermordenden Abscheulichkeit vor der Welt aufgerollt worden. Was konnte darauf erwidert werden? Handelte es sich doch um Tatsachen, die[366] viel zu offenkundig dalagen, als daß ein Leugnen möglich war.

Da erhob sich Bismarck, der in wachsender Nervosität schon zwei Bleistifte zerbrochen hatte.

Der Saal erstarrte.

War niemals gut Kirschen mit ihm essen, so heute weniger denn je.

Man wußte, daß er Kummer hatte. Familienkummer. Sein Sohn Herbert, der damals noch als Junggeselle sich seines Halbgottums erfreute, war unlängst, so raunte man sich zu, mit der Frau eines schlesischen Magnaten nach Venedig durchgegangen und erhob seinem Vater gegenüber Anspruch auf künftige Heirat.

Da habe dieser – so flüsterte man ferner – sich mit dem Sohne eingeschlossen, habe eine Pistole vor sich hingelegt und ihm ehrenwörtlich erklärt: »Wenn du nicht auf der Stelle verzichtest, so schieße ich mir hier vor deinen Augen eine Kugel vor den Kopf.«

Hieraus konnte man folgern, in welcher Stimmung er war und wessen man sich von ihm zu versehen hatte.

Und er begann mit seiner hohen, fast bellenden Stimme – räuspernd, schluckend, würgend wie gewöhnlich. Er war kein guter Redner – erst wenn der Gegenstand ihn fortriß, schleuderte er seine Blitze über die erschauernde Welt.

Was die Herren nur immer an dem preußischen Landrat zu mäkeln hätten. Der preußische Landrat, so konservativ er auch sein möge, tue seine Pflicht, man möge ihn in Ruhe lassen. Der wahre Krebsschaden sei übrigens nicht der konservative, sondern der liberale Landrat.

Eine Woge des Staunens rauschte durch den Saal und brandete an der Tribünenwand.

Hatten wir recht gehört?

Der liberale Landrat? Wo hätte es das je gegeben, soweit die deutsche Zunge klingt?[367]

Der liberale Landrat – das war ein schreiender Widersinn, eine contradictio in adjecto war's.

Sitze klappten, Pultdeckel scheuerten – eine neue Woge, diesmal körperlich und aus schwarzen Menschenleibern gebildet, wälzte sich gegen die Bundesratsestrade und nach dem Platze hin, von dem aus der Gewaltige sprach.

Der Präsident mahnte zur Ruhe, und er fuhr fort: Er wolle hierfür nur einen Beweis bringen. Es habe der Landrat Baumbach vor der letzten Reichstagswahl sich nicht versagen können, mit dem Kandidaten der Liberalen, dem Abgeordneten Lasker, von einem Wahlbezirk zum anderen zu kutschieren, um ihn auf diese wirksame Weise den Insassen des Kreises ans Herz zu legen. Ob dieses Beispiel genüge?

Ein nicht endenwollendes Hallo erhob sich. Baumbach – der Bruder des Lindenwirtin-Dichters übrigens – war Landrat in dem freiheitlich regierten Ländle Sachsen-Meiningen, wohin die eiserne Faust des preußischen Innenministers nicht reichte. Was dort geschah, mochte den derzeitigen Gewalthabern wohl ein Greuel sein: Hatten sie doch alles, was nicht regierungsfromm war, zu Reichsfeinden gestempelt.

Dieser unverzagten Menschenverachtung gegenüber, die die tausend täglichen Schandtaten mit dem Mantel der Liebe zudeckte, um aus jenem harmlosen Geschehnis, das keinerlei Bedrohung und Seelenzwang mit sich brachte, ein fluchwürdiges Verbrechen zu machen, schien jedes Abwehrmittel recht.

Die beiden Angegriffenen waren zur Stelle und blieben die Antwort nicht schuldig.

Aus ihrem Zeugnis ergab sich, daß Baumbach ein einziges Mal mit Lasker, der als sein alter persönlicher Freund bei ihm wohnte, in demselben Wagen gesessen hatte und daß von irgendeiner Einwirkung des Landrats auf die Wähler seines Kreises nicht die Rede sein konnte.

Und es ergab sich noch mehr: Nämlich, daß der konservative[368] Gegenkandidat Laskers Bismarcks eigener Sohn Herbert war und daß er, um dessen Aussichten zu fördern, an die meiningische Regierung ein amtliches Schreiben gerichtet hatte, worin sie ermahnt wurde, nach Kräften dahin zu wirken, daß Lasker nicht gewählt würde. Ein Geheiß zur Wahlbeeinflussung, wie es dringender nicht gedacht werden konnte.

Zornig erhob sich der Kanzler, um die letzte der Behauptungen als reine Unwahrheit zu bezeichnen – das bewußte Schreiben sei vielmehr erst nach der Wahl an jene Regierung ergangen –, aber der fatale Eindruck ließ sich nicht mehr verwischen, und die Linke triumphierte. Es war klar, daß der Sieggewohnte dies Geschehnis in seine Ruhmeskränze nicht würde hineinflechten können.

Doch Bismarck war nicht der Mann, den Schatten einer Niederlage auf sich sitzen zu lassen, und der nächstfolgende Tag sah ihn schon wieder kampfbereit auf dem Plane.

Heute handelte es sich um einen Gesetzentwurf, der dazu dienen sollte, der fortschrittlichen Stadtverwaltung Berlins, die dem gestrengen Machthaber schon immer zu trotzen gewagt hatte, eins auszuwischen. Daß sie bei Erhebung der städtischen Mietsteuer den Wert seiner Dienstwohnung, anstatt ihn auf seinen Einspruch hin herabzusetzen, noch um ein Beträchtliches erhöht hatte, war nicht gerade sehr liebenswürdig gewesen. Ein Nadelstich, der durch einen anderen Nadelstich vergolten werden mußte. Und eben dazu erschien das neue Gesetz, das die Dienstwohnungen der Reichsbeamten von den Schätzungen der städtischen Steuerkommission unabhängig zu machen bestimmt war.

Der Herr Reichskanzler, der die Geschicke der Welt in seinen zwei Händen zu wägen pflegte, bemühte sich höchstselbst, diesen Quark zu kneten. Und er tat dies in einer Weise, die nicht bloß die fortschrittlichen Väter der guten Stadt Berlin, sondern auch die hinter ihnen stehende gesamte Linke mit[369] ihren tückischen Machenschaften und ihrem niedrigen Parteigeist der Verachtung der Mit- und Nachwelt preisgab.

Es würde mir schwerfallen, die wahnwitzige Erregung zu schildern, die diese Standpauke auf der linken Seite des Hauses hervorrief.

Ich sah hinunter auf einen wirren Halbkranz heißer, verzerrter, augenaufreißender Gesichter, die aus einem schwarzen Knäuel dicht aneinandergedrückt nach oben starrten. Auch die Rechte hatte sich erhoben und freute sich schmunzelnd an dem mächtigen Helfershelfer, der wie ein Gott aus der Wolke für sie herniederstieg.

Die Entgegnungen verhallten ungehört; immer wieder erhob sich der Allmächtige, immer dichter hagelten die Giftpfeile seines Hohnes auf die Gezüchtigten nieder, die wutzitternd die Hände nach ihm spreizten.

Da plötzlich zischte mitten aus dem dumpfen Gebraus und Gebrodel hell wie ein Peitschenhieb der Ruf »Schamlos!« bis zu mir empor.

Stille entstand. Das war zu kühn gewesen.

In diesem Augenblick hättet ihr Bismarcken sehen sollen!

Der mächtige Körper wuchs noch höher empor. Die Glieder bäumten sich. Die Rechte griff zum Pallasch, und mit federnden, hüpfenden Schritten tanzte er – buchstäblich tanzte er, wie etwa Knaben über dem Steckenpferd tanzen – am Präsidentensitz, am Rednerpult vorbei nach der linken Seite der Estrade hinüber, dem Beleidiger entgegen, der unbekannt dort unten im Haufen sich barg, immerzu rufend: »Wer ist der Unverschämte? Wer hat das gesagt? Nur einer, der selber keine Scham kennt, kann so etwas sagen! Wer hat es gesagt?«

Das Schweigen dauerte an, und er stand da, die Hand am Säbelkorb, den Kopf hintenübergeworfen, bereit, jeden niederzuschlagen, der ihm etwa entgegentrat.

Da legte sich der Präsident ins Mittel. Er selber habe den Ausruf[370] nicht gehört, aber der Herr Reichstagsabgeordnete, der ihn getan habe, möge sich doch nennen – das verlange die Würde des Hauses.

Schweigen auch jetzt.

Da schob sich aus dem verdeckenden Haufen eine kleine, dickliche Gestalt, und eine sehr wehleidig gewordene Stimme sagte: »Ich bin es gewesen.«

Die Spannung löste sich. Dem Abgeordneten Struve wurde sein Ordnungsruf zuteil, und Bismarck schritt mit den Worten: »Bei Herrn Struve wundert mich das nicht!« beruhigt schnaufend auf seinen Platz zurück.

Da erhob sich noch einmal die Stimme des Missetäters und bat ums Wort.

»Das Wort hat der Herr Abgeordnete Struve.«

»Ich habe meinen Ordnungsruf erhalten, Herr Präsident, aber der Herr Reichskanzler hat mich einen Unverschämten genannt und gesagt, ich habe keine Scham. Was geschieht darauf?«

Das war eine sehr heikle Frage. Denn dem Präsidenten des Reichstags stand dem Reichskanzler gegenüber ein Recht der Rüge nicht zu. Und nie werde ich den hilflosen und hilfeflehenden Blick vergessen, den der höchste Vertreter des Volkes, der spätere Kultusminister v. Goßler war's, den Kopf zur Seite wendend, dem Allmächtigen zuwarf.

Der stand noch immer, um nach Erledigung des Zwischenfalles seine Rede fortzusetzen, und nahm das Wort:

»Der Herr Abgeordnete – hm, hm, hm – sagt – hm, hm, hm –, ich habe ihn einen Unverschämten genannt – hm, hm, hm –, das habe ich wohl auch getan – hm, hm, hm –, aber, da der Herr Abgeordnete endlich die Güte gehabt hat, sich zu melden – hm, hm, hm –, nehme ich keinen Anstand zu erklären: Ja, der Herr Abgeordnete kennt wohl Scham.«

Auch ohne den höhnisch abtuenden Klang der Stimme gehört zu haben, werden viele behaupten wollen, daß dies keine Genugtuung,[371] sondern eher eine neue Beleidigung gewesen sei. Aber Herr Struve und alle anderen gaben sich wohl oder übel zufrieden, und die Verhandlung nahm ihren Fortgang.

Was Bismarck noch weiter gesagt, was die da unten ihm erwidert haben, weiß ich nicht mehr. In mir brannte nur die eine Frage: »Wie wirst du diesen Vorfall wiedergeben?« Denn – schrecklich, es sich einzugestehen – nicht bloß wie gestern Baumbach und Lasker, auch Oberamtmann Struve, der Sohn des alten Achtundvierzigers, war Mitglied der Partei, in deren offiziellem Organ ich Bericht zu erstatten hatte.

Ich selbst war eine offizielle Persönlichkeit geworden, denn meine Darstellung mußte bindend werden für jeden – und auf jeden zurückwirken, der zur Partei gehörte.

Auf dem Wege zur Redaktion überlegte ich hin und her. Ich mochte die Szene darstellen, wie ich wollte, Lorbeern für meine Auftraggeber ließen sich nicht daraus ernten. Im Gegenteil, da war kein Zweifel, sie hatten kläglich abgeschnitten. »Ach was«, entschloß ich mich leichtsinnig. »Laß sie hernach auf dich schimpfen. Sag lieber gar nichts.«

Ich setzte mich also an meinen Tisch, schrieb einen braven Bericht, und statt den Zwischenfall zu schildern oder seiner auch nur Erwähnung zu tun, setzte ich ans Ende die dick unterstrichenen Worte: »Die Stimmung war eine fieberhafte.«

Kaum war das Blatt zum Austragen fortgeschickt worden, da stürzte Rickert aufgeregt und mit ängstlich suchenden Augen zur Tür herein.

»Ist die Nummer schon weg?«

»Jawohl, die Nummer ist weg«, antwortete Bartsch.

Entmutigt sank er in einen Stuhl, und einen hoffnungslosen Blick zu mir emporsendend rief er: »Unglücksmensch, was haben Sie geschrieben?«

»Ich?« fragte ich unschuldig zurück. »Ich habe geschrieben: ›Die Stimmung war eine fieberhafte.‹«[372]

»Aber nu weiter – weiter.«

»Weiter nichts«, entgegnete ich. »I wo werd ich denn.«

Da sprang er auf, kriegte mich zu packen, und mich umarmend rief er: »Sie sind mein Mann! Sie sind mein Mann! Kommen Sie morgen vormittag zu mir. Dann werd ich Ihnen sagen, was ich mit Ihnen vorhab.«

Und als ich am nächsten Tage, wie befohlen, bei ihm erschien, eröffnete er mir folgendes: »Sie haben gestern so viel Umsicht und Zurückhaltung entwickelt, mein Lieber, daß ich glaube, wir werden es mit Ihnen wagen dürfen. Ich suche nämlich seit langem eine schriftstellerische Kraft, mit der wir ein Volkswochenblatt gründen können, um die Ansichten der Partei auf dem platten Lande zu verbreiten. Es müßte etwa im Kalenderstil gehalten sein und außer der Politik, die wir ja selber besorgen würden, einen populärwissenschaftlichen Aufsatz mit dazugehörigen Bildern, eine Erzählung, wenn möglich abgeschlossen, ein Gedicht, Rätsel und dergleichen enthalten. Das Batt soll pro Quartal nicht mehr als fünfzig Pfennige kosten und außerdem in Mengen gratis verbreitet werden. Rudolf Mosse wird es drucken und für die Hälfte der Unkosten einstehen. Würden Sie bereit sein, die Stelle des Redakteurs zu übernehmen?«

»Des leitenden Redakteurs?« fragte ich ganz benommen.

»Wenn Sie es so nennen wollen, auch das«, erwiderte er lächelnd.

»Denn mehr als einen würde das Unternehmen gar nicht tragen. Aber Mitarbeiter müßten Sie sich natürlich schaffen. Besonders die Erzählung macht mir Sorgen, denn die Fähigkeit, wahrhaft volkstümlich zu schreiben, findet sich unter unseren Literaten fast gar nicht.«

»Ich bin ja eigentlich ein Dichter«, erwiderte ich, »und wenn Sie das Schreiben dieser Erzählung mir überlassen wollten, so würde das die Mitgift sein, die ich in das Unternehmen hineinbrächte.«[373]

»Verstehen Sie sich denn auf den volkstümlichen Stil?« fragte er zweifelnd.

»Ich habe es noch nicht probiert«, erwiderte ich. »Aber ich denke mir: Einer wie ich muß lernen, sich auf alles verstehen, sonst kann er gehen Filzschuhe wichsen.«

Herr Rickert, der als Altpreuße die Redensart kannte, lächelte nachsichtig dazu, und nachdem ich die Anweisung erhalten hatte, mich demnächst den führenden Männern der Partei, den Herren Lasker, Bamberger, Kapp, von Bunsen, und vor allem dem künftigen Herausgeber, Herrn Mosse, in meiner neuen Würde vorzustellen, war ich entlassen.

Vorher aber öffnete er noch die Tür zu einem Nebenzimmer, nahm mich beim Arm und führte mich zu einer matronenhaften Dame, die verschrumpft und vermickert, mit einer kränklich roten Nasenspitze und ausgeblaßten Augen hinter einem Buche am Nähtisch saß.

Das war seine Frau, die kluge, gütige Frau, die fast zwei Jahre lang mit sanftem Zuspruch und regelnder Mahnung mein wirres Leben begleitet hat, die mir an Stelle Mathildens, die bald wieder fortging, eine Freundin war, ohne daß ich es ahnte, und die mir ab und zu auch den Segen gönnte, meine zappelnden Beine unter einem weißdamastenen, silberbelichteten Tischtuch zur Ruhe kommen zu sehen.


Ich ging dahin wie im Traume. Vor vier Wochen am Rande des Abgrunds – stellungslos – hoffnungslos, ein Gescheiterter in der Wissenschaft wie im Leben, und heute Herr eines eigenen Blattes, das wohl noch im Schoße der Zukunft schlief, das ich selbst aber aus dem Nichts heraus zu formen hatte, um es vollgegossen mit eigenen Ideen gleich einer überlaufenden Schale dem bildungsdurstigen Volke zum Trunke zu reichen.

Freilich, auch der Bedenken gab es genug. Die Partei, für die ich fortan zu arbeiten, der ich als ehrlicher Mann mich angehörig[374] zu fühlen hatte, war nicht die meine. Die meine, die, nach der ich in Sehnsucht schielte, war ihr benachbart und hatte das meiste mit ihr gemein – sie hat sich auch später mit ihr verschmolzen – aber sie lag weiter links. Und nach links – zur Demokratie, zum Republikanertum hin – drängte mein ganzes Wesen.

Heute ist es kein Kunststück, Republikaner zu sein. Es ist so trivial, daß man sogar aus Snobismus, aus Ästhetik, und um stolz und unzufrieden auszusehen, lieber zur Monarchie zurückkehren möchte – die Gemüts- und Zweckmonarchisten lasse ich unangetastet; damals aber war innerhalb der Bourgeoisie dieser Gedanke ein Wahnsinn, dem selbst die Überbleibsel des Achtundvierzigertums mit einem Achselzucken gegenüberstanden ... Dem Sozialismus hatte ich mich wieder entfremdet, und die Fortschrittspartei gab vor, so königstreu zu sein wie alle die anderen. Auch den Namen »Demokrat« verschmähte sie. Er erschien halb komisch, halb anrüchig, mochten ihre Angehörigen auch noch vor kurzem darauf geschworen haben. Aber unter der Decke des Monarchismus schwelte drüben, das fühlte man, beides immer noch weiter, während meine Leute sich im Haß gegen Bismarck und in der Liebe zum Freihandel aufrichtigen Herzens genugtaten.

Unterschiede waren immerhin da, aber mir blieb keine Wahl. Wollte ich nicht zugrunde gehen, so mußte ich das Rettungsseil ergreifen, das sich mir darbot. Und war ich erst am Werke, konnte ich Gutes tun auch da, wo ich stand.

Mein erster Gang war zu Herrn Mosse.

Mit scheuer Verzagtheit war ich in der Jerusalemer Straße alltäglich an seinem Königreich vorbeigeschritten, denn wenig Hoffnung gab es, daß ich dort jemals Fuß fassen könnte. Und nun schritt ich dreist und frohgemut die stolze Treppe hinan, um mich schlichtweg bei dem Allgewaltigen melden zu lassen.[375]

Er wußte schon von mir und empfing mich mit ermunterndem Händedruck – durchaus nicht wie ein gebietender Chef. Er war's ja auch nicht – das zu betonen schien mir Pflicht, diesmal und jedesmal, wenn ich mit einem Anliegen oder einer Beschwerde mich in die Höhle des Löwen begab. Ich konnte mir auch manches erlauben, was das sonstige Federvieh nicht gewagt hätte. Denn für hundertzwanzig Mark monatlich und zwei nasse Hinterzimmer als Wohnung schrieb ich alsbald das ganze Blatt selber von vorne bis hinten, vom Leitartikel bis zu den Rätseln, die ich, wenn alles fertig war, mitsamt dem Gedicht noch rasch in den Setzerkasten diktierte. Ich durfte mich also mit einigem Recht als unersetzlich betrachten.

Bei Lasker und bei Bamberger war ich auch – zwei spezifisch jüdische Köpfe von höchstem Rang, jener ein heißer Patriot voll weher Erlöserstimmung, dieser weltbürgerlich kühl und eine sanftkitzelnde Lauge. Bunsen, ein Grandseigneur von halbenglischem Gepräge, hielt mich für einen besseren Botenjungen, ließ sich aber gern eines anderen belehren, und Kapp, ein Riese mit graublondem, aufrechtstehendem Stirnbusch, tat mich gar in der Flurtür ab.

Als ich ein Menschenalter später das Pamphlet seines Sohnes gegen Bethmann-Hollweg las, worin von dem »Sumpf der Demokratie« geredet wurde, mußte ich unwillkürlich des Sumpfes gedenken, dem er selber entstiegen war, denn sein Vater hatte einst als verfolgter Demokrat in Amerika eine Zuflucht gefunden. Was er dann später noch tat, steht in Deutschlands Leidensgeschichte verzeichnet.


Während die Vorarbeiten für das zu gründende Volksblatt ihren Anfang nahmen – den Gesetzen der Mimicry entsprechend sollte es »Das Deutsche Reichsblatt« heißen und den amtlichen Reichsadler kühn an der Stirne tragen –, während ich geschäftig von einer Werkstatt zur anderen, von einem[376] Politiker zum anderen lief, blieb ich auch für die Parteikorrespondenz unentwegt tätig, und solange die Parlamente tagten, war mein Schreibeifer gar nicht zu bändigen.

Die Partei trug sich damals mit weitausschauenden Plänen. Nicht zufrieden mit der großen Tageszeitung, die sie in Berlin geschaffen hatte – sie hieß »Die Tribüne« und war aus einem aufgekauften Käseblatt zu einem wichtigen politischen Organ geworden –, wollte sie in einer Reihe deutscher Mittelstädte täglich erscheinende Blätter gründen, die den schon bestehenden konservativen oder fortschrittlichen Zeitungen Konkurrenz zu machen hatten.

So auch in Landsberg a.W.

Ein jedes Redaktionsbüro ist von einem Stabe gelegentlicher Mitarbeiter bevölkert, die auch, wenn sie nicht gerade beschäftigt sind, dort herumsitzen, um nach Aufträgen auszuschauen oder doch mindestens die Zeit totzuschlagen.

Darum ging es auch in den Zimmern der »Liberalen Korrespondenz« her wie in einem Taubenschlag.

Unter den dortigen Stammgästen hatte ich einen Herrn Pederzani-Weber kennengelernt. Ein schöner Mann, den ich schon darum mit besonderer Anteilnahme betrachtete. Dann aber auch, weil er als Mönch aus einem österreichischen Kloster entflohen war. Ihn hatten die Gewaltigen der Partei ausersehen, die »Neue Landsberger Zeitung« – ich glaube, so hieß sie – zu gestalten und siegreich weiterzuführen.

Bevor er nach seinem neuen Wirkungskreise abreiste, nahm er mich eines Tages beiseite und fragte mich, ob ich mir einen Nebenverdienst verschaffen wolle, indem ich seine Zeitung mit telegraphischen Nachrichten versorgte. Außer den zurückerstatteten Spesen sicherte er mir für jede Depesche nicht weniger als eine Mark fünfzig.

Freudig sagte ich zu, denn für eine Mark fünfzig erhielt man damals ein Mittagsmahl von fünf Gängen.

Besonders komme es ihm, so fuhr er fort, auf die Probenummer[377] an, die am nächsten Montag morgen, zu einem Zeitpunkt also, an dem die anderen Blätter nicht erschienen, in die Welt gesetzt werden solle. Damit von vornherein die Konkurrenz über den Haufen geworfen würde, müsse diese Nummer eine höchst wichtige, wenn möglich sensationelle Nachricht enthalten, und hierin baue er auf mich. Denn ich bliebe ja im Zentrum jedes Geschehens.

Ich beteuerte ihm, daß ich alles Denkbare daransetzen wolle, ihm zu Diensten zu sein, und beruhigt reiste er ab. Aber von nun an erhielt ich die ganze Woche hindurch täglich einen Brief mit dem Poststempel Landsberg a.W., worin Herr Pederzani-Weber mich beschwor, die sensationelle Nachricht, die für das Gedeihen seines Blattes unumgänglich notwendig sei, um Gottes willen nicht zu versäumen.

So kam der Märzensonntag heran, an dem ich der übernommenen Pflicht Genüge tun sollte.

Nach Tisch holte ich meinen Freund Otto Neumann ab, um mit ihm einen Lindenbummel zu machen; denn dort, wo das Herz der kaiserlichen Residenz am lautesten schlug, konnte man den geheimen Gang der Weltgeschichte am ehesten belauschen.

Es war ein Vorfrühlingstag von Gottes Gnaden. Ein holdes, von Sonnenahnung durchtränktes Grau lag über der Welt. Die Spatzen an den Droschkenständen schrien vor Wonne, und wenn die lustwandelnden Menschenkinder auch nicht taten wie sie, so stand doch Wonne hellgolden geschrieben auf jedem Menschengesicht.

Alles war gut und schön, aber von der großen, weltbewegenden Nachricht, die man in Landsberg a.W. dringend erwartete, zeigte sich nicht die mindeste Spur.

Wir gingen ins Café Bauer und sahen bei einer Schale Schwarz die Pariser und die Londoner Zeitungen durch. Denn es war ja immerhin möglich, daß die Berliner Redakteure irgend etwas übersehen hatten, was in Landsberg a.W. von Wichtigkeit[378] schien. Aber auf weiter Flur war alles abgegrast. Selbst die Sportnachrichten hatten bereits Verwendung gefunden.

Mutlos gingen wir auf die Straße zurück, wo die Spaziergänger jetzt in dicken Knäulen einander auf die Hacken traten. Keinem der hübschen Mädchen sahen wir unter den Hut, um so heftiger aber faßten wir die ernsten Männer ins Auge, besonders die, die es eilig hatten, denn wenn jemand Träger einer wichtigen Nachricht sein konnte, dann waren nur sie es.

Aber nichts ereignete sich. Selbst der Auflauf, der sich vor der russischen Botschaft gebildet hatte, während Schutzleute den Weg für ein- und ausfahrende Equipagen freihielten, konnte nichts weiter zu bedeuten haben, als daß daselbst ein Empfang stattfand oder ein Fest gefeiert wurde.

Es war eben ein Märzensonntag wie jeder andere, und in seiner Gewöhnlichkeit ertrank auch die letzte Hoffnung.

Doch als wir vom Brandenburger Tor zurückkehrten, hatte der Menschenhaufe rechts und links von der Durchfahrt des russischen Botschaftsgebäudes sich um ein Erhebliches vergrößert.

Ein reitender Schutzmann hatte vor ihr Posto gefaßt, und wo der sich sehen ließ, war immer was los.

Wir fragten unsere Vordermänner, aber die wußten auch nichts. Nur, daß die einfahrenden Gäste sehr aufgeregt ausgesehen hätten, war ihnen aufgefallen.

Da, wie wir noch lauernd herumstanden, hallte von weit her, von ganz weit her ein Ruf an unser Ohr, der uns hoch auffahren ließ, ein Ruf, der uns Nachkriegsleuten nur allzu bekannt ist, denn durch ihn sind vier Jahre lang unsere Wahngebilde am Leben geblieben, der Ruf: »Extrablatt! Extrablatt!«

Und zu gleicher Zeit brachen die Schutzleute vor uns ihr amtliches Schweigen und graunzten den Nächststehenden etwas von »Zar« und »Ermordung« entgegen.[379]

Wir sahen uns an. Wir kniffen uns in die Ellenbogen. Sollte es möglich sein? Nicht zu fassen war es.

Derweilen schwoll der Ruf immer stärker. Wie ein Vollorchester warf er seine Wellen über uns.

Zettel leuchteten gleich weißen Bannern über der jenseitigen Menge, und endlich – endlich hatten sie die Schutzmannskette überflogen und waren bei uns.

»Kaiser Alexander II. von Rußland einem fluchwürdigen Attentate zum Opfer gefallen. Eine Bombe, die ...« und so weiter.

Da stand's. Von keinem Ungläubigen mehr zu bezweifeln.

Fast wären wir uns in die Arme gefallen. Gut, daß wir an uns hielten. Man hätte uns sonst, als mit den Verschwörern im Bunde, ins Kittchen geschleppt.

Und während wir mit dem noch feuchten Blatt zum nächsten Telegraphenamt eilten, wurde ich das dumpfe Gefühl nicht los, als ob eine höhere Macht, nur um mir gefällig zu sein, so Schreckliches habe geschehen lassen.

Auf dem Amte besahen wir uns unsere Barschaften und fanden, daß ich mich kurz fassen müsse, wollten wir nicht hungrig zu Bette gehen.

Ein Streit erhob sich um das Wort »fluchwürdig« und einige andere von ähnlichem Gefühlsinhalt. Neumann hielt es für gemütsroh, sie zu unterdrücken, während ich der Ansicht war, Gefühl könne ja auf der Redaktion nach Belieben entwickelt werden, besonders da es von mir mit fünf Pfennigen pro Wort zu bezahlen sei.

So entmenscht hatte die Publizistik mich schon! –

Als ich am nächsten Tage das Büro der »Liberalen Korrespondenz« betrat, kam mein Freund und Gönner Herr Bartsch mir mit den mißmutigen Worten entgegen: »Wissen Sie auch, daß Sie mich um meine ganze Nachtruh gebracht haben?«

»Wieso denn?«[380]

»Um drei Uhr früh poltert mich der Telegraphenbote aus dem Bett, weil Pederzani bei mir anfragt, ob es wirklich wahr sei, daß der Zar ermordet ist, oder ob Sie das bloß geschwindelt hätten. Ohne meine Bestätigung getraue er sich nicht, die Nachricht zu bringen.«

Also, was soll ich noch sagen? Die Vorsehung hatte sich umsonst bemüht: die Probenummer der »Neuen Landsberger Zeitung« war erschienen, ohne meiner Depesche Erwähnung zu tun.

Mit diesem Erlebnis begann und schloß meine Tätigkeit im journalistischen Nachrichtendienst. –

Inzwischen nahmen die Vorbereitungen für meine eigene Probenummer ihren Fortgang.

In jeder größeren Zeitungsdruckerei gibt es einen Raum, »Akzidenzsaal« genannt, in dem die gelegentlichen und zufälligen Arbeiten gesetzt und für die Presse fertig gemacht werden. So auch im Hause Mosse.

Während ich die einen Stock tiefer gelegene Setzerei des »Berliner Tageblatts« niemals betrat, herrschte ich dort oben als Gebieter und Günstling zugleich. Bald kannte ich jeden Setzer beim Namen und war mit jedem gut Freund. Keine Überstunde fiel ihnen zu schwer, und wenn es drei und wenn es vier Uhr morgens wurde, zum Abschied bekam ich noch immer einen freundlichen Gruß.

Von der Wichtigkeit, mit der ich dort oben schaltete, wird man sich kaum eine Vorstellung machen, auch wenn ich schildere, wie zärtlich ich um die Gesundheit der Männer besorgt war, die zwischen heizenden Glasflammen wie in einem römischen Bade stehend arbeiteten, während von den geöffneten Fenstern her ein eisiger Zug über sie herstrich – wenn ich bekenne, daß ich auch das Geringfügigste selber tat, daß ich beim »Umbrechen« den Winkelhaken gewaltsam an mich riß und nicht wiederhergeben wollte und daß ich dem Korrektor um jedes stehengebliebenen Fehlers willen zornig zu Dache[381] stieg. Am liebsten hätte ich das ganze Blatt selber gemacht, nur um keine fremde Hand daran rühren zu lassen.

Wegen des politischen Teils mußte ich fürs erste mit meinem Auftraggeber in engster Fühlung bleiben. Die Leitartikel lieferte er selber, und die politische Wochenschau, die ich probeweise hatte verfassen dürfen, erfuhr durch ihn nach der königstreuen Seite hin eine kräftige Umgestaltung.

Der unpolitische Teil aber gehörte vom ersten Augenblicke an mir. In ihm durfte ich mich austoben, soviel mein Herz nur begehrte. Und dies tat ich so gründlich, daß, als die Spalten ausgemessen wurden, das Dreifache des zur Verfügung stehenden Raumes von mir belegt und beschrieben war. –

Selbst eine Probenummer kommt zu ihrem Ende.

Und eines Vormittags hielt ich den ersten aus der Presse quellenden Bogen, der wie alles Neugeborene patschnaß war, gleich einer Siegesfahne in zitternden Händen. Mein Blick eilte gierig zur letzten Zeile. Da stand – wahrhaftig, da stand: Verantwortlicher Redakteur: Hermann Sudermann.

Zum erstenmal in meinem Leben las ich diesen Namen gedruckt. Gedruckt, wie man Friedrich von Schiller und Friedrich Spielhagen liest, ganz schlicht, ganz selbstverständlich, und doch – wie aufregend, wie schicksalhaft!

Das erste Exemplar trug ich zu meiner Freundin Mathilde, das zweite legte ich vor Frau Rickert nieder, und beide Frauen waren zufrieden.

Und als ich das dritte, das für die Eltern bestimmt war, zum Postamt getragen hatte, rannte ich im Tiergarten umher wie ein Wilder und wiederholte mir immer aufs neue: »Du bist nicht vor die Hunde gegangen, du brauchst nicht zu hauslehrern. Du kommst in die Höhe. Du fährst in die Wolken. Nun gibt's kein Zurück mehr, sondern bloß noch ein Vorwärts und ein Empor!« Klar vorgezeichnet lag mein Weg:

Politiker und Journalist würde ich sein, so lange, bis ich das Schreiben aus dem ff gelernt hatte. Dann aber zurück zur[382] Dichtung, zum Roman oder zum Drama gar! Nicht mehr als Außenseiter, als Stümper, als einer, vor dem man die Türen verschließt und dessen Geschreibsel man achselzuckend zurückschickt, sondern als einer, der schon etwas gilt und dem man als Kampfgefährten begegnet.

Von Zeit zu Zeit setzte ich mich auf eine Bank und zog die Probenummer aus der Tasche, um mich von neuem drin zu vertiefen. Und immer wieder blieb mein Auge an dem Namen hängen, der, losgelöst von mir, ein geheimnisvolles Sonderdasein führte, dem Namen, der für das alles verantwortlich war.

Verantwortlich wie ich für mein kommendes Leben.[383]

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 357-384.
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