Sechstes Kapitel

Ein stiller Wahnsinn

[86] Welcher Art er diesmal war, das sage ich erst später. Fürs erste kam ich rundgenudelt und höchst vernünftig von der Fettweide zur guten Tante zurück.

Das Wintersemester begann, denn die Michaelisferien waren mit den großen in eins gezogen worden, und ob auch der Name inmitten dunstiger Septembergluten fast wie ein Hohn klang, der Herbst ließ nicht lange mehr auf sich warten.

Schluchten und Höhen färbten sich rot, und wenn wir gerade erst angefangen hatten, die Wälder zu durchstreifen, saß uns der Abend im Nacken. Auch kühl wurde es, und ein Lagerfeuer schien dringend vonnöten.

In der Dämmerung kauerten wir dann rings um das prasselnde Reisig und rösteten gestohlene Kartoffeln.

Je tiefer die Dunkelheit niedersank, desto betörender loderte die grellgelbe Flamme. Lederstrumpfgedanken wurden wach, Unkas und Chingagook schienen kein leerer Wahn mehr.

Wachen wurden gestellt, damit die böswilligen Bleichgesichter unsere Freuden nicht störten, die Friedenspfeife, mit Bindfaden und welken Kastanienblättern wacker gestopft, ging im Kreise herum, und selbst das Feuerwasser war manchmal zur Hand.

Nur ein gediegener Präriebrand fehlte noch immer. Woher aber ihn nehmen, da Flur und Wiese saftig grünten und selbst das Kartoffelkraut noch wenig dürr im Boden stak?

Aber auch ein brennender Wald war nicht zu verachten. Man hatte nur nötig, die Reisigbündel ein wenig zu verstreuen und das übrige dem lieben Herrgott anzuvertrauen.[87]

Zwei oder drei von uns benahmen sich zaghaft – darunter natürlich ich, dessen Schwachseligkeit berühmt war – schließlich aber wurden auch wir von dem hochgemuten Plane mitgerissen.

Schwierigkeiten zeigten sich nirgends. Wo immer ein kohlender Stecken hingeworfen wurde, da flackerte es lichterloh, und bald umgab uns das vorschriftsmäßige Flammenmeer.

Wer von uns es zuerst mit der Angst bekam, weiß ich nicht mehr – mich hatte sie nie ganz verlassen – vielleicht war es Blechschmidt, der Anführer selber, denn seine Vertrautheit mit der Natur konnte das Unheil am ehesten bemessen, kurz, in einem bestimmten Augenblicke stürzten wir alle, von der gleichen Panik ergriffen, zum Bache hinunter, der im Grunde der Schlucht friedlich dahinlief, und schöpften die Botanisiertrommeln voll, deren Lötung freilich für Feuerwehrzwecke nicht vorgesehen war und die darum leer oben ankamen, nachdem sie uns Jacken und Hosen patschnaß gemacht hatten.

So standen wir ratlos dem drohenden Verderben gegenüber, das unter Umständen tragische Maße angenommen hätte, denn auch die unteren Buchenzweige flammten bereits, wenn nicht die gefürchteten Bleichgesichter – in Gestalt von fünf oder sechs stämmigen Holzknechten – als Retter auf dem Plane erschienen wären.

Vom Wasserschöpfen hielten sie nichts. Sie schnitten sich rasch mannslange Äste von den Bäumen und schlugen mit solcher Gewalt auf die brennende Fläche ein, daß jede Flamme sich duckte und im Nu zu rauchender Kohle erstorben war.

Noch hatte keiner von uns in seinem Schrecken an das zunächst Gebotene, die schleunige Flucht, gedacht. Da hielt einer der Männer zwei von den Unsern, darunter auch Blechschmidt, bereits am Schlafittchen.

Nun war es mit dem Fliehen für uns andere vorbei, denn im[88] Stiche konnten wir die ergriffenen Gefährten natürlich nicht lassen. Die schrecklichen Männer drohten mit Prügeln und Polizei, und wir standen ringsum und weinten und flehten. Doch sie blieben unerbittliche Rächer, bis einer von uns, der sein Oktobertaschengeld noch nicht angegriffen hatte, auf den Gedanken kam, ihnen ein Lösegeld anzubieten. Da wurden sie weich. Jeder von uns suchte seine paar Pfennige hervor, doch es war ihnen noch immer zu wenig. Erst als ich das einzige, was ich besaß, meine silberne Uhr, hinzulegen wollte, da fingen sie an zu lachen und sagten: »Pascholl.«

Wie rasch wir uns dünne machten, wird jeder sich ausmalen können, dem je das Notizbuch eines Schutzmannes bedrohlich vor den Augen tanzte.

Unser Heimweg war schweigsam, und des herbstlichen Waldbrandes wurde nie mehr gedacht.


Der Herbst schritt voran, und die deutschen Siege mehrten sich. Der Kapitulation von Metz folgte die Schlacht von Orleans, und der Ring um Paris schloß sich enger. Ab und zu wogten die Fahnen rings um die Giebel der alten Hansehäuser, und abends flammten die Lichterreihen.

Und dann kam der Winterfrost – jener unbarmherzige Frost, dessen Gedenken die Kriegsgeschichte späten Geschlechtern aufbewahrt.

Freilich, wir haben von dem allen jetzt Schlimmeres erlebt; wir haben vier Winter lang zum Monde emporgestarrt und haben gedacht: »Jetzt liegen sie unbehaust im schneeigen Felsengewirr der Karpaten, auf den vereisten Mooren des Pripjet, und keiner erlöst sie.«

Und keiner erlöst uns von dem Jammer, den ihre Siege uns schufen!

Damals hing steter Glockenklang in der Luft, und ein Brausen war in den Seelen von unerverwelklichem Ruhm und für die Ewigkeit errichteter Größe. Das Wort »Preußen« verschwand[89] aus Rede und Schrift, und ein anderes stieg, schüchtern erst und mit dem Zagen des allzu Kühnen behaftet, dann ernsthaft, herrscherhaft, jedes Lächeln besiegend, an seine Stelle.

»Deutschland« hieß das Wort. Mahnung, Forderung, ungestümer Wille lag darin. Wer es aussprach, dessen Auge leuchtete, dessen Herz wurde weit, dessen Phantasie jagte sich mit den Raben des Kyffhäuserbergs.

So kam der achtzehnte Januar heran, und was im Spiegelsaale zu Versailles geschah, war nur das Selbstverständliche, das kommen mußte, war die Einlösung der Schuld, die wir vom Weltenschicksal zu fordern hatten.

Als ich abends durch die finstere Speicherinsel zur Stadt ging, um die Festbeleuchtung zu beschauen, da hatte selbst der Himmel illuminiert. In violetten Bogen, mit rosigen Stalaktiten behängt, von blutroten Pfeilerreihen getragen, stand ein Nordlicht hoch über der irdischen Welt, in Flammendunst verfließend und aus Flammendunst wieder geboren.

Nun – und –? Nutzanwendung?

Für heute gibt es keine, noch gibt es keine.

Damals freilich war es leicht, sich ein Symbol daraus zu bauen. Gott selbst hatte gesprochen. Jetzt haben wir ihn zum Schweigen verdammt, und so lange wird er kein Zeichen geben, als bis der Gott in uns ihn dazu zwingt.

Es ist ein großes Glück für mich, daß ich jene Tage schon mit Bewußtsein habe durchleben dürfen, denn an ihnen besitze ich einen Maßstab für das Ungeheure, das in Tun und Leiden uns jüngstens auferlegt war. Mit ihm verglichen erscheint alles damals als Kinderspiel. Das bürgerliche Leben blieb im gewohnten Gleise, nirgends fehlte es an Menschenkraft, nirgends war ein Nahrungsmangel bemerkbar, und kaum hatte der Tanz begonnen, da war er auch schon zu Ende.

Zwischen der Feier von Versailles und dem Abschluß des Waffenstillstands lagen nur zehn Tage, und kaum einen Monat[90] später waren die Friedensbedingungen festgelegt. Wir brauchten ja auch nicht soviel Zeit wie diesmal die Alliierten, denn wir hatten es nicht im Sinne, durch ungezählte Rutenstreiche das von uns besiegte Volk dem Verderben entgegenzupeitschen.

Und ich möchte wetten – ich weiß nur leider nicht mit wem –, wenn nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, gleichviel, Frankreich wieder einmal vor uns auf dem Rücken liegen wird, dann werden wir nicht weniger gutmütig sein, als jene Festzeit von uns verlangte.


Festzeit. Jawohl. Das war sie. Doch ob auch die Dankchoräle und die feierlichen Ansprachen in engen Zwischenräumen einander folgten, unsere Arbeit erlitt keinen Abbruch. Im Gegenteil. Wir waren so dringlich am Werke, als hätte die Tertia B ein gutes Stück des neuen Reiches aufzubauen.

Wir wußten wohl: Die Welt sah auf uns. Die Tertia B war nicht etwa eine Untertertia, die zu der Tertia A als einer Oberstufe sehnend emporblickte, beide standen als gleichberechtigte Coeten wetteifernd nebeneinander da, von beiden konnte man auf direktem Wege zu der hohen Würde eines Untersekundaners gelangen; aber in beiden galt ein zweijähriger Kursus, der nur ausnahmsweise und in ganz seltenen Fällen zu einem Jahre verkürzt werden konnte.

Daß ich, der ich als der Schlechteste begonnen hatte, ich, der ich nur aus Gnade und Barmherzigkeit in der Klasse hatte bleiben dürfen, eines so ungeheuren Vorzugs nie teilhaftig werden konnte, verstand sich von selbst. Ich hätte auch nie darauf zu hoffen gewagt, und wenn ich jetzt erzählte, ich sei von dem wilden Ehrgeiz gepackt worden, durch fleißiges Streben das zweite der vorgeschriebenen Jahre kühn zu überspringen, so würde ich schwindeln, und dann wäre der Gedanke, derartiges könne sich vielleicht ereignen, auch kein Wahnsinn gewesen.[91]

Wann und wie er mir nahegebracht wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls in mir selber war er nicht entstanden. Das hätte das Bewußtsein meines Unwertes, das tief in mir festsaß, nie erlaubt. Wahrscheinlich hat mein Freund Blechschmidt, der nun das zweite Jahr bald hinter sich hatte, in einer Stunde faulenzenden Schwelgens den Wunsch geäußert, mit mir auch später zusammen zu bleiben, und weil der Mensch was zum Träumen haben muß, so hatte meine Phantasie sich dieses Gedankens bemächtigt, der sie fortan nicht mehr verließ. Wenn ich im Bette die Augen schloß, wenn der Mond mich nicht schlafen ließ, wenn die Frühmorgenhelle mich aus den Posen jagte, dann war er da. Doch er verschwand sofort, wenn die Möglichkeit des Geschehens sich ausweisen sollte. Ich brauchte ja nur meine Schulhefte durchzusehen, in denen das Prädikat »Ungenügend« noch immer eine Rolle spielte, um zu wissen, daß er nichts weiter als eben ein Wahnsinn war.

Und weil er es war, mußte er mit Gewalt erstickt werden. Der Mittel gab es manche: Romanlesen, Herbariumkleben, Schachspielen und vor allem die Schlittschuhbahn. Nicht etwa die große, die vornehme, die »Entree« kostete und auf der die Jeunesse dorée der Stadt in wonnigen Künsten sich wiegte. Das Entree hätte ich mir allenfalls vom Frühstücksbrote absparen können – nein, daran lag es nicht, aber dort lief Klara Hornig, dort lief sie allnachmittäglich, und ihr unter die Augen zu treten, ehe man es den Matadoren gleichtun konnte, wäre eine nie zu verschmerzende Schande gewesen. Aber es gab Winkelbahnen, wo man trainieren konnte, den Bogen vorwärts, den Bogen rückwärts, den Dreier, die Schleife, und was weiß ich. Stundenlang, ganze Abende lang, bis Himmel und Erde zu feurigem Reigen ineinanderflossen, bis vor Hunger die Beine schlotterten und der Heimweg kaum noch zu bewältigen war.

Und manchmal nach Tauwetter wurde die Welt eine einzige[92] Schlittschuhbahn. Dann trat Freund Blechschmidt als Führer in seine Rechte, und dann zogen wir rudelweise hinaus, stromabwärts bis auf das Haff, stromaufwärts bis zum Drausensee, von dem der Elbingfluß herkommt. Meilen und Meilen flogen dahin, und wer Müdigkeit zeigte, der war ein Hundsfott.

Eines Sonntagvormittags, erinnere ich mich, gegen den Frühling hin, graudunstig, bei dürftigem Nachtfrost – da liefen wir beide, Blechschmidt und ich, auf unsicherem Eise zum Drausensee hin. Solange wir den Fluß unter uns hatten, ging alles vorzüglich, das Neueis lag glatt auf dem alten, Risse und Blänken wurden wohlweislich vermieden, und brach man ein, so schlüpfte man wieder hinaus.

Als aber das Röhricht des Sees rings um uns aufstieg, da wurde die Sache verdächtig. Zwischen den Halmen quoll das Wasser in kleinen Springbrunnen hoch, und was als Blankeis sich vor uns erstreckte, war, genauer besehen, nur unter dünner Glashaut schillerndes Wasser. Nichts hielt hier fest als die Schlittenbahn, die wie ein weißes Band quer über den See lief und deren Masse durch monatelanges Befahren zäh und beständig geworden war. – Sie wogte längsweg unter unseren vorgebeugten Leibern, und wenn die Spitze unseres Schlittschuhs rechts oder links um eines Zolles Breite über den Rand hinausgriff, dann hakte sie unter das Eis.

Das Herz hatte mir schon lange gezittert, und plötzlich wurde mir klar, daß der Tod als dritter neben uns fuhr.

»Kehr um«, bat ich Blechschmidt, der schweigend vor mir dahinlief.

»Geht nicht!« rief er zurück. »Wenn wir stehen bleiben, liegen wir drin.«

Und als ich nochmals bat, schrie er ganz heiser: »Im Takt bleiben – sonst bricht es!«

Und so liefen wir weiter auf einer Schaukelbahn von Tisches Breite, während rechts und links bis in unabsehbare Ferne[93] Wasser und Eis in knisterndem, gurgelndem Spiele sich miteinander vergnügten.

Ich dachte an Mutter, ich dachte an Vater, und was die gute Tante wohl sagen würde, wenn ich nie mehr nach Hause käme, und an Klara Hornig dachte ich auch.

»Stopp«, sagte Blechschmidt plötzlich, »wir sind drüben.«

Das Röhricht des jenseitigen Ufers lag hinter uns – ich hatte es gar nicht bemerkt – und vor uns weißfleckiger Sturzacker, zu dem der Weg in schwarzen Schollen hinanstieg.

Nirgends ein Dorf – nur einzelne Höfe in nebliger Ferne.

»Also zurück«, sagte Blechschmidt zwischen zusammengebissenen Zähnen, und seine Augen brannten in den Sonnennebel hinein, der die trügerische Fläche gnädig verhüllte.

Der Mann, der über den Bodensee ritt, hat es besser gehabt. Er konnte sich des überstandenen Wagnisses in Ruhe erfreuen, wir aber mußten ihm noch einmal die Stirne bieten, denn uns in unbekannter Gegend zu verlieren, fremde Leute um Obdach und Essen anzugehen und schließlich auch noch das Bahngeld zur Rückfahrt zu erbetteln – der Gedanke war abgetan, ehe wir ihn dachten.

In ahnlungslosem Leichtsinn waren wir auf die schmale Bahn hinausgeglitten, im vollen Bewußtsein der Todesgefahr kehrten wir wieder zurück. Eine halbe Stunde – dreiviertel Stunden – ich weiß nicht, wie lange sie währte. Wir sind ihr ja fraglos entronnen, aber wenn ich heute an jenem See vorüberfahre, durchschauert es mich noch immer.


Und der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn ich eines anderen Begebnisses gedenke, das in derselben Zeit sich abgespielt hat.

Mit Onkel Heinrich ging es nun wirklich nicht länger mehr. Und hätte ich es nicht selber gewußt, so erfuhr ich es von der guten Tante täglich aufs neue. Darum hatten die Elbinger Verwandten sich zusammengetan und ein Zwischendeckbillett[94] für ihn erworben, das die Aufgabe hatte, ihn auf amerikanischem Boden dem Glücke, der Wohlfahrt und der seelischen Gesundung geradewegs in die Arme zu führen.

Ihn selbst hatte ich lange nicht zu Gesicht bekommen, aber als ich am Abend vor seiner Wegfahrt nach der Stadt ging, fühlte ich mich in der Dunkelheit der Straße plötzlich an der Schulter gefaßt, während ein nur zu bekannter Dunst grüßend über mich herstrich.

»Du bist ein guter Junge, Hermann«, hörte ich des Onkels Stimme, »und ich bin sicher, du wirst nie einen Stein auf mich werfen. Sie schieben mich nun ab, und das ist auch ganz richtig, denn was sollen sie mit mir anfangen? Ich habe auch ganz gern ›Ja‹ gesagt. Verrecken kann man überall, und wenn man's tut, braucht man in der Fremde keinen um Entschuldigung zu bitten. Grüß deinen Vater von mir und sage ihm: Um seinetwillen tut es mir leid, daß ich so viel Schande über die Familie gebracht habe.«

»Du hast ja gar nicht, Onkel«, sagte ich.

»Findst du?« fragte er, und seine Stimme zitterte in Tränen, aber weinen tat er ja immer, das brachte der Alkohol so mit sich. »Na! Für uns Mennisten ist es übergenug, denn wir sind als nüchterne Leute berühmt. Ich möchte dir gern heute abend erzählen, wie das alles gekommen ist. Aber wenn ich's recht überleg', dann weiß ich es selber nicht mehr ... Das ist wohl so im menschlichen Leben ... ein kleines Steinchen baut sich aufs andere ... und immer noch eins – und noch eins, und mit einem Male fällt die ganze Pastete zusammen ... So bin ich nun zusammengefallen und weiß noch nicht mal warum ... Denn der Schnaps – der ist es nicht, der kam erst hinterher, als nichts mehr zu wollen war ... ich kann dir also nicht mal sagen: nimm dir ein abschreckendes Beispiel an mir ... im Gegenteil: Trink man immer hübsch einen, es ist das einzige, was einem bleibt, wenn alles andere flöten gegangen ist ... ich könnt dir ja so viel sagen ... so[95] viel sagen. Der ganze Dreckeimer, der sich menschliches Leben nennt, der liegt heute abend ausgeschüttet vor mir, aber ich möchte dich nicht irremachen ... ich will bloß noch 'n bißchen vor den ›Goldenen Löwen‹ gehen, 'reinlassen tun sie mich nicht mehr, denn ich hab zuviel Kneipschulden da. Aber vielleicht hast du ein paar Silbergroschen bei dir, ich zahl sie dir morgen zurück, wenn sie mir das Geld zur Wegzehrung geben, denn ohne jeden Heller werden sie mich ja nicht lassen. Und so kann ich mir noch einen vergnügten Abend machen.«

Ich gab ihm das Wenige, das ich besaß, das Schluchzen verbeißend, das mich jäh überkam, und er verschwand im Dunkeln.

Als ich zwei Stunden später von Blechschmidt, mit dem ich Mathematik geochst hatte, nach Hause ging, sah ich ihn vor dem »Goldenen Löwen« stehen, wie er, sich wärmend, von einem Fuß auf den anderen trat und mit steifen Lippen ein Lied dazu pfiff, das mißtönig in einem Eishauch erstarrte. Und ob es Rücksicht war oder Feigheit oder Mangel an Herz, ich kann es nicht sagen – kurz, ich schlich in weitem Bogen um ihn herum.

Am nächsten Tage um die Dämmerung erschien er sehr flott in Tantens Wohnung, die er sonst nicht mehr betrat, nahm Reisepaß, Fahrkarten und mit dem Bargeld, das wohl oder übel hinzugefügt werden mußte, die nötigen Ermahnungen in Empfang, es nicht vor der Abreise schon zu verjuxen.

»Was ihr euch denkt«, sagte er triumphierend. »Hätte ich solch eine Summe nur ein einziges Mal in Händen gehabt, so wäre es von mir als Anlagekapital nutzbringend verwertet worden, und ich stünde jetzt als reicher Mann vor euch. Aber ihr werdet's erleben: In einem Jahre bin ich es sowieso, und schließlich werdet ihr noch die lachenden Erben.«

Dann ließ er sich die Zigarren einwickeln, die er als Abschiedsgeschenk von irgendeinem Kumpan erhalten haben[96] mochte – bis auf die eine, die er sich zwischen die Zähne steckte –, und verschwand. Verschwand aus meinem Leben für immerdar. Selbst sein Andenken nahm er mit sich fort.

Bis ein paar Jahre später seine Todesnachricht über das große Wasser kam.

Ich war gerade auf Sommerferien zu Hause, als sie meinem Vater aus Elbing geschrieben wurde.

Er starrte eine Weile lang auf den Bogen nieder, der sie enthielt, dann stieß er das hoffnungslose, das grausam verzweifelnde »Äh« hervor, in dem seine Weltanschauung sich zusammenfaßte, und schritt hinaus.

Von da an bis heute ist des verlorenen Mannes auf Erden nie mehr gedacht worden. Und somit schließ ich die Akten über ihn.


Bald darauf geschah mir ein Unglück, dem ich das Glück meines Lebens, Bildung, Aufstieg, Dichtertum, alles verdanke. Ich wurde von einem älteren und stärkeren Mitschüler namens Hamann mit dem linken Knie gegen den unteren Haspen der Klassentür geschleudert und trug eine tiefe Wunde davon, die mich wochenlang ans Bett und dann noch ans Zimmer fesselte.

Vorläufig ahnte ich von dem künftigen Glücke noch nichts – ich will auch erst später davon erzählen. Nur das eine war mir beim Liegen klar: Daß, wenn der Gedanke an die Untersekunda schon früher ein Wahnsinn gewesen war, er jetzt endgültig zu den Toten geworfen werden muöe. Denn ob auch Blechschmidt mich mit der inzwischen über uns ausgeschütteten Fülle der Erkenntnisse zu versorgen bestrebt war – viel davon hatte er nicht kapiert, und ich kapierte noch weniger. Daß ich die Zeit verwertete, um ein Bändchen Goethischer Gedichte auswendig zu lernen, und daß ich in Humboldts »Kosmos« eine neue Bibel fand, konnte mir zur Versetzung nichts helfen.[97]

Fahrt also wohl, ihr Träume von Frühlingsglück und nahender Herrlichkeit! Fahr wohl, du stiller Wahnsinn, an dessen schweifenden Bildern meine lechzende Seele sich satt trank!

Eines Tages berichtete mir Blechschmidt, daß der Ordinarius Kutsch, als ich beim Montagsaufruf als immer noch fehlend gemeldet wurde, das Wörtchen »schade« hörbar vor sich hin gemurmelt habe.

Schade? Warum hatte er »schade« gesagt? Das tat er doch sonst nicht, wenn jemand zu Hause blieb.

Also Scharpie in das Loch gestopft – eine Barchentbinde ums Knie gewickelt und trotz Schmerzen und neuer Entzündung humpelnd zur Schule!

Ein harter Weg – und noch härter das Sitzen – stundenlang, ganze Vormittage lang, während die Muskeln steif wurden und das Blut vom Bein bis zur Stirne ticktackte.

Aber Kutsch lächelte befriedigt und ließ sogar den Eckplatz an meiner linken Seite leer machen, damit ich gelegentlich das Bein auf die Bank legen konnte.

Und siehe da! Der stille Wahnsinn erblühte von neuem. Und als ich einmal – frei nach dem »Kosmos« – von der Weltanschauung des Ptolemäus zu berichten gewußt hatte, da wurde er ein lauter Wahnsinn, der mir tags und nachts die Ohren vollschrie, so daß ich mich nicht bergen konnte vor dem Gram, daß es eben doch nur ein Wahnsinn war.

Der Schulschluß kam immer näher. Mutmaßliche Versetzungslisten liefen von Bank zu Bank. Mein Name befand sich auf keiner. Wie sollte er auch?

Heftig umstritten war ein anderer. »Von Dommer« lautete er. Der ihn führte, saß schon seit runden zwei Jahren auf den Bänken der Tertia B, und noch immer blieb er Antwort für Antwort schuldig. Ein harmlos gefälliges Kerlchen, bei allen beliebt, auch bei den Lehrern, obwohl sie nichts mit ihm anfangen konnten.[98]

»Ich rate dir, lieber jetzt schon abzugehen, Dommer«, hatte Kutsch einmal gesagt, »du machst deinen Eltern nur unnütze Sorgen, und das Einjährige kriegst du ja doch nie.«

In ergebungsvollem Verzicht war der Gescholtene zusammengeknickt.

Aber man wußte: Er hatte mächtige Gönner, und seine Aussichten hoben sich wieder.

Ach, wie beneidete ich ihn! Für mich trat keiner ein. Und wäre selbst ein Fürsprech dagewesen, Genrich, der Erzfeind, hätte ihn mundtot gemacht.


Am Morgen des Schulschlusses – draußen brannte die Märzensonne, und die fallenden Eiszapfen klirrten – da saß ich mit meinem noch steifen Knie in der Aula, eingeklemmt auf den Plätzen der Tertia, während der Herzschlag mir den Atem benahm. So arg wirtschaftete er, daß von Zeit zu Zeit mich ein Schwindelanfall nach rechts oder nach links hinsinken ließ, bis der Rippenstoß des Nachbarn mich wieder in Haltung brachte.

Mit der Sexta ging es los. Aber wer von den kleinen Hosenscheißern nach Sexta kam – was ging uns das an? Dann folgte die Quinta, dann folgte die Quarta, und dann begann es windig zu werden. Noch eine Atempause lang war uns Erwartung gegönnt, denn erst mußten die nach den beiden Tertien Nachrückenden abgetan sei.

Nun aber wurde es ernst.

»Nach der Untersekunda werden versetzt: erstens von der Tertia B – –« so kam es wie ein eintöniger Singsang aus dem Munde des Direx. Mit Claaßen I begann es. Wie anders? Er war ja der unbestrittene Beste. Und dann ging es weiter. Und weiter und weiter. Der Name Blechschmidt erklang, und der Name Christoph erklang und viele andere.

Aber der eine Name, der eine arme, unbedeutende, gleichgültige Name, den ich so gern gehört hätte, weil er zufällig der[99] meine war, blieb aus. – Selbst als die Liste ganz, aber auch ganz zu Ende war.

Vielleicht hat er ihn überlesen und wird ihn gleich nachholen, so tröstete eine letzte, schwache Hoffnung.

Nein, er holte nichts nach! Ungerührt von dem Gedanken, ein heißes Jugendglück zerstört zu haben, begann er genau so eintönig wie vorhin mit der Liste der Tertia A.

Vorbei! Aus!

Und nun merkte ich erst, wie bitter das Knie schmerzte.

Gar nicht erst wieder nach Hause gehen! In den Elbingfluß springen! schrie es in mir.

Die Verlesung der A-Tertianer war beendet. Aber anstatt zur Sekunda überzugehen, räusperte er sich, rückte die Brille zurecht, sah auf das Blatt, sah in den Saal, lächelte leise, und die Stimme ein wenig erhebend, doch immer noch gleichgültig genug, sprach er die Worte:

»Dazu kommen noch außerdem – von Dommer und Sudermann.«

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 86-100.
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