Vierte Szene

[36] Myrrha. Artemidor.


ARTEMIDOR.

Heiß' ich »Schwester« so

Dich, Mädchen, frag' ich immer mich mit Staunen,

Was wohl geschwisterlich in dir und mir.[36]

Uns gab vertrautes Beieinanderwohnen

Ein güt'ger Gott, doch größer war die Güte,

Die mitten in der Jugend frohen Spielen

Einander fremd uns bleiben hieß. Jawohl!

Senk nicht die Wimper, zucke nicht die Lippen!

Fremd sind wir uns, und also soll es sein.

Denn unser wartet nun bedeutungsreich

Ein holdes Näherkommen. Frommer Zwiespalt,

Vorfreud'ges Angstgefühl erwarten uns.

Du schweigst? O nenne nicht Vermessenheit,

Was mir wie Zagen ist, und horche freundlich

Dem Willkommruf in dir, wenn auch dein Auge

Mich scheu von hinnen weist.

MYRRHA.

Artemidor,

Mein Bruder, glaube nicht, daß ich nicht wüßte,

Was rings die Leute raunen. Füreinander

Sind wir bestimmt seit langem. Warum spielen

Wir nun mit Dingen, die so heilig sind?

Ja, rissest du mich an dich, gäbst du mir

Den Namen, den ich fühle, gut, so beugte

Ich mich dem Willen, der von oben kommt,

Und fragte nimmer. Denn wer bin ich Großes,

Daß ich zu fragen hätte? Doch seit Monden

Lieg' ich nun schlaflos lange Nächte – dunkle

Gedanken kommen, gehn und kommen wieder.

Ein Schatten kommt, den ich nicht nennen darf,

Und will ich ihn ergreifen, ist's ein Schatten.

Was wird mit diesem Hause? wird mit uns?[37]

Der Bruder geht leichtherzig seinen Weg.

Wohin? Woher? Ich weiß es nicht. Nur du

Hast Kunde von dem Leben, das ihn festhält.

Die Mutter! Ja, die Mutter. Blut'ge Wunden

Umkleidet sie mit ihrer Seele Weichheit.

Drum zeig' ich ihr ein fröhlich Angesicht,

Geh' mich als Kind und bin es doch so wenig.

So bliebst nur du. Fremd, sagst du, sein wir uns.

Du warst es nicht – mir nicht – doch wirst du's nun,

Mit Schrecken fühl' ich's – wirst es mehr von Stund'

Zu Stunde.

ARTEMIDOR.

Wenn ein plötzlich Zutraun leid'ge

Verborgenheiten bloßlegt, stutzt man wohl –

Ermannt sich aber langsam. Fremdsein heißt

Uns neu sein. Neusein macht bemerkenswert.

Und also soll der Fremderwerdende

In höhrer Schätzung stehn als der Vertraute

Du lächelst? – Fühlst du wohl, wie man es lernt

Sich beugen dem, des künft'ge Herrschaft man

Als gottgewollt empfindet? Hör mich.. Nein!

Hier droht uns eine Feier. Ist mir doch,

Als quält' uns schon des Flötentons Gekreisch..

Doch heut' am Abend, eh das Fest beginnt,

Das Bruder Diokles den Jünglingen

Zu spenden sich vermißt, sei leise dir

Ein Fragewörtlein in das Ohr geraunt.

Erschrick mir nicht. Was andre wie ein Recht

Mit plumpen Händen in den Säckel tun,[38]

Das will ich mir als eine seltne Frucht

Vom höchsten Wipfel der Gewährung pflücken.


Dienerinnen öffnen die Tür links.


Der Vater! Deine Mutter ist mit ihm.

Willst du bereit sein?

MYRRHA beklommen.

Ja, ich will.


Quelle:
Hermann Sudermann: Der Bettler von Syrakus. Stuttgart und Berlin 2-51911, S. 36-39.
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