Dritte Szene

[104] Der Blinde mit zwei Wächtern. Später Arratos.


EIN WÄCHTER.

Hier warte, bis der Herrscher wiederkehrt.


Die zwei Wächter ab.


DER BLINDE lauscht hinter ihnen her, vergewissert sich, daß er allein ist, dann geht er suchenden Schrittes zum Altar, wirft sich auf dessen Stufen nieder und umklammert ihn in tiefster Erschütterung mit seinen Armen.

ARRATOS tritt ein.

DER BLINDE ist beim Geräusch der Schritte aufgefahren.

ARRATOS.

Was treibst du da?

DER BLINDE sich von den Knien erhebend.

Es sprach ein Mann zu mir:

»Stehst du in Lykons einstigem Palast,[104]

Dicht an dem Tor, das in die Halle führt,

So mach der Schritte sieben grad hinein.

Dort wirf dich betend nieder. Tatst du dies,

So wende dich nach rechts


Er tut es.


und ruf ins Leere:

Euch, Zeus und Hestia, den Hütenden,

Sendet der Herr des Hauses diesen Gruß! ...«

So hab' ich mein Gelübde nun erfüllt –

Und bin, Erhabener, zu deinem Dienst. –

ARRATOS.

Von jenem Manne sprich mir mehr. Wo sahst

Du ihn dereinst von Angesicht?

DER BLINDE.

Ach Herr,

Es ist so weltenlange her, daß ich

Noch Angesichter sah – fast muß ich lachen –

Und geb' ich dir zur Antwort: Herr, ich sah

Ihn nie, so wirst du mich Betrüger schelten.

Und doch: Ich sah ihn nie! Beim Zeus! 's ist wahr.

Wie blinde Regenwürmer lagen wir

Zum Knauf gewälzt in einer schlamm'gen Grube

Und balgten tastend uns um jeden Brocken.

Da lernten wir ihn – fühlen, – Herr! Ach, Herr,

Was hatte dieser Mensch für eine Faust!

Geprügelt hat er mich und jeglichen,

Der ihm zu nahe kam. Noch heute juckt

Der Buckel mir. – Das macht, er war ein Held.

So sind die Helden alle, sagt man. Bist

Du auch so einer, Herr?[105]

ARRATOS.

Erzähle weiter.

Doch wenn du glaubst, daß ich den Schwachsinn, welchen

Du heuchelst, nicht durchschaue, Freund –

DER BLINDE.

Durchschaue,

So viel du immer willst Und wenn du mir

Mit deinen Foltern drohst – ach, lieber Herr,

Ich bin in Folterkniffen höchst erfahren!

Weißt du, wie man empfindungslos sich macht,

Als wäre man ein Stein, ein Aas, ein Hauklotz?

Vielleicht kannst du das Spiel einst brauchen, Herr;

Ich lehr's dich gern, nur weil du mir gefällst.

ARRATOS knirschend.

Wie also trifft man dich?

DER BLINDE.

Man trifft mich gar nicht,

Denn wer so wund wie ich, ward unverwundbar.

ARRATOS einlenkend.

Du meinst, ich sei dir bös gesinnt; mit nichten,

Mein Freund. Ich könnte manches für dich tun,

Doch müßtest du, damit ich weiß, für wen,

Mich deine wahre Stimme hören lassen.[106]

DER BLINDE.

Die hört' ich selbst nicht mehr – seit Ewigkeiten,

Denn ich ward heiser, muß das Echo spielen,

Das Echo jenes einen, der im Sterben

Leibeigen mich gemacht mit harten Schwüren

Und den ich hasse, weil er durch die Träume

Mir mahnend folgt und Rechenschaften fordert,

Ob ich das Wort gelöst, das er sich einst

Erzwungen.

ARRATOS.

Was gelobtest du?

DER BLINDE.

Viel, Herr,

Viel mehr, als ich im Ernst erfüllen kann.

ARRATOS.

Geschah's nach seinem Auftrag, daß beim Feste

Du jene Fragen mir entgegenwarfst?

DER BLINDE.

Wie anders, Herr?

ARRATOS.

Doch formtest du sie so,

Daß sie in meine jüngst gesprochnen Worte

Sich hakten wie ein Fingerglied ins andre.

So vorherwissend war der Tote nicht.[107]

DER BLINDE.

Du weißt ja, Herr, daß ich nur Echo bin,

Und weil du mehr an Kraft hast als ein Schatten,

So ward ich wider Willen auch das deine.

ARRATOS.

Doch nun berichte mir der Wahrheit nach,

Was jener Tote damals über mich –

Sei's Böses oder Gutes – von sich gab.

DER BLINDE.

Ach Herr, was fragst du erst. Ein Maulwerk hatte

Das Untier! Prasselnd wie ein Erbsensieb.

ARRATOS.

So glich es wohl dem deinen?

DER BLINDE lachend.

Meins dem seinen?!

Wir schimpften zwar nach seinem Vorbild, doch

Dies war ein trübes Wässerchen, verglichen

Mit einem kräftigen Mistjauchenwurf.

Womit er insbesondre dich bedachte,

Verstand ich nicht – und hätt' ich es verstanden,

Dürft' ich's aus Ehrfurcht jemals wiederholen?

Und nur, weil du befahlst, verkünd' ich dir,

Was man ein Kosewort wohl heißen kann.

So sagt' er einst: »Poseidons Liebling ist

Der sanfte Arratos, denn hätt' er ihm

Schwimmhäute nicht zur Hilfe wachsen lassen,[108]

Im Meer des eignen Speichels müßt' er längst

Ertrunken sein.« Sodann zum andernmal:

»Ein Selbstlob stinkt, doch hat es Arratos

In Wohlgeruch verwandelt – und wodurch?

Indem er sich nach heimlichem Vertrag

Von Syrakusens Feinden loben ließ.«

Ein drittes Mal – –

ARRATOS.

Genug, genug jetzt.

DER BLINDE.

Schade!

Mir wär' es ein Genuß, dir nachzuweisen,

Wie schändlich dieser Lykon sich benahm.

Ein Gottesfrevler war er auch, der Unhold.

So sprach er einst: »Drei hohe Götter herrschen

Ob allem Weltgeschehn von Anbeginn.«

Nicht Zeus – nicht – rate was für welche? – »Zufall,

Gewalt und Lüge sind die Götter drei,

Und Arratos, der weise, dienet allen.«

Dies waren seine eignen Worte, Herr.

Ich sage »pfui« – sonst nichts.

ARRATOS.

Wenn's wahr ist, Blinder,

Daß du dem Toten – – Sprich, wann starb er wohl? –

DER BLINDE.

Erlaube, Herr! Eins – zwei – drei Jahre sind's,

Daß ich nicht mehr im, Kerker faule.[109]

ARRATOS.

Und

So lange –?

DER BLINDE unschuldig.

Wie?

ARRATOS.

– ist's, daß man ihn begrub?

DER BLINDE.

Begrub. Jawohl.

ARRATOS.

Wenn du, wie deine Reden

Mich glauben machten, jenem Toten Haß

Nachträgst, so wird es dir ein leichtes werden,

So hassenswert ihn an die Wand zu malen,

Daß ob dem Bilde frommes Nachgefühl

In Graun erstirbt.


Der Blinde zuckt auf.


Verstandst du mich?

DER BLINDE unschuldig.

Nein, Herr.

ARRATOS.

Was lauschest plötzlich du nach allen Winkeln?

DER BLINDE.

Mir war – ein Lüftchen fing sich – irgendwo,

Das mir erzählen will, weshalb ich hier bin.

ARRATOS.

Beliebt's mir mehr zu sagen, denk das eine:

Wir Könige belohnen königlich.[110]

DER BLINDE.

Wenn Sträflinge – unsträflich dich bedienen.

ARRATOS.

Nun wohl, ob du ein Lügner bist, ob nicht,

Mein Weib verlangt –

DER BLINDE auffahrend.

Dein Weib?

ARRATOS stutzend.

Nun ja!

DER BLINDE Gleichgültigkeit heuchelnd.

Nun ja –

Verlangt –?

ARRATOS.

– daß du ihr jetzt, und zeugenlos,

Verkündest, was du von dem Toten weißt,

Der einst ihr Gatte war.

DER BLINDE tonlos.

Ihr – Gatte – war –

ARRATOS.

Und tatst du dies durchaus nach meinem Wunsche –

Sprich, Blinder – willst du?

DER BLINDE stammelnd.

Herr, wie sollt' ich nicht?[111]

ARRATOS.

Dann wirst du frei des Weges gehn, woher

Du kamst

DER BLINDE außer Fassung.

Mit deinem Weibe – zeugenlos?

ARRATOS von neuem, stärkerem Argwohn gepackt.

Fast scheint's, du habest Auftrag auch an sie.

DER BLINDE ist wieder zu sich gekommen und fährt, scheinbar entsetzt, in dem vorigen Tone fort.

Mit deinem Weibe, Herr – dies wolle nicht!

Erbarm dich meiner! Dieses nicht! Ich bin

Ein armer Bettler, schlechtgekleidet – würde

Vor hohen Frauen blöd verstummen – würde

Voll Angst vergessen, was mir einst geschah.

Den Toten hab' ich schon vergessen, weiß

Kein Sterbenswörtchen mehr von ihm. Nein, Herr,

Dies kann ich nicht. Verlange was du willst,

Dies nicht.

ARRATOS beruhigt.

Doch wirst du frei hernach, – ganz frei.

DER BLINDE scheinbar in staunender Ungläubigkeit.

Ganz – frei?[112]

ARRATOS.

Bleibt dir alsdann noch Zeit, die dritte

Von jenen Fragen mir ans Herz zu legen –

Wohlan, ich werde dir zu Willen sein.


Zutunlich.


Vielleicht vertrauest du sie mir schon jetzt?

DER BLINDE.

Was schert dich eine Frage, Herr, die du

Auf dieser Erde nie vernehmen wirst?

Denn die Karthagerklingen müßten schlecht

Geschliffen sein, die meinen blinden Leib

Nicht an der nächsten Ecke stolpern ließen.

ARRATOS.

In meinem Schutze stehet jedermann

Zu Syrakus.

DER BLINDE.

Ich auch?

ARRATOS.

Du mehr als alle.

DER BLINDE scheinbar überzeugt.

Ich dank' dir, Herr!

ARRATOS.

Jetzt harre meines Weibes.


Ab.


Quelle:
Hermann Sudermann: Der Bettler von Syrakus. Stuttgart und Berlin 2-51911, S. 104-113.
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