Zwölfte Szene

[31] Trast. Robert.


TRAST. Nun beichte, mein Junge! Vertrau dich mir an!

ROBERT. Ah – hätt' ich die Heimat niemals wiedergesehen!

TRAST. Holla! Bläst der Wind aus dem Loche?

ROBERT. Ich schäme mich des Standes, in dem ich geboren bin. – Die Meinigen gelten mir nichts mehr. – Mein ganzes Wesen zieht sich zusammen in der Berührung mit ihnen ... Ich traue meinem Gehirne nicht, denn ein verrückter Argwohn nach dem andern schießt mir durch den Kopf. – Trast, ich glaube beinah, ich achte den Schoß nicht mehr, der mich getragen hat.

TRAST. Das ist kompletter Unsinn.[31]

ROBERT. Wenn ich dir schildern wollte, was ich gelitten habe. Jedes ernsthafte Wort erschien mir wie ein Faustschlag, und jeder Scherz wie eine Ohrfeige. Es schien, als wüßte man nichts zu reden, als was mich verwundete ... Ich glaubte, zur Heimat zurückzukehren und stehe einer fremden Welt gegenüber, in der ich kaum zu atmen wage. – Rate, was soll ich tun?

TRAST. Deine Koffer packen.

ROBERT. Das wäre feige und herzlose Flucht. Hat das die um mich verdient, die mich gebar?

TRAST. Weißt du – lassen wir das hohe Pathos. Die Sache liegt so einfach wie möglich – für uns, die wir das Kastenwesen an der Quelle studiert haben. – Dieselben Kasten gibt's auch hier, nicht durch Speisegesetze, durch Eheverbote und Regeln religiöser Etikette von einander geschieden. Das wären nur Kleinigkeiten. Was sie unüberbrückbar trennt, das sind die Klüfte des Empfindens. – Jede Kaste hat ihre eigene Ehre, ihr eigenes Feingefühl, ihre eigenen Ideale, ja selbst ihre eigene Sprache. – Unglücklich deshalb derjenige, der aus seiner Kaste herausgefallen ist und nicht den Mut besitzt, sich mit seinem Gewissen von ihr zu lösen. Ein derart Deklassierter bist du, und du weißt, ich war es auch. – Ja, was du heute fühlst, habe ich vor Jahren am eigenen Leibe durchgemacht. Oder wie glaubst du, daß mir, dem flotten, blutjungen Kavallerie-Offizier zumute war, als ich eines Morgens beim Erwachen mich besann, daß ich in der Nacht das Sümmchen von 90000 Talern verspielt hatte, das binnen 24 Stunden bezahlt sein wollte? Was half's, daß ich nach Hause reiste, um mich meinem Vater zu Füßen zu werfen? Er hätte seine Haut verpfändet, um die Ehre meines, seines Namens zu retten, aber diese Haut war schon verpfändet. Und da er mir weiter nichts zu geben hatte, gab er mir wenigstens seinen Fluch.

ROBERT vor sich hin brütend. Daß du den Mut hattest, weiterzuleben.[32]

TRAST. Haha! Weißt du denn nicht, wie das geschah?

ROBERT zerstreut und von Unruhe gequält. Ich weiß nichts mehr – nichts – nichts –

TRAST. So merk es dir. Es kann dir vielleicht nützen. Als meine Kameraden sich von mir verabschiedeten, erwiesen sie mir den letzten Liebesdienst, eine Pistole mit gespanntem Hahn schweigend neben mich auf den Tisch zu legen. Ich besah mir das Dings von allen Seiten. Daß ich als Ehrloser nicht eine Stunde länger leben könnte, war mir selbstverständlich. Da, als ich die Mündung gegen meine Schläfe drückte, kam mir plötzlich der Gedanke: Das ist brutal, das ist dumm. Was bist du weniger, als du vor drei Tagen warst? Vielleicht hast du die Rute verdient, da du als dummer Junge Summen versprachst, die du nicht besaßest, den Tod aber nicht. Es haben sich Jahrtausende lang Menschen der Sonne gefreut, ohne sie von dem Phantom der Ehre verdunkeln zu lassen, noch heute leben 999 Tausendstel der Menschheit auf dieselbe Art. Lebe wie sie, arbeite wie sie und freu dich der Sonne wie sie. – Als ich zwölf Jahre später – meine Schuld war selbstverständlich längst getilgt – nach Europa zurückkehrte, kam eine Art Versöhnung zwischen mir und meinem Vater zustande. Äußerlich nur. Hätte er mich als verlorenen Sohn auf seiner Schwelle liegend gefunden, er hätte mich mit seinen zitternden Händen aus dem Kot erhoben und an seine Brust gedrückt. Daß ich trotzig und frei den Kopf erhob, ja daß ich imstande war, ihm mit einer halben Million unter die Arme zu greifen, das verzieh er mir nie. Wenige Wochen später reiste ich ab. Der reiche Kaffeekrämer und der arme Standesherr hatten sich nichts mehr zu sagen. –

ROBERT. Und nun ist er tot.

TRAST. Friede werd ihm in dem Himmel, an den er glaubte! Doch nun die Nutzanwendung: Laß den Deinen ihre Weltauffassung, du wirst sie nicht mehr ändern. Gib, wo es not tut, gib im Überfluß und im übrigen – komm mit.[33]

ROBERT. Ich kann nicht. Höre weshalb. Ich hab es dir vorhin verschwiegen, denn ich – schämte mich. – Ich habe eine Lieblingsschwester. Sie war ein Kind als ich fortging. Oh, wie hab ich mich auf das Wiedersehn gefreut! – Und ich bin nicht enttäuscht, denn sie ist schöner und lieblicher aufgeblüht, als ich je hoffte. Aber meine Liebe zu ihr hat sich in Angst und Qual verwandelt. – Ich zittere vor tausend Gefahren, die ich nicht zu nennen wage. Denn was sie tut und mit sich tun läßt, – in aller Unschuld natürlich – widerspricht meinem Ehrgefühl auf Schritt und Tritt. Vorhin, als du von jenem unreifen Laster erzähltest, ein Schauder lief mir da kalt über den Leib, – denn – nein und tausendmal nein. Hier ist mein Platz, hier steh und fall ich!

TRAST. Ich gebe zu, du hast Gründe, welche sich hören lassen. Aber du bist in überreizter Stimmung. Ich wette, du siehst zu schwarz.

ROBERT. Wollt es Gott!


Stützt den Kopf in beide Hände.


TRAST. Freilich, Humor müßtest du haben, dann ließe sich manches ertragen.


Quelle:
Hermann Sudermann: Die Ehre, Stuttgart 1974, S. 31-34.
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