Meinen Eltern

zum 16. November 1886


Frau Sorge, die graue, verschleierte Frau,

Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau;

Sie ist ja heute vor dreißig Jahren

Mit Euch in die Fremde hinausgefahren,

Da der triefende Novembertag

Schweratmend auf nebliger Heide lag

Und der Wind in den Weidenzweigen

Euch pfiff den Hochzeitsreigen.


Als Ihr nach langen, bangen Stunden

Im Litauerwalde ein Nest gefunden

Und zagend standet an öder Schwelle,

Da war auch Frau Sorge schon wieder zur Stelle

Und breitete segnend die Arme aus

Und segnete Euch und Euer Haus

Und segnete die, so in den Tiefen

Annoch den Schlaf des Nichtseins schliefen.


Es rann die Zeit. – Die morsche Wiege,

Die jetzt im Dunkel unter der Stiege

Sich freut der langverdienten Rast,

Sah viermal einen neuen Gast.

Dann, wenn die Abendglut verblichen,

Kam aus dem Winkel ein Schatten geschlichen

Und wuchs empor und wankte stumm

Erhobenen Arms um die Wiege herum.


Was Euch Frau Sorge da versprach,

Das Leben hat es allgemach

In Seufzen und Weinen, in Not und Plage,

Im Mühsal trüber Werkeltage,

Im Jammer manch durchwachter Nacht

Ach! so getreulich wahr gemacht.
[3]

Ihr wurdet derweilen alt und grau,

Und immer noch schleicht die verschleierte Frau

Mit starrem Aug' und segnenden Händen

Zwischen des Hauses armen vier Wänden,

Vom dürftigen Tisch zum leeren Schrein,

Von Schwelle zu Schwelle aus und ein,

Und kauert am Herde und bläst in die Flammen

Und schmiedet den Tag mit dem Tage zusammen.


Herzliebe Eltern, drum nicht verzagt!

Und habt Ihr Euch redlich gemüht und geplagt

Ein langes, schweres Leben lang,

So wird auch Euch bei der Tage Neigen

Ein Feierabend vom Himmel steigen.


Wir Jungens sind jung – wir haben Kraft,

Uns ist der Mut noch nicht erschlafft,

Wir wissen zu ringen mit Not und Mühn,

Wir wissen, wo blaue Glücksblumen blühn;

Bald kehren wir lachend heim nach Haus

Und jagen Frau Sorge zur Tür hinaus.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 1, Stuttgart und Berlin 1923, S. 3-4.
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