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[85] Es war im Monat Juni an einem sonnigen Sonntagnachmittag.

Aus dem Walde herüber erscholl leise Trompetenmusik. Dort wurde heut ein großes Fest gefeiert. Eine städtische Musikkapelle hatte sich anwerben lassen, ein Konzert zu geben. Von weit und breit waren die Landbewohner herbeigeströmt, selbst die Rittergutsbesitzer hatten nicht verschmäht, ihre Teilnahme zuzusagen, denn dergleichen ereignete sich nicht häufig in dem stillen Hinterwald.

Von Mittag an waren lange Wagenreihen an dem Heidehof vorübergezogen, und der alte Meyhöfer, der nicht gern zu Hause saß, wenn irgendwo was los war, hatte plötzlich einen Anfall von Güte bekommen und den Weibern zugerufen, sich schleunigst bereit zu machen, er wolle sich opfern und sie zum Feste führen.

Die Zwillinge, die schon lange mit begierig glänzenden Augen zum Fenster hinausgestarrt hatten, brachen in lauten Jubel aus, Frau Elsbeth lächelte still zu ihnen hinüber und wandte sich dann zu Paul, der in einer Ecke saß und ruhig an seinen Blumenstöcken weiterschnitzelte, als ob ihn das alles nichts anginge.

»Willst du nicht mit?« fragte sie.

»Paul kann kutschieren,« rief Meyhöfer nachlässig.

Er dankte und meinte, sein Rock sei zu schäbig, auch wolle er die Tagelöhner kontrollieren, die sich mit Sonnenuntergang einzufinden hatten. Morgen sollte die Heuernte beginnen.

Die Zwillinge sahen ihn an, steckten die Köpfe zusammen und kicherten dann, als er zur Tür hinausschritt, hängten sie sich an ihn, und Käthe zischelte: »Du, wir wissen was!«

»Na, was wißt ihr denn?«

»Was Schönes!« meinte Grete geheimnisvoll.

»'raus damit!«

»Elsbeth Douglas ist wieder zu Hause.«

Und in ein helles Gelächter ausbrechend, jagten sie von dannen.[86]

Paul empfand zuerst einen großen Zorn, daß sie ihn zu verspotten wagten, dann seufzte und lächelte er und wunderte sich, daß sein Herz plötzlich so laut zu pochen begann.

Eine halbe Stunde später fuhren die Seinen ab.

»Komm bald nach!« rief ihm die Mutter vom Wagen zu, und Käthe raunte ihn beim Aufsteigen ins Ohr: »Ich glaub', sie werden auch da sein.«

Nun stand er allein auf dem verödeten Hof ... Die Mägde waren zum Melken auf die Weide gegangen, – keine lebendige Seele weit und breit.

Die Enten in ihrem Tümpel hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt, der Kettenhund schnappte schläfrig nach Fliegen.

Paul setzte sich auf den Gartenzaun und starrte nach dem Walde hinüber, an dessen Rande der Schein von hellen Kleidern hin und her flirrte, während hie und da ein helles Leuchten aufblitzte, wenn die Sonnenstrahlen sich in dem Geschirr der harrenden Fuhrwerke widerspiegelten.

Der Abend kam. Noch war er unschlüssig, ob er es wagen dürfte, den Seinen nachzufolgen.

Tausend Gründe fielen ihm ein, die sein Zuhausebleiben dringend notwendig machten, und als es ihm vollständig klargeworden war, daß er ins Haus gehöre und nirgends anders hin, zog er sich seinen Sonntagsrock an und ging zum Feste.

Es fing an zu dunkeln, als er über die duftende Heide dahinschritt. Das Herz schnürte sich ihm zu in tiefgeheimer Angst. – Er wagte nicht nach den Gründen zu forschen, doch als er an dem Wacholderbusche vorbeischritt, unter dem er einst Elsbeth sein schönstes Lied gepfiffen, da zuckte ein Schmerz durch seine Brust, als hätte ein Stich ihn getroffen.

Er hielt an und überlegte, ob er nicht lieber umkehren sollte. – – »Mein Rock ist viel zu schlecht,« sagte er sich, »ich kann mich in anständiger Gesellschaft nicht sehen lassen.« Er zog ihn aus und musterte ihn von allen[87] Seiten. Die Nähte des Rückens zeichneten sich als graue Streifen ab, auf den Ellbogen saß ein mattsilberner Glanz, und die Kanten der Brustaufschläge wiesen sogar kleine Fransen auf.

»Es geht beim besten Willen nicht,« sagte er, und dann setzte er sich unter den Wacholderbusch und träumte davon, wie flott und elegant er aussehen würde, wenn er es erst bis zu einem neuen Rocke gebracht hätte. »Aber das wird wohl noch lange dauern,« fuhr er fort, »erst müssen Max und Gottfried fest in ihren Stellungen sitzen, und Grete und Käthe müssen die Ballkleider haben, die sie sich wünschen, und Mutters Lehnstuhl muß neu gepolstert sein,« – – und je mehr er nachdachte, desto mehr Sachen fielen ihm ein, die den Vorrang hatten.

Hierauf sah er sich wieder mit einem funkelnagelneuen schwarzen Anzug angetan, Lackstiefel an den Füßen, eine modische Krawatte um den Hals geschlungen, wie er mit stolz emporgehobenem Haupte in nachlässig vornehmer Haltung den Ballsaal betrat, während Elsbeth ihm hochachtungsvoll entgegenlächelte.

Plötzlich fuhr er aus seinen Träumen hoch. – »Pfui, ich bin ein rechter Geck geworden,« schalt er, »was hab' ich mit Lackstiefeln und modefarbenen Krawatten zu tun? Und jetzt geh' ich grade in meinem alten Rock zum Walde. – – Zudem ist es ja auch schon fast dunkel geworden,« fügte er vorsichtig hinzu.

Heller schallten die Trompeten. Jubel und Gelächter drangen durch die Fichtenzweige an sein Ohr.

Eine runde Waldwiese war zum Festplatz umgewandelt worden. In der Mitte erhob sich ein Podium für die Musikanten, rechts davon stand die Bude des Schankwirts aus dem Dorfe, der saures Bier und süßen Kuchen verkaufte, und auf der linken Seite war ein Tanzplatz eingezäunt, dessen Betreten zehn Pfennig extra kostete, wie man auf einer großen weißen Tafel lesen konnte.

In weitem Bogen ringsum waren Tische und Bänke aufgeschlagen, wo die Familien sich an dem mitgebrachten Abendbrot gütlich taten, und mittendurch drängte sich eine[88] jubelnde, kichernde, gaffende Menge, die nach Liebe oder Prügeln lüstern war.

Das Konzert war bereits zu Ende, der Tanz hatte begonnen; auf dem festgestampften Moose drehten die Pärchen sich keuchend und stolpernd in die Runde.

Der Schein des verglühenden Abends lag auf der Lichtung, während das rings daran grenzende Waldesterrain schon im Dunkel vergraben war. Hier hausten die Knechte und die Mägde aus den umliegenden Ortschaften, selbst die Kutscher hatten ihre Fuhrwerke verlassen, da sie's nicht übers Herz brachten, dem Liebesspiel von ferne zuzusehen. Jeder Busch des Unterholzes schien lebendig, und aus dem Schoße der Nacht drang leises, verliebtes Gekicher.

Scheu wie ein Verbrecher schlich Paul sich rings um den Festplatz. Ein Bangen vor fremden Menschen war ihm schon immer eigen gewesen, aber noch nie hatte sein Herz sich so angstvoll zusammengekrampft wie in diesem Augenblicke.

»Ob Elsbeth da ist?« – Nirgends im Getümmel war von den Bewohnern des »weißen Hauses« eine Spur, aber auch die Seinen schienen spurlos verschwunden. Einmal war es ihm, als höre er das girrende Gelächter der Zwillinge an sein Ohr schlagen, aber im nächsten Augenblick hatte der Lärm es verschlungen.

Zweimal war er schon in die Runde gegangen, da plötzlich – das Herz drohte ihm stille zu stehen in Schreck und Wonne – sah er ganz nah vor sich Vater und Mutter mit der Familie Douglas in friedlichstem Beieinander an einem Tische sitzen.

Der Vater hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und redete hochrot vor Eifer auf Herrn Douglas ein. Der breitschultrige Riese mit dem buschigen Graubart hörte ihm schweigend zu, nickte bisweilen und lächelte vor sich hin. Die hagere, kränkliche Gestalt mit den hohlen Wangen und den blauen Ringen rings um die Augen, die das Haupt müde gegen einen Baumstamm gelehnt hatte und mit den mageren, weißen Fingern die Hand der Mutter[89] umschlungen hielt, das war seine Pate, die ihm stets wie eine Botin aus dem Jenseits erschienen war. Aber neben ihr – neben ihr die Dame in dem schmucklosen, grauen Kleide, mit dem schlicht zurückgestrichenen Blondhaar – –

»Elsbeth, Elsbeth,« jubelte eine Stimme in ihm, und dann plötzlich sank es wie eine Wolkenwand zwischen ihm und ihr hernieder und legte sich frostig um seine Seele und umflorte sein Auge mit feuchten Schleiern.

Ihr gegenüber saß ein Herr mit keckem, blondem Bärtchen und noch keckeren, blauen Augen, der sich vertraulich zu ihr hinüberneigte, während ein Lächeln über ihr stilles Antlitz glitt.

»Den wird sie heiraten,« sagte er sich mit einer Bestimmtheit, die mehr als eine eifersüchtige Ahnung war. Mit dem Hellsehertum der Liebe hatte er erkannt, daß diese beiden Naturen sich ergänzten und einander suchen mußten. – Und vielleicht, vielleicht hatten sie sich schon gefunden, dieweil er selber seine Tage in nichtigen Träumen vergeudete.

Wie erstarrt blieb er stehen und musterte den Mann, der ihm plötzlich klar machte, was er verloren – verloren freilich, ohne es je besessen zu haben.

Wie hätte er sich auch jemals mit diesem messen können! So – auf ein Haar so – war ja das Mannesideal beschaffen, von dem er stets geträumt hatte.

Kühn, energisch, siegesbewußt – so wollte auch er einst werden – genauso wie der fremde junge Mann, der mit leichtsinnigem Lächeln zu Elsbeth hinüber schaute. – Auch trug er Lackstiefel und einen modefarbenen Schlips, und sein Anzug war vom feinsten, schwarzen Glanztuch.

Wohl eine Stunde lang stand Paul da, ohne daß er wagte, sich vom Platze zu rühren, Elsbeth und ihr Gegenüber mit den Augen verschlingend.

Es wurde Nacht, er merkte es kaum.

Lange Reihen von Lampions wurden angezündet und entsendeten einen ungewissen Dämmerschein auf das bunte Menschengewühl.

»Wie schön bin ich geborgen!« dachte Paul und freute[90] sich des Dunkels, in dem er sich verkrochen hatte. Er achtete nicht darauf, daß zwei Männer auf ihn zuschritten und sich in seiner Nähe am Boden zu schaffen machten. – Da plötzlich flammte, kaum drei Schritte von ihm entfernt, ein purpurrotes bengalisches Feuer auf, das alles ringsum in ein Meer blendenden Lichtes tauchte.

Rasch wollte er sich in den Schatten eines Baumstammes flüchten, aber es war zu spät.

»Steht da nicht Paul?« rief die Mutter.

»Wo?« fragte Elsbeth, sich neugierig umwendend.

»Junge, was lungerst du im Finstern 'rum?« schrie der Vater.

Da mußte er wohl oder übel hervortreten, und hochrot vor Scham, die Mütze in der Hand, stand er vor Elsbeth, die den Kopf in die Hand gestützt hatte und lächelnd zu ihm aufsah.

»Ja – so ist es immer – der richtige Schleicher,« sagte der Vater, ihm einen Schlag auf die Schulter gebend, und der fremde junge Herr strich sich das Haar aus der Stirn und lächelte halb gutmütig, halb ironisch.

Da stand der alte Douglas auf, trat auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände. »Kopf hoch, junger Freund, und Brust 'raus!« rief er mit seiner Löwenstimme. »Sie haben keine Ursache, die Augen niederzuschlagen – Sie am wenigstens auf der ganzen Welt. Wer mit zwanzig Jahren das leistet, was Sie leisten, der ist ein ganzer Kerl und braucht sich nicht verkriechen. Ich will Sie nicht eitel machen, aber fragen Sie mal, wer Ihnen das nachtäte! Etwa du, Leo?« wandte er sich an den jungen Stutzer, der mit lustigem Auflachen erwiderte: »Muß eben verbraucht werden, wie ich bin, Onkelchen.«

»Wenn nur etwas an dir zu verbrauchen wäre, du Taugenichts,« erwiderte Douglas. – »Dies ist nämlich mein Neffe, Leo Heller, ein Fritz Triddelfitz in neuer Auflage – – –«

»Onkel, ich seng' dir auf!«

»Ruhig, du Schlingel.«[91]

»Onkel – zwanzig Glas – wer zuerst unterm Tisch liegt –«

»Das nennt der Respekt.«

»Onkel – du kneifst.«

»Ruhig – sieh dir mal hier diesen jungen Landwirt an – zwanzig Jahr alt und hält die ganze Wirtschaft am Schnürchen.«

»Na, Herr Douglas, ich bin ja auch noch da,« rief Meyhöfer mit etwas langem Gesicht.

»Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen,« erwiderte dieser, »aber Sie haben ja so viel mit Ihrer Aktiengesellschaft zu tun – Sie können sich um solche Lappalien natürlich nicht bekümmern.«

Meyhöfer verbeugte sich geschmeichelt, und Paul schämte sich für ihn, denn er verstand die Ironie dieser Worte gar wohl.

Frau Douglas winkte ihn lächelnd zu sich heran, ergriff seine Hand und streichelte sie. »Groß und hübsch sind Sie geworden,« sagte sie mit ihrer matten, freundlichen Stimme, »und einen schönen Bart haben Sie bekommen –«

»Aber nennen Sie ihn doch du,« fiel die Mutter ein, die heute weit freier schien als sonst. »Paul, bitte deine Patin – – –«

»Ja, ich – bitte darum,« sagte Paul stammelnd, indem er aufs neue errötete.

»Gott wird dich segnen, mein Sohn,« sagte Frau Douglas. »Du hast es dir verdient« – und dann sank ihr Kopf aufs neue gegen den Baumstamm.

Paul stand nun hinter der Bank und wußte nicht, was beginnen. Es geschah zum erstenmal, seitdem er erwachsen war, daß er sich in fremder Gesellschaft befand. Sein Blick fiel auf Elsbeth, die, den Kopf auf die Ellbogen gestützt, sich nach ihm umschaute.

»Mir willst du wohl gar nicht guten Tag sagen?« fragte sie mit leiser Schelmerei.

Das vertrauliche »Du« machte ihm Mut. Er streckte ihr die Hand entgegen und fragte, wie es ihr ergangen sei die ganze lange Zeit.[92]

Ein trüber Schein flog über ihr Gesicht. »Nicht gut,« sagte sie leise, »aber davon später, wenn wir allein sind.«

Sie rückte ein wenig zur Seite und sagte: »Komm!« Und als er sich neben sie setzte, streifte sein Ellbogen ihren Nacken. Da ging ein Schaudern durch seinen Leib, wie er es nie im Leben gefühlt hatte.

Leo Heller reichte ihm über den Tisch weg die Hand und sagte lachend: »Auf gute Freundschaft, Sie Musterknabe, Sie!«

»Ich bin leider nicht wert, daß man mich zum Muster nähme,« erwiderte er in seiner Unschuld.

»Dann seien Sie glücklich – ich auch nicht. – Nichts ist mir ekelhafter, als so ein Musterknabe – –«

»Warum nannten Sie mich denn so?«

Leo sah ihn verblüfft an. »Ach, Sie scheinen alles für Ernst zu nehmen,« sagte er dann.

»Verzeihen Sie – ich bin so wenig an Scherz gewöhnt,« erwiderte er, und die Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Wie er sich hierbei nach Elsbeth wandte, bemerkte er, daß sie ihm mit eigentümlich tiefem, ernstem Blicke in die Augen schaute. Da stieg ein jähes Glücksgefühl in seiner Seele auf. Er ahnte, daß hier jemand war, der ihn nicht für dumm und lächerlich hielt, der seine Natur verstand und die Gesetze, nach denen sie wirkte.

Während die dreie stillschwiegen, fuhr der Vater am anderen Ende des Tisches fort, Herrn Douglas den Plan seiner Aktiengesellschaft auseinanderzusetzen.

»Und wenn Sie Vertrauen zu mir haben, Herr! – aber nein! das brauchen Sie nicht einmal – ich will sagen, wenn Sie Ihr eigen Glücke nicht leichtsinnig verscherzen wollen – man soll seinem Glücke nicht im Wege stehen, Herr! – wenn Sie nur ein Quentchen Unternehmungsgeist in sich verspüren – o dann, ja dann –! Sie wissen, Hunderttausende sind hier zu verdienen, das Moor ist unerschöpflich – wozu wollen Sie andere an Ihrer Stelle reich werden lassen, Herr? Vorwärts – durch Nacht zum Licht, heißt meine Devise – ich will streben und kämpfen bis zum letzten Atemzug – nicht[93] mein eigenes Interesse ist es, was hier auf dem Spiele steht, mir erscheint es als eine Frage der ganzen Menschheit! Es gilt, diese wüsten Ländereien der Kultur zu gewinnen, es gilt, diesem ganzen Distrikte neues Lebensblut zuzuführen, es gilt, die Armut dieser Strecken in Wohlstand umzuwandeln – Wohltäter der Menschheit gilt es zu werden, Herr!«

Und in diesem Tone schwadronierte er weiter.

Dann plötzlich rückte er Douglas ganz nah auf den Leib, und als wollte er ihm die Pistole auf die Brust setzen, schrie er: »Werden Sie also partizipieren, Herr?«

Douglas fing einen Blick seiner Frau auf, die heimlich nach Frau Elsbeth hinwies und ihm dabei bittend zublinzelte, dann sagte er, halb belustigt, halb ärgerlich: »Meinetwegen.«

Paul schämte sich wieder, denn er las auf dem Gesichte von Douglas, daß es sich für ihn um weiter nichts handelte als den Scherz, ein paar hundert Taler zum Fenster hinauszuwerfen. Er wußte selbst nur allzu gut, daß kein vernünftiger Mensch die Pläne seines Vaters ernsthaft nehmen konnte.

»Hast du unsere Mädchen nicht gesehen, Paul?« fragte die Mutter, die nun nicht minder beklommenen Mutes schien als er.

Nein, er hatte sie nirgends gesehen.

»So geh – schau dich nach ihnen um – sie sind zum Tanzplatz gegangen – sag ihnen, sie möchten nicht zu sehr jagen – sie erkälten sich sonst.«

Paul erhob sich.

»Ich werde dich begleiten,« sagte Elsbeth.

»Darf ich nicht auch mitkommen, Cousinchen?« fragte Vetter Leo.

»Bleib du nur hier,« erwiderte sie leichthin, worauf er erklärte, sich vor Gram den Tod geben zu müssen.

»Ein lustiger Vogel,« sagte Paul mit einem Seufzer des Neides, als er neben ihr durch das Gedränge schritt.

»Ja aber mehr auch nicht,« erwiderte sie.

»Hast du ihn gern?«[94]

»Gewiß – sehr.«

Sie wird ihn doch heiraten, dachte Paul.

Ringsum schrie und johlte die Menge. Ein Lampion war in Flammen aufgegangen, und eine Schar junger Burschen bemühte sich, es von der Schnur herunterzureißen. Flammende Papierfetzen flogen in die Luft, und der flüssige Stearin spritzte in die Runde.

Elsbeth legte ihren Arm in den seinen und schmiegte den Kopf an seine Schulter. Wiederum durchrieselte ihn jener wonnige Schauer, den er sich nicht zu erklären vermochte.

»So – jetzt bin ich geborgen,« sagte sie flüsternd. »Komm hernach in den Wald, Paul, ich habe dir so viel zu erzählen – dort sind wir ungestört.«

Und wie sie das sagte, wurde ihm ganz angst vor lauter Freude.

Nun waren sie am Tanzplatz angelangt. Die Trompeten lärmten, und die Tänzer wirbelten in die Runde.

»Wollen wir auch tanzen?« fragte sie lächelnd.

»Ich kann ja nicht,« erwiderte er.

»Schadet nichts,« sagte sie, »in solchen Fällen ist ja Leo da.«

Die törichten Träume fielen ihm ein, die er heute unter dem Wacholderbusch geträumt hatte. – »So geht's mit allem, was ich mir ausmale,« dachte er.

»Ich hab' noch ein Buch von dir, Elsbeth,« sagte er dann.

»Ich weiß, ich weiß,« erwiderte sie, indem sie lächelnd zu ihm aufschaute.

»Verzeih, daß ich –«

»Was bist du für ein Kleinkrämer!« scherzte sie. »Leo hat mir inzwischen meine ganze Bibliothek zunichte gemacht und verlangt nun, ich soll sie ihm ersetzen – er habe nichts mehr zu lesen.«

Leo – und immer wieder Leo! –

»Hast du viel Schönes herausgelesen?« fragte sie dann.

»Ich konnte einmal alles auswendig.«[95]

»Und jetzt?«

»Jetzt, ach, du lieber Gott! – ich habe an so viel Alltägliches zu denken – es paßt nicht mehr in meinen Kopf.«

»In meinen auch nicht, Paul! – Das macht, wir haben zu viel vom Leben erfahren – die Poesie ist uns verloren gegangen.«

»Dir auch?«

Sie seufzte. »Die arme Mutter!« sagte sie dann.

»Was ist's?«

»Sieh, seit fünf Jahren bin ich nun Krankenpflegerin,« sagte sie, »da gibt es manche trübe Stunde, und wenn die Nachtlampe brennt und die Augen einem schmerzen vom vielen Wachen und draußen der Sturm an den Läden rüttelt – da kommen einem mancherlei Gedanken über Leben und Sterben, über Liebe und Verlassenheit – na, kurz und gut – da macht man sich im Kopf sein eigen Liederbuch zurecht und liest nicht mehr in fremden. – Aber komm heraus aus dem Lärm – ich möcht' dich so viel fragen – und man versteht hier ja kaum sein eigen Wort.«

»Sogleich,« sagte er, »ich will nur erst – –«

Seine Augen glitten spähend über den Platz, da hörte er hinter sich eine lachende Männerstimme sagen: »Du – sieh mal dort die beiden mannstollen kleinen Kröten.«

Unwillkürlich wandte er sich um und bemerkte die Gebrüder Erdmann, die er seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie waren inzwischen auf der Ackerbauschule gewesen und große Herren geworden.

»Mit denen wollen wir ulken,« sagte der andre. Darauf schlüpften sie lachend in den Kreis der Tanzenden.

Gleich darauf bemerkte Paul auch seine Schwestern. Der braune Lockenwald hing ihnen wirr ins Gesicht, ihre Wangen flammten, ihr Busen wogte, und ihre Augen blickten verliebt und verwildert.

»Wie glücklich sie aussehen – die holden Geschöpfe,« sagte Elsbeth.[96]

Paul hielt ihnen eine kleine Strafpredigt – sie achteten seiner kaum, sondern guckten mit einem girrenden Kichern an seinen Schultern vorüber. Und als er sich umwandte, gewahrte er die beiden Erdmänner, die sich hinter dem Podium der Musikanten verborgen hatten und von dort aus verstohlene Zeichen machten.

Die Zwillinge waren ihm unterdessen entschlüpft, und auch die Erdmänner verschwanden.

»Komm hier fort,« sagte Elsbeth.

Er bejahte, blieb war wie angewurzelt stehen.

»Was hast du?« fragte sie.

Er wischte sich mit der Hand über die Stirn – das böse Wort, das er gehört, wollte ihm nicht aus dem Kopfe gehen.

Die Schwestern waren jung – übermütig – unerfahren – niemand bewachte sie – wie, wenn sie sich etwas vergäben? – wenn sie – –? eiskalt rieselte es ihm über den Leib.

Und er – der sich geschworen hatte, ihnen ein treuer Wächter zu sein, er ging hier seinen Freuden nach, er –

»Komm zum Walde,« bat Elsbeth noch einmal.

»Ich kann nicht,« stieß er hervor ...

Verwundert sah sie ihn an ...

»Ich muß – – die Schwestern – niemand ist bei ihnen – sei nicht böse.«

»Führ mich zum Tisch zurück,« sagte sie.

Er tat es. Beide sprachen kein Wort mehr.

Fünf Minuten später überraschte er die Schwestern, wie sie Arm in Arm mit den Erdmännern nach dem Walde entschlüpfen wollten.

»Wohin?« fragte er, zwischen sie tretend.

Sie schlugen verlegen die Augen nieder, und Käthe stammelte: »Wir – wollten ein bißchen spazieren gehen ...«

Die Gebrüder Erdmann stimmten einen Biedermannston an, schüttelten ihm herzhaft die Hand und wünschten dringend die Freundschaft der Jugendjahre zu erneuern. – Hinterher zeigten sie ihm die Fäuste.[97]

»Ihr geht jetzt zur Mutter,« sagte er zu den Zwillingen, und als sie zu schmälen begannen, zog er sie an den Armen mit sich fort ...

Der Tisch war zur Hälfte leer ... Die Familie Douglas hatte das Fest verlassen.

Da ging er in den Wald und dachte darüber nach, was er Elsbeth wohl alles hätte sagen können. – Aber es sollte ja nicht sein – – es kam immer was dazwischen.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 1, Stuttgart und Berlin 1923, S. 85-98.
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