17

[165] Der Sommer verging, mit seinen Nebelgewändern kam der Herbst über die Heide geschlichen. – Rote Sonnenstrahlen wanderten müde am Waldesrande vorbei, und die Erika senkte ihr purpurfarbenes Haupt. – Um diese Zeit begann auf dem Heidehof, der stiller dagelegen als je bisher, ein seltsames Tönen. Wie Hammerschlag und Glockenklang zugleich hallte es weit über die Heide in streng abgemessenen Takten, bald schriller, bald dumpfer, aber nie ohne melodischen Nachklang, der langsam in den Lüften verzitterte.

Die Bewohner des Dorfes blieben verwundert auf der Straße stehen. Einer fragte: »Was mag bei Meyhöfers los sein?«

Und der andre sagte: »Es klingt fast, als hätt' er sich eine Schmiede gebaut.«

»Sein Glück wird er nicht schmieden,« sagte ein dritter, und lachend gingen sie auseinander.

Der Vater, der wie gewöhnlich gähnend und mürrisch in seinem Winkel saß, war beim ersten Klange hoch emporgefahren und hatte die Zwillinge gerufen, daß sie ihm Rede ständen. Allein die wußten auch nichts weiter, als daß heute in der Frühe ein Handwerker mit Feilen und Hämmern und Lötzeug aus der Stadt gekommen sei, mit dem Paul, allerhand Pläne und Zeichnungen in der Hand, eine lange Unterredung gehabt habe. Sie liefen schleunigst nachzusehen, und was sie fanden – – –: Hinter dem Schuppen stand die »schwarze Suse«, mit einem Holzgerüst umkleidet, wie eine Dame in ihrer Krinoline, und auf dem Gerüst kletterten Paul und der Handwerker eifrig umher, klopften, guckten und schroben an den Nieten.

Verwundert schauten die Zwillinge einander an, denn sie ahnten, daß hier etwas Großes sich vorbereite, doch dem Vater Kunde zu bringen, hielten sie nicht für nötig; sie erinnerten sich, daß zwei kleine Briefchen, die sie geschrieben hatten, durch das Dienstmädchen eilig[166] und geheimnisvoll zum Postamte befördert werden mußten.

Paul aber stand hoch oben auf dem rundlichen Leibe der »schwarzen Suse«, an den schlanken Schlot gelehnt, und schaute sehnsuchtsvoll nach dem Moore hin, wie ein Kolumbus, der eine neue Welt entdecken will.

Der erste Schritt des kühnen Weges war getan. – In den langen, schlaflosen Nächten, die dem Tode der Mutter folgten, wenn der Schmerz mit ehernen Pranken seine Seele umklammerte, dann hatte er vor dem klagenden Bilde der Verblichenen sich in seine Bücher hineingeflüchtet. Wie ein Maulwurf grub er sich seine Wege durch die dunkeln Theorien, und wenn der Kopf ihm sauste, wenn der Leib ihm erschlaffen wollte von der aufreibenden Geistesarbeit, dann rief er sich zu: »Ihre letzte Hoffnung soll nicht zuschanden werden.« – Dann streckten sich seine Glieder, den Kopf durchfuhren Blitze der Energie, und weiter und weiter ging's in rastlosem Schaffen, bis der Wirrwarr des eisernen Rätsels sich in ein Spiel von Harmonie verwandelte, bis jeder Hebel ein Muskel, jede Röhre ein Äderchen ward, ersonnen nach weisestem Plane, wie der Menschenleib von dem Geiste des ewigen Schöpfers.

Wochen und Monde gingen darüber hin. So ganz vertiefte sich sein Sinn in Erkenntnisdurst und Schaffensdrang, daß alles, was ihn sonst bewegte, schattenhaft in die Ferne schwand. Das Bild der Mutter wurde stiller und friedlicher und begann zu lächeln; wie von unsichtbaren Geistern getragen, häufte die Ernte sich in der Scheuer, und als eines Tages das letzte Bündlein Hafer vor dem Schober abgeladen wurde, da schlug er sich mit der Hand vor den Kopf wie ein Träumender und sagte: »Mir ist's, als hätt' ich gestern nur die erste Ähre gesehen.«

Je mehr aber seine Erkenntnis sich ründete und reifte, desto höher schwoll in seiner Seele die Angst um das Gelingen. Als er nach einem Schlosser schrieb, hatte er ein Herzklopfen wie ein Kandidat vor dem Examen. Sein Tun scheute das Licht, als wär's ein Frevel, denn er fürchtete[167] das Ausgelachtwerden. Erst das Klopfen des tastenden Hammers rief die Kunde in die Welt.

Der fremde Meister mußte mit am Herrentische niedersitzen, und der Vater gab ihm seine Mißbilligung dadurch zu erkennen, daß er ihm den Gruß verweigerte und allerhand von Narren und Schmarotzern in den Teller hineinmurmelte.

Aber niemand kehrte sich daran, und die Arbeit nahm ruhig ihren Fortgang.

Nach Pauls Weisungen wurde die Maschine auseinandergenommen und bis in ihre kleinsten Teile hinein geprüft. Die Fehler, die ein Techniker vom Fach auf den ersten Blick erkannt haben würde, mußten diese beiden Männer erst mühsam suchen und einander klar machen. Oft gab es stundenlange Dispute zwischen ihnen wie in einer Ratsversammlung.

Einmal fragte der Meister ungeduldig: »Warum zum Teufel haben Sie das Ding in keine Reparaturwerkstatt geschickt?«

Paul erschrak. Freilich, das war ein Gedanke! Heute schien er ihm nagelneu, und doch war er ihm früher schon oft zu Sinn gekommen. Aber er hatte ihm niemals Raum geben mögen, er schien ihm zu keck, zu lächerlich – auch hatte er zu große Angst, daß man ihm die »schwarze Suse« als unverbesserlich zurückschicken werde. Es ging ihm wie jenem Weib aus dem Volke, das ihren Mann lieber selbst zu Tode kurieren wollte, als daß es sich von einem Arzte sagen ließe: »Er ist unrettbar.«

Wenn es dunkel geworden war und der Meister samt den Knechten Feierabend gemacht hatte, pflegte er noch ein Stündchen auf der Werkstätte herumzustöbern, ohne Zweck und Ziel eigentlich, nur weil er die »schwarze Suse« nicht verlassen wollte. Am liebsten hätte er bis zum Morgen als Nachtwächter neben ihr gestanden. Gerne mochte er hierbei eine Zeichnung oder ein paar seiner Bücher unter den Arm nehmen, ebenfalls ohne Zweck, denn es war ja finster – er wollte nur alles hübsch beieinander haben. Das geschah in der größten Heimlichkeit, denn niemand hatte eine festere[168] Überzeugung davon, daß Paul ein vollkommener Narr war, als Paul selber.

Eines Abends, als er im Dunkeln nach einem Buche kramte, das er mit hinunternehmen könnte, fiel ihn in dem hintersten Winkel seiner Schublade etwas Längliches, Rundes in die Hand, das fein in Seidenpapier gehüllt war.

Er fühlte in der Finsternis, wie er errötete. Es war Elsbeths Flöte. Wie war es nur möglich, daß er ihrer und der Geberin so selten gedacht hatte? Das Schattenreich seines Schmerzes hatte die lichte Gestalt verschlungen, die ihm an jenem dunkelsten der Tage zum letztenmal erschienen, nun war sie ihm über allem Sorgen und Mühen selber zum Schatten geworden. Im ersten Momente vermochte er kaum, sich ihre Züge vor die Seele zu rufen, erst allgemach erstand ihr Bild aufs neue in seinem Innern.

Er nahm die Flöte statt des Buches unter den Arm, schlich sich hinter den Schuppen und setzte sich auf den Dampfkessel. – Neugierig tastete er an den Klappen herum, er setzte auch das Mundstück an die Lippen, aber er wagte nicht einen Ton hervorzubringen, denn er wollte niemanden aus dem Schlafe stören.

»Es wäre wohl schön,« sagte er vor sich hin, »wenn ich allerhand liebliche Melodien blasen und dabei an Elsbeth denken könnte. Ich würde mich dann wieder einmal mit ihr aussprechen können und wissen, daß ich auch für mich selber auf der Welt bin! Aber bin ich denn für mich selber auf der Welt?« fragte er, indem er sinnend eine Kurbel erfaßte. »Wie diese Kurbel sich dreht und dreht, ohne zu wissen, warum? und für sich selber nichts ist wie ein totes Stück Eisen, so muß ich mich auch drehen und drehen und nicht fragen: warum? – – Es soll ja Menschen auf der Welt geben, die das Recht haben, für sich selber zu leben und die Welt nach ihren Wünschen zu bilden, aber die sind anders geartet wie ich, die sind schön und stolz und kühn, und um sie herum scheint immer die Sonne. Die dürfen sich auch die Freude erlauben, ein Herz zu haben und nach diesem Herzen zu handeln. Aber ich – ach, du lieber Gott!« Er hielt inne und besah in[169] trübseligem Sinnen die Flöte, deren Klappen in mattem Lichte durch die Dämmerung schimmerten.

»Wenn ich so einer wäre,« fuhr er nach einer Weile fort, »dann würde ich ein berühmter Musiker geworden sein – ich weiß wohl, da drinnen sind viele Melodien, die noch kein anderer gepfiffen hat – und wenn ich mein Ziel erreicht hätte, dann würde ich Elsbeth geheiratet haben – und Vater würde reich und Mutter glücklich geworden sein. Nun aber ist die Mutter gestorben – der Vater ein armer Krüppel – Elsbeth wird einen anderen nehmn – und ich seh' mir die Flöte an und kann sie nicht blasen.«

Er lachte laut auf, und dann rutschte er nach dem Vordergrunde hin, so daß er den Schornstein erreichen konnte. Er streichelte ihn und sagte: »Aber diese Flöte, die will ich spielen lernen, daß es 'ne Freude ist.«

Wie er so da saß, war's ihm, als hörte er vom Garten her halbunterdrücktes Kichern und Geflüster. Er lauschte. Kein Zweifel. Dort koste ein Liebespärchen oder gar mehr als eines, denn es tönten die verschiedensten Stimmen durcheinander wie aus einem Spatzenhäuflein.

»Die Mägde halten sich Liebhaber, wie mir scheint,« sagte er, »denen will ich den Weg weisen.«

Er holte sich eine Peitsche, die an der Stalltür hing, und kletterte leise über den hinteren Gartenzaun, um den fremden Katern den Weg zu verlegen.

Da plötzlich blieb er wie versteinert stehn, seine Augen quollen hervor, und der Peitschenstiel zitterte in seinen Händen. Er hatte die Stimmen der Schwestern erkannt.

Er lehnte sich an einen Baumstamm und lauschte.

»Läßt er euch jetzt in Ruh'?« fragte eben einer der Liebhaber im Flüsterton.

»Er hat jetzt zuviel mit seiner Maschine zu tun,« erwiderte die Stimme Gretens, »selbst seine ungesalzenen Predigten erspart er uns ...«

»Ihr habt euch doch nie viel daraus gemacht?«

Grete kicherte. »Er ist ja trotz seiner Würde doch bloß ein dummer Junge. Und von Liebe versteht er gar nichts.[170] Solange ich denken kann, schleicht er um die Elsbeth Douglas herum, aber glaubst du, daß er schon je gewagt hat, ein Auge zu ihr aufzuschlagen? Die wird sich natürlich schön bedanken, so 'nen Schmachtlappen zu nehmen – da ist ihr Vetter, der Leo, schon ein ganz andrer Kerl.«

Das Herz drohte ihm stille zu stehen, doch er lauschte weiter.

»Ich begreif' nicht, warum ihr ihm überhaupt pariert,« sagte die Stimme des Liebhabers, »wir haben ihn stets durchgehauen und dann laufen lassen, und zum Dank dafür hat er uns um Verzeihung gebeten. So 'nem Hans Hasenfuß muß man einfach die Zähne zeigen.«

»Na warte, du Aufhetzer!« dachte Paul, der nun wußte, wen er vor sich hatte.

Grete aber erwiderte eifrig: »Pfui du, das hat er nicht um uns verdient. Er liebt uns so sehr, daß wir uns eigentlich schämen müßten, ihn zu betrügen; was er uns an den Augen absehen kann, schenkt er uns, und ich möchte darauf schwören, daß er nur aus lauter Liebe immer so traurig ist. Da läßt man sich hin und wieder eine Moralpredigt schon gefallen, besonders, wenn man sich hinterher doch nicht daran kehrt.«

»Gut, daß ich das weiß,« dachte Paul und schlich sich im Halbkreise um sie herum, bis er zu der Laube kam, in der das andere Pärchen hauste.

Dort ging es bedeutend stiller zu, nur von Zeit zu Zeit tönte ein Kuß oder ein Kichern aus dem Blätterdunkel. Dann hörte er Käthens Stimme: »Und warum hast du jüngsten Sonntag soviel mit Mathilden getanzt?«

»Das ist eine scheußliche Verleumdung,« erwiderte der andre der Brüder. »Welches Lästermaul hat dir das zugetragen?«

»Pfarrers Hedwig hat's mir erzählt!«

»Das ist mir auch die Rechte – neidisch ist sie auf dich, das ist die ganze Geschichte. Wie sie mich letzten Sonntag angeschaut hat – ich glaubte, mein Haar müßt' ansengen.«[171]

»Ah, die Falsche!«

»Na, gräm dich nicht drum! Falsch seid ihr alle! Meine kleine, süße Lerche, mein Sonnenschein, mein Strudelkopf – leg den Kopf auf meinen Schoß, – ich will dich zausen.«

»So?«

»Nein, du liegst auf meiner Uhrkette! So ist's recht! – Sing mir was!«

»Wovon soll ich singen?«

»Von Liebe!«

»Erst verdien's dir – du Strolch!«

Darauf wurde es für eine Weile still, dann begann Käthe leise zu trällern:


»Im Flieder sang die Nachtigall

Bis morgens um halb drei,

Da sprang mit einem leisen Schall

Mein Fensterlein entzwei. – –


Ich lief, das Unglück zu besehn,

Des Morgens um halb drei,

Da fand ich eine Leiter stehn

Und einen Mann dabei – lalala!«


»Sing doch weiter!«

»Ach nein! Eigentlich ist es unanständig.«

»Warum fingst es denn an?«

Sie kicherte und schwieg.

»Sing was Andres!«

»Bevor ich singe, gib mir 'nen Kuß!«

Ein kurzes Ringen, dann seine Stimme: »Was, erst willst du und dann sträubst du dich, du Katze?«

»Hier bin ich!«

»Laß los! – Donner – du kratzt!«

»Nimmst du 'ne andere, kratz' ich dir die Augen aus!«

»Weiter nichts?«

»Nein, ich leg' mich untern Wacholderbusch und hungere mich tot. Zu meinem Begräbnis mußt du auch kommen. Hu! das wird schön werden! – Paß mal aber auf, ich kenn 'nen schönen Vers:
[172]

Weißt du, wie lieb ich dich hab'? – –

Es steht auf der Heide ein einsames Grab,

Drin schläft ein toter Sängersmann,

Dem hat's die Liebe angetan.


Er schläft und schläft im dunkeln Haus

Und schläft seine Liebe doch nimmer aus.

Beim Heidegrab um Mitternacht

Da warte, bis er aufgewacht.


Der kennt das Singen, der kennt das Küssen,

Der wird es wissen. – – –


Ist das nicht hübsch?«

»Sehr hübsch! Von wem hast du das, Katze?«

»Ich fand's einmal in einem Arienbuch, das der Mutter gehörte! Ich glaub' gar, sie hat's selber gemacht.«

Paul hatte während dieses ganzen Gesprächs in qualvoller Betäubung dagestanden, doch als er den Namen der Mutter vernahm, da übermannte ihn der Zorn, und er schlug mit seiner Peitsche über die Köpfe des Pärchens dahin, daß die welkenden Blätter der Laube laut raschelnd umherstoben.

Mit lautem Aufschrei fuhren sie alle empor. – Kaum hatten die Brüder ihn erkannt, als sie Miene machten, auf und davon zu gehen, aber die Mädchen klammerten sich wimmernd an sie an. Sie suchten Schutz vor dem eigenen Bruder.

»Hierher!« rief er ihnen zu. – Da ließen sie von ihren Geliebten ab und flohen zueinander, um sich gegenseitig zu decken.

Die beiden Erdmanns wichen immer weiter zurück.

»Ihr bleibt hier!« schrie er.

»Was willst du von uns?« sagte der Ältere, der seine Frechheit zuerst wiedergewann.

»Rede sollt ihr mir stehen.«

»Du weißt ja, wo wir zu finden sind,« sagte der Jüngere und zupfte seinen Bruder am Rockschoß, daß er mit ihm Reißaus nähme. Aber in diesem Augenblick hatte ihn Paul an der Brust gepackt ...[173]

»Laß los!« rief er.

»Ihr kommt mit ins Haus.«

»O nein, lieber nicht,« sagte der Ältere.

»Ich weiß gar nicht, was du von uns willst,« sagte der Jüngere, dem unter dem eisernen Griff von Pauls Fäusten nicht wenig bange ward. »Wir lieben deine Schwestern – mit dir haben wir nichts zu tun.«

»Und wenn ihr sie liebt, wißt ihr denn nicht, wo die Tür ist, durch die ihr kommen konntet, um sie zu werben? Ihr Räuber, die ihr seid!«

In diesem Augenblick hatte Ulrich den Bruder aus Pauls Fäusten gerissen, und ehe er zur Besinnung kommen konnte, flohen sie beide in wilder Hetze durch den Garten, sprangen über den Zaun und verschwanden in dem Dunkel der Heide.

Ganz betäubt wandte er sich um und sah die Schwestern hinter einem Baumstamm kauern.

»Kommt!« sagte er, nach dem Hause hinweisend, und schluchzend folgten sie ihm.

Als sie in ihre Kammer schlüpfen wollten, sagte er, die Tür des Wohnzimmers öffnend: »Hier hinein!« Zitternd duckten sie sich in einen Winkel, denn sie wußten nicht, welche Strafe er ihnen zudiktieren würde.

Er zündete selbst ein Licht an, ergriff das Familienalbum und nahm ein Bild heraus.

»Jetzt kommt in die Kammer.« – Zwei reuige Schäfchen, schlichen sie hinter ihm drein.

»Wer ist das?« fragte er in seinem strengsten Tone, auf das Bild hinweisend. Es war ein Jugendporträt der Mutter, fast ganz verlöscht von der Länge der Jahre. Aber sie erkannten es wohl, fielen händeringend vor dem Bette auf die Knie und schluchzten gottsjämmerlich in die Kissen hinein ...

Und dann gestanden sie ihm alles. Es war schlimmer, als er je geahnt hätte. – – – – – –

Ein fürchterliches Schweigen entstand. Paul trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus.

»Gott sei Dank, daß du tot bist, Mutter,« sagte er, die Hände faltend.[174]

Da weinten sie laut auf, rutschten auf den Knien zu ihm hin und wollten ihm die Hände küssen. – Er streichelte ihre Haare. Er liebte sie viel zu sehr.

»Kinder, Kinder!« sagte er und sank auf einem Stuhle zusammen, nicht minder hilflos als sie. – –

»Schilt uns, Paul,« schluchzte Käthe.

»Nein, schlag uns lieber,« bat Grete, »wir haben es verdient.«

Er rieb sich die Stirn. Ihm war noch alles wie ein böser Traum. – –

»Wie hat das nur geschehen können?« murmelte er. »Hab' ich so schlecht auf euch aufgepaßt?«

»Sie haben – gesagt, sie – wollten uns – heiraten!« preßte Käthe hervor.

»Wenn's Trauerjahr – vorüber ist, soll Hochzeit sein,« fügte Grete hinzu.

»Und haben sie das gesagt, so werden sie's auch!« rief er, sich selber Trost zuredend. – »Kniet nicht, Kinder, kniet vor dem lieben Gott, ihr habt's nötig. – Dies Bild wird von heute ab allnächtlich auf eurem Nachttisch stehen. – Ob ihr dann noch den Mut haben werdet, auf dem Wege der Schande zu gehen? Gute Nacht.«

Sie stürzten ihm nach und flehten ihn an, er möchte bei ihnen bleiben, sie hätten solche Furcht; aber er machte sich leise von ihnen los und schritt in seine Giebelstube empor, wo er im Dunklen vor sich hin brütete. Er schämte sich so sehr, daß er glaubte, das Tageslicht nicht wieder ertragen zu können ...

Am andern Morgen ließ er den Meister rufen und lohnte ihn aus.

Der wackere Mann sah ihm ganz erschrocken ins Gesicht. »Aber jetzt, Herr Meyhöfer, da alles im besten Zuge ist?« sagte er.

»Ja, im besten Zuge,« murmelte er nachdenklich vor sich hin. Zum Unglück die Schande – der Meister hatte Recht.

»Es ist etwas in die Quere gekommen,« sagte er dann, »was mir die Lust am Arbeiten verleidet. – Lassen wir's[175] vorläufig, und wenn es Zeit ist, werd' ich Sie wieder abholen.«

Der Vater beklagte sich bitter über die nächtliche Störung. »Was hattest du denn im Garten 'rumzutoben?« fragte er, »ich hörte deine Stimme!«

»Es waren Apfeldiebe da,« erwiderte Paul.

Die Zwillinge hatten verweinte Augen und wagten nicht, die Blicke vom Boden zu erheben.

»So also sehen zwei Gefallene aus,« dachte Paul und gab sich das Versprechen, streng wie ein Gefangenenwärter zu ihnen zu sein. Aber als er sie zum erstenmal anherrschte und sie ihm von unten herauf mit schmerzlich demütigen Blicken so recht magdalenenhaft in die Augen schauten, da wandelte ihn ein großes Mitleid an, so daß er sie weinend in seine Arme schloß und sagte: »Seid stille, Kinder, 's wird alles gut werden.«

Er hegte die Überzeugung, daß die beiden Erdmanns den Tag nicht vorübergehen lassen würden, ohne auf dem Heidehof vorzusprechen. »Ihr Gewissen wird sie treiben,« sagte er sich. So fest baute er darauf, daß er nach dem Mittagessen den Vater, der in seiner Trägheit ein rechter Schmierfink geworden war, dringend aufforderte, sich einen neuen Rock anzuziehen, da wichtiger Besuch zu erwarten sei. Der Vater fügte sich mürrisch und war hernach doppelt ungehalten, als er fand, daß die große Arbeit umsonst gewesen war.

»Sie werden morgen kommen,« sagte sich Paul beim Schlafengehen, »sie haben heute die Courage nicht gehabt.«

Aber auch der folgende Tag verging, ohne daß jemand sich gemeldet hätte, und so verging die ganze Woche.

Paul rannte wie verstört im Haus umher. Alle zehn Minuten sah man ihn am Hoftor stehen und auf die Heide hinausschauen, so daß die Knechte einander heimlich in die Hüften stießen und Allotria begannen ...

»Es ist schade,« sagte er sich, »daß ich noch so unschuldig bin und in Liebessachen nicht die mindeste Erfahrung habe, sonst würde ich schon wissen, was mir obliegt.«[176] Eine qualvolle Angst begann seiner Herr zu werden, und schlaflos wälzte er sich auf seinem Lager.

»Ich muß ihnen die Sache erleichtern,« sagte er eines Morgens, ließ das gelbe Korbwägelchen anspannen, das er unlängst auf einer Auktion erstanden, und fuhr nach Lotkeim, dem Gut der Erdmanns, hinüber, das sie seit dem Tode ihrer Eltern gemeinsam bewirtschafteten.

Das Herz krampfte sich ihm zusammen in Scham und Ingrimm, als er nun gleich wie ein Bittender das Heimwesen derer betrat, die ihm im Leben schon so viel Böses bereitet hatten. Viel fehlte nicht, so wäre er hinter dem Tor noch einmal umgedreht, aber seine Faust griff fester in die Zügel, und seine Lippen murmelten: »Auf dich kommt es nicht an.«

Er fuhr über den grünbewachsenen Hof, auf dem stellenweise hohes Dornengesträuch wucherte und der von weitläufigen, aber stark verwilderten Wirtschaftsgebäuden umgeben war, und hielt vor dem Wohnhaus, dessen Fensterläden schwarzweiße Ringe trugen, wahrscheinlich, weil sie zeitweise als Schießscheiben benutzt wurden.

»Eine Ehre ist es nicht, seine Schwestern hierher zu verheiraten, aber viel Ehre können sie auch nicht mehr verlangen,« dachte er, indem er das Pferd an das Treppengeländer band, denn keine Menschenseele war zu sehen, die ihm den Zügel hätte abnehmen können, nur aus einer fernen Scheune klang der Viertakt der Dreschflegel.

In demselben Augenblick, da er den Hausflur betrat, war es ihm, als hörte er ein leises Stimmengewirr und das Auf- und Zuschlagen der Hintertüren. Dann ward es plötzlich still.

Er betrat ein Wohnzimmer, in dem die Reste eines Frühstücks auf dem Tische standen und das noch von Zigarrenqualm erfüllt war. Eine Weile stand er wartend. Dann schob sich eine alte, dürre Frauensperson mit verlegenem Grinsen durch die Tür des Nebenzimmers.

»Die Herrens sind nicht zu Hause,« sagte sie, ohne seine Frage abzuwarten, »sie sind frühmorgens weg gefahren und werden so bald nicht wiederkommen.«[177]

»Tut nichts, ich werde warten!«

Die Alte erhob ein großes Geschwätz, das Warten sei vollkommen unnütz, ihre Heimkunft ließe sich nie im voraus bestimmen, sie blieben oft die ganze Nacht auswärts und dergleichen mehr. Währenddessen glaubte er zu vernehmen, daß ein Wagen im raschesten Tempo vom Hof herunterrasselte. Erschrocken sprang er auf und trat ans Fenster, denn er glaubte, sein Pferd sei durchgegangen; als er es aber ruhig an der Stelle fand, an der er es gelassen, stieg ein Verdacht in ihm auf, ein Verdacht, den er noch eine Minute vorher entrüstet zurückgewiesen hätte.

Die alte Haushälterin wagte nicht, ihm die Tür zu weisen, und unbehelligt, freilich auch ohne Speis' und Trank, saß er wartend auf seinem Platz bis zum Abend. – Als es finster geworden war, trat er mutlos und gedemütigt den Rückweg an.

Am andern Morgen kam er wieder – auch jetzt vergebens. Am dritten Tage fand er das Hoftor fest verriegelt. Ein nagelneues Schloß hing in den Haspen. Es schien eigens für ihn angeschafft.

Da konnte er keinen Zweifel mehr hegen, daß die Brüder ihm absichtlich aus dem Wege gingen. »Sie scheuen sich, mir ins Auge zu sehen,« sagte er sich, »ich will ihnen schreiben.«

Aber als er die Feder ansetzte, um ihr freundliche, versöhnliche Worte abzupressen, da überkam ihn ein solcher Ekel über sein würdeloses Tun, daß er sie auf der Tischplatte zerstampfte und stöhnend im Zimmer umherlief.

»Ich muß erst Kraft schöpfen gehen,« sagte er und schlich lautlos zu der Kammer der Mädchen. Die saßen am Fenster, sprachen kein Wort und starrten mit blassen Gesichtern in die Weite – dann ließ die eine das Köpfchen gegen die Schulter der anderen sinken und sagte leise und traurig: »Sie werden nicht mehr kommen!«

»Sie haben Angst vor ihm,« seufzte die Schwester.

Und darauf sanken sie wieder in ihr Brüten zurück.

»So,« sagte er, tiefaufatmend, dieweil er in sein Zimmer zurückschlich, »ich wußte ja, daß dies helfen würde.«[178] Darauf nahm er einen neuen Bogen und schrieb einen schönen Brief, worin er den Brüdern auseinandersetzte, daß er ihnen nicht mehr zürne, daß er ihnen alles verzeihen wolle, wenn sie den Schwestern die verlorene Ehre wiedergäben.

»Morgen werden sie da sein,« sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung, als er das Schreiben in den Briefkasten warf. – Den Rest des Tages irrte er auf der Heide umher, denn er wagte keinem Menschen ins Angesicht zu sehen, so schämte er sich. –

Aber die Erdmänner kamen nicht. – – – – – – – – –

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Es war am Weihnachtsabend kurz vor dem Dunkelwerden. Tief eingeschneit lag die Heide, und von dem grauen Himmel rieselten neue Flockenmassen, da sah Paul, wie die Schwestern heimlich Hut und Mantel nahmen und zur Hintertür entwischen wollten.

Er eilte ihnen nach und fragte: »Wohin?«

Da fingen sie zu weinen an, und Käthe sagte: »Bitte, bitte, frag uns nicht.« Er aber fühlte eine unheimliche Angst in sich erwachen, und sie an den Armen ergreifend, sagte er: »Ich bleibe hinter euch, wenn ihr mir nicht gesteht.«

Da preßte Grete schluchzend hervor: »Wir gehen zu Mutters Grab.«

Ein Grauen überlief ihn, daß sie – so die heilige Stätte betreten sollten, aber er hütete sich wohl, es ihnen zu zeigen. »Nein, Kinder,« sagte er, ihre Wangen streichelnd, »das duld' ich nicht, es würde euch zu sehr erregen, auch liegt der Schnee sehr tief auf der Heide, und es wird gleich dunkel werden.«

»Aber einer muß doch draußen gewesen sein,« sagte Käthe schüchtern, »heute zum Weihnachtsabend.«

»Du hast Recht, Schwester,« erwiderte er, »ich werde selber gehen. Bleibt ihr beim Vater und zündet ihm ein paar Lichter an. So Gott will, bring' ich euch Trost mit heim.«

Sie ließen sich zureden und gingen ins Haus zu rück.[179] – Er aber zog sich einen warmen Rock an, setzte sich die Mütze auf und schritt in die Dämmerung hinaus.

»Schließt ihr heute die Tore zu,« sagte er, bevor er den Hof verließ, denn er hatte eine dumpfe Ahnung, daß er erst spät in der Nacht heimkehren würde. Und wenn er sich im Schneegestöber umhertriebe – –

Lautlos lag die weiße Heide ... Tief im Schoße des Schnees ruhten die welken Blumen, und wo sonst ein Wacholderbusch gestanden, erhob sich nun ein weißes Häuflein, anzuschauen wie ein Maulwurfshügel. Selbst die Stämme der Krüppelweiden trugen eine weiße Decke, doch nur an der Seite, von welcher her der Wind sie angeweht hatte.

Mühsam schritt er auf der eingeschneiten Heide dahin, bei jedem Tritte bis über die Knöchel versinkend. In den Lüften zog hie und da mit dumpfem Flügelschlage eine Krähe, schwer gegen das Schneegestöber ankämpfend.

Kein Weg, kein Steg war zu sehen ... Die einsamen drei Fichten, die in der Ferne wie schwarze Phantome gen Himmel ragten, waren das einzige Zeichen, nach dem sein Fuß sich richten konnte.

Der goldgelbe Streif, der für wenige Momente am Rande des Horizonts aufgeflammt war, erlosch; tiefer sanken die Schatten, und als Paul den Wall des Kirchhofs erreicht hatte, der wie eine gespenstische Mauer sich vor ihm auftürmte, war es vollends dunkel geworden, doch verbreitete der frisch gefallene Schnee einen ungewissen Dämmerschein, so daß er das Grab der Mutter alsbald zu finden hoffte. –

Die Pforte war verschneit, verweht; nirgends ein Eingang zu entdecken.

So tastete er denn mühsam an der Hecke entlang, von der hie und da ein schwärzliches Ästlein seine dornigen Spitzen aus der weißen Hülle hervorstreckte, bis sein Arm tiefer in den Schnee hineinsank, ohne Widerstand zu finden.

Dort wühlte er sich einen Weg in das Innere hinein.

Mit dumpfem Rauschen grüßten die Fichten zu ihm hernieder, und ein Rabe, der im Schnee gehockt hatte, flog[180] schwirrend auf und umkreiste ruhelos die Kronen, wie eine arme Seele, die keinen Frieden findet.

Als er die eingeschneite Fläche in ihrem bleichen Einerlei vor seinen Blicken liegen sah, durchfuhr ihn ein Schreck, denn er sah kein Zeichen, an dem er das Grab der Mutter entdecken konnte. Ein Kreuz stand nicht an dem Hügel, denn er hatte noch kein Geld gehabt, eines anzuschaffen, der Hügel selbst aber lag tief in dem alles ebnenden Schneegefilde.

Eine quälende Angst erfaßte ihn. Ihm war zumute, als hätte er nun auch das letzte verloren, was er auf der Welt besaß.

Und mit zitternden Händen begann er den Schnee aufzuwühlen, von einem Hügel zum andern – ein langer Pfad, aus dem hie und da die Ecke eines Grabes, ein Kranz oder ein Lebensbäumchen in der Dämmerung zum Vorschein kam.

»Hier schläft,« dieser, »hier schläft« jener – er wußte fast von jedem Grab, wer darunter die Ruhestatt gefunden hatte.

Und endlich ritzte sich seine wühlende Hand an einem Glasscherben, der aus der Tiefe emportauchte ... Er hielt inne und tastete vorsichtig in der Runde ... Der Scherben war wohl der, den Grete im Frühherbst hinausgetragen hatte, um Astern darein zu setzen; ein grüner Flaschenscherben mit scharfen, spitzen Kanten – ja, er war's. Noch staken die welken Stengel darin. Und daneben der Kranz, der Erikakranz, der steifgefroren wie ein steinerner Ring zum Vorschein kam, den hatte er selbst hierher gelegt, als er zum letztenmal draußen gewesen war.

Wie er nun das Häuflein Schnee, das sein Teuerstes barg, so weiß und ruhig daliegen sah, fiel er auf die Knie und drückte sein glühendes Gesicht in den kühlen, weichen Flockenschaum.

»Ich bin an allem schuld, Mutter,« klagte er, »ich hab' nicht auf sie acht gegeben, ich hab' sie verwildern lassen. Richte sie nicht, Mutter, sie wußten nicht, was sie taten! ... Aber ich flehe zu dir, Mutter, laß du mich[181] wissen, wie ich handeln soll! ... Sende mir ein einziges Wort übers Grab zurück, ... sieh, ich knie hier und weiß nicht ein noch aus.«

Und dann war's ihm plötzlich, als hätte auch er nicht das Recht, an dieser Stätte zu liegen, als wäre auf ihn die Schande abgewälzt, die die Schwestern betroffen hatte. Er schalt sich feige, selbstsüchtig und faul, daß er so lange untätig geblieben war, ohne ein Äußerstes zu wagen.

»Ich will's tun, Mutter, noch diese Nacht,« rief er aufspringend. »Auf mich soll's nicht ankommen, mein letztes Restchen Stolz will ich daran geben, wenn nur die Schwestern gerettet werden.« – Er schwor es mit erhobenen Armen, und dann eilte er auf die Heide hinaus – – – – – –

Wohl drei Stunden lang jagte er auf den eingeschneiten Wegen dahin. Acht Uhr mochte es sein, als er müde und atemlos vor dem Hoftor von Lotkeim halt machte.

»Heute sollen sie nicht entwischen,« sagte er, und da er das Tor wiederum verschlossen fand, so kroch er auf dem Bauche unter den Staketen hindurch – wie er es sonst bei Hunden gesehen hatte.

Die Fenster des Herrenhauses waren hell erleuchtet, aber hinter den herabgelassenen Vorhängen ließ sich von dem Innern nichts erkennen; nur abgerissener Gesang und kurzes Gelächter drangen ins Freie.

Die Haustür stand offen. In dem dunklen Flur hielt er für einen Augenblick inne, um sein Herzpochen zu beschwichtigen, dann klopfte er.

Ulrichs Stimme rief: »Herein!«

Da lagen die beiden Brüder ausgestreckt auf dem langen Sofa, die Füße des einen neben dem Kopf des andern, ein Bild vollkommenster Gewissensruhe und Seelenheiterkeit. Jeder von ihnen balancierte ein großes Grogglas in der hohlen Hand, und vor ihnen auf dem Tisch stand eine dampfende Punschterrine.

Bei seinem Anblick waren sie so erschrocken, daß sie das Aufstehen vergaßen. Ganz versteinert blieben sie liegen und starrten ihn an.[182]

»Nanu!« rief Ulrich, der zuerst die Sprache wiederbekam, und Fritz ließ sein Glas klirrend zu Boden fallen. Darauf bückte er sich und sammelte mit großem Eifer die Scherben.

»Ihr könnt euch wohl denken, warum ich komme,« sagte Paul, in seinen beschneiten Kleidern langsam vor den Tisch hintretend.

»Nein,« sagte Ulrich, der sich langsam aufrichtete.

»Keine Ahnung,« bestätigte Fritz, der sich wohlweislich hinter den Rücken des Bruders zurückzog.

»Ihr habt meinen Brief doch wohl erhalten?« fragte Paul.

»Wir wissen von keinem Brief,« erwiderte der Ältere, ihm frech ins Auge schauend.

»Er wird wohl auf der Post verlorengegangen sein,« fügte der Jüngere eilends hinzu.

»Besinnt euch nur. Es war am 16. November,« sagte Paul.

Da erinnerten sie sich dunkel, daß ein Brief an sie abgeliefert worden war.

»Aber wir konnten aus ihm nicht klug werden und haben ihn ins Feuer geworfen,« sagte Ulrich.

»Laßt die Winkelzüge,« erwiderte Paul. »Ihr wißt ganz gut, was ihr zu tun habt.«

Sie zuckten die Achseln und sahen sich an, als ob er spanisch redete.

»Ich bin nicht gekommen, mit euch Komödie zu spielen,« fuhr Paul fort, »ihr habt meinen Schwestern die Ehre genommen und müßt sie ihnen wiedergeben.«

Ulrich kratzte sich den Kopf und sagte: »Lieber Meyhöfer, das ist 'ne böse Geschichte – und so mir nichts, dir nichts läßt sich die nicht behandeln. – Setz dich mal hin und trink ein Glas Punsch mit uns – dabei werden wir rascher zum Ziele kommen.«

»Ja, rasch und gemütlich,« fügte Fritz hinzu, indem er aufstand, zwei neue Gläser herbeizuholen.

»Ich danke,« sagte Paul, »ich habe keinen Durst.« In ihm bohrte ein dumpfes Gefühl, als ob die Brüder[183] ihn, wie sein Leben lang, auch jetzt mit Hohn überschütteten.

Um seine Glieder legte es sich wie eiserne Klammem. Ganz schlaff, ganz wehrlos erschien er sich nun.

»Ja, wenn du uns so kommst,« erwiderte Ulrich, scheinbar gekränkt, »dann reden wir gar nicht mit dir. Ich habe keine Lust, mir den Weihnachtsabend zu verderben.«

»Und den Punsch kalt werden zu lassen,« fügte Fritz hinzu.

Paul maß mit starrem Blick bald den einen, bald den andern. Wie war es möglich, daß die, welche schwere Schuld auf sich geladen hatten, stolz und übermütig vor ihm standen, während er, der nur sein gutes Recht begehrte, zitterte und bebte wie ein Verbrecher?

»Und wenn du ohne Trost heimkehrst?« schrie eine angstvolle Stimme in ihm. – »Erzürne sie nicht – denk daran, was du der Mutter geschworen hast! Auf dich selbst darf es nicht ankommen.«

»Na – trinkst du nun oder trinkst du nicht?« rief Ulrich ärgerlich.

»Auf dich selbst darf es nicht ankommen!« rief die Stimme wieder, da senkte er den Kopf und sagte mit heiserer Stimme: »Also – bitt' schön.«

Die beiden Brüder warfen einander einen lächelnden Blick zu, und Fritz hob das Glas und sagte: »Prost Fest!«

»Prost Fest!« stammelte er und würgte das heiße Getränk hinunter, wiewohl der Ekel ihm bis zur Kehle schwoll.

Nun saß er wie ein guter Kumpan mit den beiden Brüdern an einem Tische, er, der als Rächer hätte kommen müssen.

»Also, um die Geschichte zu beendigen, lieber Meyhöfer,« begann Ulrich aufs neue. »Was geschehen ist, ist geschehen und läßt sich nicht mehr ändern. Ich will hier nicht mehr untersuchen, wer den andern mehr nachgelaufen ist, wir deinen Schwestern oder deine Schwestern uns, jedenfalls haben sie ebensoviel Schuld wie wir! Wir[184] lieben sie von ganzem Herzen, sie sind die niedlichsten Mädchen in der ganzen Gegend, und es tut uns aufrichtig leid, wenn wir denken, daß wir sie verloren haben, aber – – daß wir sie nun heiraten sollen, das wirst du doch nicht verlangen.«

Paul warf ihm einen scheuen Blick zu und sagte kleinlaut: »Das ist das mindeste, was ...,« weiter kam er nicht, ihm war, als stockte das Blut in seinen Adern.

»Sei nicht komisch,« meinte Fritz, und Ulrich fuhr fort: »Sieh mal, wir würden es ja auch tun, wir halten große Stücke von ihnen, obwohl sie sich viel vergeben haben« – in Pauls Hirn zuckte es, aber er bezwang sich –, »wir würden dir auf der Stelle zu Willen sein, aber zuerst sag uns mal, was gibst du ihnen mit?«

»Ich habe – nichts,« stammelte Paul.

»Siehst du wohl,« erwiderte Fritz.

»Und wir brauchen Geld – viel Geld,« fuhr Ulrich fort. »Ich bin der Ältere, und wenn ich das Gut für mich allein übernehme, muß ich dem Fritz so viel auszahlen, daß er sich ein eigenes kaufen kann.«

»Ich – will – arbeiten,« preßte Paul hervor und schaute in demütiger Bitte zu den Brüdern hinüber.

»Du hast schon zehn Jahre gearbeitet und hast nichts hinter dich gebracht.«

»Der Brand ist dazwischen gekommen,« stammelte Paul, als ob er um Entschuldigung bäte für das Unglück, das ihn betroffen hatte.

»Und nächstes Jahr kommt was Andres dazwischen. Nein, lieber Freund, darauf können wir uns nicht einlassen.«

Die Angst, daß er ohne Trost zu den Schwestern würde heimkehren müssen, schwoll höher und höher in seiner Seele. So sehr übermannte sie ihn, daß seine Zunge sich löste, und er rief: »Aber mein Gott, so nehmt doch Vernunft an! ... Ich kann doch nicht mehr wie arbeiten ... Arbeiten will ich wie ein Stück Vieh ... arbeiten Tag und Nacht ... ich will sparen und will hungern, und alles, was ich erwerbe, soll euch gehören ... Seht mal ...[185] ich habe wirklich schöne Aussichten ... die Lokomobile wird bald in Ordnung sein ... und das Moor ist sehr einträglich ... fünfzehn Fuß geht's in die Tiefe ... wirklich, ihr könnt messen! ... Das Fuder Torf bringt zehn Mark ... und eure Mitgift soll euch jährlich in Teilzahlungen auf Heller und Pfennig zugeschickt werden.«

Er sah ihnen mit aufgerissenen Augen ins Gesicht, denn er erwartete, daß sie jetzt sofort zugreifen würden. Und als sie schwiegen, strich er sich ganz fassungslos mit der Hand über die Stirn, von der der kalte Schweiß herniederlief, und murmelte: »Ja – was kann ich denn noch? ... Richtig – noch mehr will ich tun: ... Ich will mir den Hof vom Vater übergeben lassen und ihn dann euch zuschreiben, so daß wenn der Vater – stirbt, einer von euch Herr darauf wird ... Ich will ausziehen und nicht mehr wie Schwarz unterm Nagel mit mir tragen. – Ist euch das nun genug?«

Aber sie schwiegen.

Da ward ihm zumute, als ginge alles unter, woran sein Glaube sich sonst festgehalten, als wiche der Boden unter seinen Füßen, als würde er selbst ins Leere hinausgeschleudert. Er faltete die Hände – seine Zähen klapperten – und wie entgeistert starrte er sie an. – »Ist es denn möglich? Ihr wollt nicht? Wollt wirklich nicht? – Faßt ihr denn gar nicht, daß es eure Pflicht und Schuldigkeit ist gutzumachen, was ihr gesündigt habt? ... Sagt euch euer Ehrgefühl nicht, daß ihr andere nicht ehrlos machen dürft? ... Läßt euch euer Gewissen denn schlafen? ...«

»Höre auf,« sagte Ulrich, dem ein Gefühl des Unbehagens fröstelnd über den Nacken lief.

»Nein, ich höre nicht auf! Ich kann nicht so nach Hause gehen ... Wirklich, ich kann nicht! ... Habt ihr denn gar keine Ahnung, was ihr angerichtet habt ..., welch ein Elend bei mir zu Hause herrscht?« Und er schauderte zusammen in der Erinnerung an das, was er zurückgelassen hatte. – »Wenn ihr das wüßtet, ihr würdet so hart nicht sein! ... Seht, Fritz und Ulrich ... ich kenn'[186] euch nun schon lange Zeit ... wir haben schon zusammen auf der Schulbank gesessen ... und sind zusammen ... vor den Altar getreten ... Ihr habt mir schon immer übel gewollt, und ich hab' viel von euch zu erdulden gehabt, aber ... ich will alles vergessen, wenn ihr nur das eine gut macht. Ihr seid leichtsinnig, aber schlecht seid ihr nicht ... ihr könnt es ja nicht sein ... ihr habt ja auch eine Mutter gehabt ... ich hab' sie gesehen ... sie hat bei der Einsegnung am dritten Pfeiler links gestanden und hat ... geweint, wie meine Mutter weinte. – Und meine Mutter – pfui doch,« unterbrach er sich, denn ihn überwältigte die Scham, daß er den Namen der Verklärten vor diesen Verführern in den Mund genommen hatte, aber seine Angst, ohne Trost heimkehren zu müssen, steigerte sich bis zum Wahnwitz, er schluckte auch das hinunter, und von neuem fing er an, während seine Gedanken schon irr durcheinander schossen: »Denkt euch mal, ihr geht jetzt 'raus zum Kirchhof ... und habt Schwestern ... die sind verführt ... und ihr, habt nicht gut achtgegeben auf die Schwestern ... und ihr wagt nicht, den Schnee zu berühren, der auf dem Grabe liegt ... und ich bin der Verführer ... was ... was würdet ihr tun?«

»Totschlagen würden wir dich,« sagte Ulrich, ihm einen verächtlichen Blick zuwerfend.

Er stieß einen gellenden Schrei aus, denn jetzt kam das Bewußtsein, wie tief er sich erniedrigt, wie er seinen Stolz, seine Ehre im Kot gewälzt hatte, mit ganzer Gewalt über ihn ... Mit geballten Fäusten stürzte er auf Ulrich los. Der aber verschanzte sich hinter dem Tisch, und Fritz lief nach dem Nebenzimmer, um das Gesinde herbeizurufen.

Da taumelte er hinaus.

Das Hoftor war geschlossen wie vorhin. – Er wagte nicht zurückzukehren, um es öffnen zu lassen, und auf dem Bauche kroch er hinaus – wie ein Hund. – –

Wie ein Hund! – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 1, Stuttgart und Berlin 1923, S. 165-187.
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