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[50] Als Paul vierzehn Jahre alt war, beschloß sein Vater, ihm zum Konfirmandenunterricht zu schicken.

»Etwas Rechtschaffenes wird er in der Schule doch nicht lernen,« sagte er, »Zeit und Geld sind bei ihm weggeworfen. Daher soll er rasch eingesegnet werden, damit er sich in der Wirtschaft nützlich machen kann. Was Besseres als ein Bauer wird sowieso nicht aus ihm werden.«

Paul war's zufrieden, denn ihn verlangte danach, einen Teil der Sorgen, die die Mutter drückten, auf seine Schultern zu nehmen. Er gedachte eine Art von Inspektor aus sich zu machen, der den fehlenden Herrn zu jeder Zeit ersetzte und selber Hand anlegte, wo die Knechte ein gutes Beispiel brauchten. Er versprach sich von seiner Tätigkeit den Beginn einer neuen, segensreichen Zeit, und wenn er nachts im Bette lag, träumte er von wogenden Weizenfeldern und blitzblanken, massiven Scheuern. Immer mehr festigte sich in ihm der Entschluß, all seine Kraft daran zu wenden, um den verlotterten Heidehof zu Ehren zu bringen. Die Brüder sollten einst von ihm sagen können: »Er ist doch zu etwas nütze gewesen, wenn er uns auch auf unseren glänzenden Bahnen nicht hat folgen können.«

Ja, die Brüder! Wie groß und wie vornehm waren die inzwischen geworden! Der eine studierte Philologie, und der andere war als Lehrling in ein angesehenes Bankgeschäft eingetreten. Trotz der guten Tante brauchten beide Geld, viel Geld, weit, weit mehr, als der Vater ihnen schicken konnte. Auch für sie versprach sich Paul mit seinem Übertritt in die Wirtschaft den Beginn einer sorgenfreien Zeit. Alles überschüssige Geld sollte ihnen geschickt werden, und er, o, er würde schon sparen und sorgen, auf daß sie frei von Not und Bedrängnis weiterschreiten könnten nach ihren erhabenen Zielen.

Mit diesen frommen Gedanken trat Paul den Weg zur ersten Religionsstunde an. – Es war an einem sonnigen Frühlingsmorgen zu Anfang des Monats April.[51]

Das junge Gras auf der Heide leuchtete in grünlichen Lichtern, Wacholder und Erika trieben neue, weiche Spitzen, am Waldesrand blühten Anemonen und Ranunkeln. – Ein warmer Wind zog über die Heide ihm entgegen, er hätte laut aufjauchzen mögen, und das Herz ward ihm schwer vor lauter Lust.

»Es muß ein Trauriges im Werke sein,« sagte er sich, »denn so froh darf man sich auf Erden nicht fühlen.«

Vor dem Pfarrgarten stand eine Reihe von Fuhrwerken, die er nur zum geringsten Teil kannte. Auch vornehme Karossen waren darunter. – Mit stolzem Lächeln saßen die Kutscher mit ihren blanken Röcken auf dem Bocke und warfen geringschätzige Blicke um sich herum.

In dem Garten war eine große Kinderschar versammelt. Die Knaben gesondert und die Mädchen auch. Unter den Knaben befanden sich die beiden Brüder, von denen er früher so viel hatte leiden müssen und die seit einem Jahr die Schule nicht mehr besuchten. Sie kamen sehr freundlich auf ihn zu, und während der eine ihm die Hand zum Gruße reichte, stellte ihm der andere von hinten ein Bein.

Von den Mädchen gingen einige Arm in Arm in den Gängen spazieren. Sie hatten sich um die Taille gefaßt und kicherten miteinander. Die meisten waren ihm fremd, einige schienen besonders vornehm, sie trugen feine graue Regenmäntel und hatten Federhüte auf dem Kopfe. Ihnen mußten die Karossen draußen gehören.

Er sah auf seine Jacke herunter, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht zu schämen brauchte. Sie war von feinem schwarzen Tuche, aus einem alten Fracke des Studenten gefertigt, und schien so gut wie neu, nur daß die Nähte ein wenig glänzten. Alles in allem: er brauchte sich nicht zu schämen.

Die Glocke ertönte. Die Konfirmanden wurden in die Kirche gerufen. – Paul fühlte sich frei und fromm, als ihn die feierliche Dämmerung des Gotteshauses umfing. – Er dachte nicht mehr an seine Jacke, die Gestalten der Knaben ringsum wurden wie Schatten.

Zu beiden Seiten des Altars waren Bänke aufgestellt.[52] Rechts sollten die Knaben, links die Mädchen ihre Plätze erhalten.

Paul wurde in die hinterste Reihe gedrängt, wo die Kleinen und die Armen saßen. Zwischen zwei barfüßigen Häuslerkindern, die grobe, durchlöcherte Jacken trugen, nahm er Platz. An den Schultern seiner Vordermänner vorbei sah er drüben die Mädchen sich ordnen, die Vornehmsten zuerst, dann die ärmlich Gekleideten.

Er dachte darüber nach, ob im Himmel die Reihenfolge wohl eine ähnliche sein werde, und der Spruch fiel ein: »Wer sich erniedrigt, der soll erhöhet werden.«

Der Pfarrer kam.

Es war ein behäbiger Mann mit einem Doppelkinn und einem blonden Backenbärtchen. Seine Oberlippe schimmerte blank von dem häufigen Rasieren. Er trug nicht seinen Talar, sondern einen einfachen schwarzen Rock, sah aber doch sehr würdig und feierlich aus.

Er sprach zuerst ein langes Gebet über den Text: »Lasset die Kindlein zu mir kommen« und knüpfte daran die Ermahnung, das kommende Jahr als eine Zeit der Weihe zu betrachten, nicht zu tollen und nicht zu tanzen, denn das widerspräche der Würde eines Religionsschülers.

»Ich habe nie getollt und getanzt,« dachte Paul und war in diesem Augenblick ganz von Stolz erfüllt über seinen gottseligen Wandel. »Aber schade war's doch« – dachte er hinterher.

Dann pries der Pfarrer die vornehmste der christlichen Tugenden: die Demut. Niemand in dieser Kinderschar sollte sich über den anderen erhaben fühlen, weil seine Eltern vielleicht reicher und vornehmer wären als die seiner Mitbrüder und Mitschwestern. Denn vor Gottes Throne wären alle gleich.

»Aha, da habt ihr's!« dachte Paul und faßte liebevoll den Arm seines zerlumpten Nachbarn. Der dachte, er wolle ihn kneifen, und sagte: »Au, nicht doch!«

Drauf zog der Pfarrer ein Blatt Papier aus der Tasche und sagte: »Jetzt will ich die Rangordnung verlesen, in der ihr fortan sitzen sollt.«[53]

»Warum denn eine Rangordnung,« dachte Paul, »wenn vor Gottes Throne alle gleich sind?«

Der Pfarrer sagte: »Zuerst kommen die Mädchen und dann die Knaben,« und begann zu lesen.

Schon der erste Name machte Paul stutzig, denn er hieß – Elsbeth Douglas. Er sah ein hochaufgeschossenes, blasses Mädchen mit einem frommen Gesicht und schlicht zurückgestrichenen blonden Haaren sich erheben und nach dem ersten Platze hinschreiten.

»Also das bist du!« dachte Paul, »und wir sollen zusammen eingesegnet werden.« Das Herz klopfte ihm vor Freude und auch vor Angst, denn er fürchtete zugleich, daß er ihr zu gering erscheinen werde. – »Vielleicht besinnt sie sich gar nicht mehr auf dich,« dachte er weiter.

Er beobachtete sie, wie sie mit niedergeschlagenen Augen sich auf ihren Platz setzte und freundlich vor sich hinlächelte.

»Nein, die ist nicht stolz,« sagte er leise vor sich hin, aber zur Sicherheit besah er seine Jacke.

Dann wurden die Knaben aufgerufen. Zuerst kamen die beiden Brüder Erdmann. Die hatten sich schon ohnehin auf den ersten Plätzen breitgemacht, und dann wurde sein eigener Name gerufen. – In diesem Augenblick machte Elsbeth Douglas es genauso, wie er vorhin getan. Sie hob rasch den Kopf und spähte zu den Reihen der Knaben hinüber.

Als er sich auf seinen Platz gesetzt hatte, schaute auch er vor sich auf die Erde nieder, denn er wollte es ihr an Demut gleichtun, und wie er dann aufblickte, sah er ihr Auge voll Neugier auf sich ruhen. Er wurde rot und tupfte ein Federchen von dem Ärmel seiner Jacke.

Und dann begann der Unterricht. Der Pfarrer erklärte Bibelsprüche und fragte Gesangbuchlieder ab. Elsbeth kam zuerst an die Reihe. Sie hob ein wenig den Kopf und sagte ruhig und unbefangen ihre Verse her.

»Donnerja, die Margell hat Courage,« murmelte der jüngere Erdmann, der zu seiner linken Seite saß.

Paul fühlte sich von plötzlichen Ingrimm gepackt. Er hätte ihn mitten in der Kirche prügeln mögen. »Sagt[54] er noch einmal ›Margell‹ auf sie, so hau' ich hernach auf ihn los.« Das versprach er sich feierlich. Aber der jüngere Erdmann dachte nicht mehr an sie, er beschäftigte sich damit, seinen Hintermännern Stecknadeln in die Waden zu stechen.

Als die Stunde beendet war, verließen zuerst die Mädchen paarweise die Kirche. Erst als die letzten draußen waren, durften die Knaben ihnen folgen. Auf dem Vorplatze begegnete er Elsbeth, die nach ihrem Wagen schritt. Beide sahen sich ein wenig von der Seite an und gingen aneinander vorüber.

An ihrem Wagen stand eine alte Dame mit grauen Ringellocken und einem persischen Umschlagetuch, die im Pfarrhause auf sie gewartet haben mußte. Sie küßte Elsbeth auf die Stirn, und beide bestiegen die Rücksitze. Der Wagen war der schönste in der ganzen Reihe, der Kutscher trug eine schwarze Pelzmütze mit einer roten Troddel daran, auch hatte er blanke Tressen am Kragen und an den Aufschlägen der Ärmel.

Gerade als der Wagen fortgefahren war, wurde Paul von den beiden Erdmanns angefallen, die ihn ein wenig prügelten.

»Pfui, schämt euch, zwei gegen einen,« sagte er, da ließen sie ihn laufen.

Er ging vergnügt dem Heimathause zu. Die Mittagssonne glitzerte auf der weiten Heide, und in nebelnder Ferne fuhr der Wagen vor ihm her, wurde kleiner und kleiner und verschwand endlich als ein schwarzer Punkt in dem Fichtenwalde.

Als er zu Hause ankam, küßte ihn die Mutter auf beide Wangen und fragte: »Nun, wie war's?«

»Ganz nett,« erwiderte er, »und, Mama, die Elsbeth aus dem ›weißen Hause‹ war auch da.«

Da wurde sie ganz rot vor Freude und fragte nach allerlei, wie sie aussähe, ob sie hübsch geworden sei und was sie mit ihm gesprochen habe.

»Gar nichts,« erwiderte er beschämt, und als die Mutter ihn daraufhin erstaunt ansah, fügte er eifrig hinzu: »Du, aber stolz ist sie nicht.« ...[55]

Am nächsten Montag fand er sie bereits an ihrem Platze sitzen, als er die Kirche betrat. Sie hatte die Bibel auf den Knien liegen und lernte die aufgegebenen Sprüche.

Es waren noch nicht viele Kinder anwesend, und als er sich ihr gegenüber niedersetzte, machte sie eine halbe Bewegung, als wolle sie aufstehen und zu ihm herüberkommen, aber sie ließ sich wieder nieder und lernte weiter.

Die Mutter hatte ihm vor dem Weggehen anempfohlen, Elsbeth einfach anzureden. Sie hatte ihm viele Grüße an ihre Mutter aufgetragen, auch sollte er sich erkundigen, wie es ihr selber erginge. Er hatte sich während des Weges eine lange Rede einstudiert – nur war er sich noch darüber uneins, ob er »du« oder »Sie« zu ihr sagen solle. – »Du« wäre das einfachste gewesen. Die Mutter schien es sogar für selbstverständlich zu halten, aber »Sie« klang entschieden feiner – so hübsch erwachsen klang es. Und da er zu keinem Entschlusse kommen konnte, so unterließ er die Anrede ganz. – Auch er nahm nun seine Bibel vor, und beide stützten die Ellbogen auf die Knie und lernten um die Wette.

Ihm nützte es nicht viel, denn als hernach in der Stunde der Pfarrer an ihn die Frage richtete, hatte er keine Ahnung mehr. –

Ein peinliches Schweigen entstand, die Erdmänner lachten schadenfroh, und er, glutrot vor Scham, mußte sich wieder auf seinen Platz niedersetzen. Er wagte nun nicht mehr aufzuschauen, und als er beim Verlassen der Kirche Elsbeth vor der Türe stehen sah, als wartete sie auf etwas, schlug er die Augen nieder und wollte rasch an ihr vorüber. – Sie aber trat einen Schritt auf ihn zu und redete ihn an: »Meine Mama hat mir aufgetragen, ich soll dich fragen – wie's deiner Mutter ginge.«

Er erwiderte, es ginge ihr gut.

»Und sie läßt sie auch vielmals grüßen,« fuhr Elsbeth fort.

»Und meine Mutter läßt deine Mutter auch vielmals grüßen,« erwiderte er, Bibel und Gesangbuch zwischen den Fingern drehend, »und ich soll dich auch fragen, wie's ihr ginge.«[56]

»Mama läßt sagen,« entgegnete sie, wie wenn man Auswendiggelerntes hersagt, »sie sei viel kränklich und müßte sehr oft das Zimmer hüten, aber jetzt im Frühling ging's ihr besser – und ob du nicht mit unserem Wagen mitfahren möchtest bis zu deinem Hause. Ich soll's dir anbieten, hat sie gesagt.«

»Kiek, der Meyhöfer raspelt Süßholz,« rief der ältere Erdmann, der sich hinter der Kirchentür verborgen hatte, um seine Kameraden durch den Ritz hindurch mit einem Röhrchen zu kitzeln.

Elsbeth und Paul sahen erstaunt einander an, denn sie kannten den Sinn der Redensart nicht, aber da sie fühlten, daß sie etwas sehr Schlimmes bedeuten mußte, wurden sie rot und trennten sich.

Paul schaute ihr nach, wie sie auf ihren Wagen stieg und davonfuhr. Diesmal wartete die alte Dame nicht auf sie. Es war ihre Gouvernante, wie er gehört hatte. Ja, so vornehm war sie, daß sie sogar eine eigene Gouvernante besaß!

»Die Erdmänner kriegen doch noch ihre Prügel,« damit schloß er seine Überlegungen. – – –

Die nächsten Wochen vergingen, ohne daß er mit Elsbeth wieder geredet hätte. Wenn er in die Kirche trat, saß sie meistens schon an ihrem Platze. Dann nickte sie ihm freundlich zu, aber das war auch alles.

Und dann kam ein Montag, an dem ihr Wagen nicht auf sie wartete. Er bemerkte es sofort, als er auf den Kirchenplatz zuschritt, und atmete erleichtert auf, denn der stolze Kutscher mit der Pelzmütze, die er selbst mitten im Sommer trug, verursachte ihm stets ein beklemmendes Gefühl. Er brauchte nur an den Kutscher zu denken, wenn er ihr gegenübersaß, und sie erschien ihm wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

Heute wagte er fast vertraulich zu ihr hinüber zu grüßen, und es erschien ihm, als wenn auch sie seinen Gruß freundlicher denn sonst erwiderte.

Und als die Stunde beendet war, trat sie aus freien Stücken auf ihn zu und sagte: »Ich muß heute zu Fuß[57] nach Hause, denn unsere Fuhrwerke sind alle auf dem Felde. Mama hat gemeint, du könntest wohl ein Stück mit mir zusammengehen, da wir doch denselben Weg haben.«

Er fühlte sich sehr beglückt, wagte aber nicht an ihre Seite zu treten, solange sie sich innerhalb des Dorfes befanden. Auch schaute er sich von Zeit zu Zeit ängstlich um, ob nicht die beiden Erdmänner irgendwo mit ihren Stachelreden auf ihn lauerten.

Doch als sie draußen auf freiem Felde dahingingen, fand es sich von selbst, daß sie nebeneinander schritten.

Es war ein sonniger Junivormittag. Der weiße Sand des Weges flimmerte ... Ringsherum blühten goldgelbe Katzenpfötchen, und das Wiesenfrauenhaar wehte in dem warmen Winde ... vom Dorfe her tönte die Mittagsglocke ... Kein Mensch war weit und breit zu sehen ... Die Heide schien wie ausgestorben.

Elsbeth trug einen breiten Strohhut auf dem Kopfe, zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen. Den nahm sie jetzt ab und schlenkerte ihn am Gummibande hin und her.

»Es wird dir zu heiß werden,« sagte er, aber da sie ihn ein wenig auslachte, riß er auch seine Mütze vom Kopfe und warf sie hoch in die Luft.

»Du bist ja ein ganz lustiger Bursche,« sagte sie beifällig nickend.

Er schüttelte den Kopf, und seine Stirne zog sich wieder in die ernsten Falten, die ihn stets alt erscheinen ließen.

»Ach nein,« sagte er, »lustig bin ich nicht.«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Ich habe immer an so vielerlei zu denken,« erwiderte er, »und wenn ich einmal recht froh sein will, kommt mir sicher etwas in die Quere.«

»Woran hast du denn immer zu denken?« fragte sie.

Er sann eine Weile nach, aber es fiel ihm gerade nichts ein. »Ach, es ist ja alles dumm' Zeug,« sagte er, »kluge Gedanken kommen mir überhaupt nicht.«

Und dann erzählte er ihr von den Brüdern, von dicken Büchern, die ganz mit Zahlen vollgeschrieben ständen –[58] den Namen habe er vergessen – und die sie schon auswendig gekonnt hätten, als sie so alt gewesen wären wie er selber.

»Warum lernst du das nicht auch, wenn es dir Vergnügen macht?« fragte sie.

»Es macht mir aber kein Vergnügen,« erwiderte er, »ich habe einen so schweren Kopf.«

»Aber irgend etwas wirst du doch können?« fragte sie weiter.

»Ich kann rein gar nichts,« erwiderte er traurig, »ich sei so dumm, sagt der Vater.«

»Du – darauf mußt du nichts geben,« tröstete sie ihn, »mein Fräulein Rathmaier hat auch immer allerhand an mir auszusetzen. Aber ich – pah, ich –« Sie schwieg und riß eine Sauerampferstaude aus, an der sie kaute.

»Hat dein Vater noch immer so blitzende Augen?« fragte er.

Sie nickte, und ihr Antlitz verklärte sich.

»Du hast ihn wohl sehr lieb – deinen Vater?«

Sie sah ihn erstaunt an, als ob sie seine Frage nicht verstünde, dann meinte sie, o ja – sie hätte ihn sehr lieb.

»Und er dich auch?«

»Ob!«

Er pflückte sich nun gleichfalls einen Sauerampferstengel und seufzte dabei.

»Warum seufzt du denn?« fragte sie.

Es käme ihm zufällig was in den Sinn, meinte er, und dann fragte er lachend, ob ihr Vater sie wohl noch manchmal auf den Schoß nähme wie damals, als er im »weißen Hause« gewesen war.

Sie lachte mit und meinte, sie sei ja schon ein großes Mädchen, und er solle nicht so dumm fragen, aber hinterher kam's heraus, daß sie doch noch auf des Vaters Schoß sitze, »freilich nicht mehr rittlings,« fügte sie lachend hinzu.

»Ja, das war ein schöner Tag,« sagte er, »und ich saß auf seinem andern Knie. Wie klein müssen wir damals gewesen sein!«[59]

»Und dumm waren wir, daß Gott erbarm!« erwiderte sie, »wenn ich noch daran denke, wie du pfeifen wolltest und nicht konntest.«

»Hast du das behalten?« fragte er, und sein Auge leuchtete auf im Bewußtsein seiner jetzigen Kunst.

»Natürlich,« sagte sie, »und als du fortgingst, kamst du noch einmal zurückgelaufen und – weißt du noch?«

Er wußte es genau.

»Heute wirst du wohl pfeifen können,« lachte sie, »in unserem Alter ist das keine Heldentat mehr – kann ich es doch sogar!« – und sie spitzte die Lippen in sehr drolliger Weise.

Ihm tat es weh, daß sie von seiner Kunst so geringschätzig sprach, und er dachte darüber nach, ob er das Pfeifen fortan nicht lieber ganz unterlassen sollte.

»Warum bist du so schweigsam?« fragte sie, »bist du auch müde?«

»Ach nein, aber du – was?«

Ja – der Fußweg in Sand und Mittagshitze habe sie angestrengt.

»So komm zu uns ins Haus und ruhe dich aus,« rief er leuchtenden Auges, denn er gedachte der Freude, die die Mutter bei ihrem Anblick empfinden würde.

Aber sie dankte. »Dein Vater ist nicht gut zu sprechen auf uns, hat Mama gesagt, und darum dürft ihr auch nicht nach Helenental zum Besuche kommen. Dein Vater würde mich vielleicht vom Hofe weisen.«

Er erwiderte hochrot: »Das würde der Vater wohl nicht« – und er schämte sich sehr.

Sie warf einen Blick nach dem Heidehof hinüber, der kaum dreihundert Schritt abseits vom Wege gelegen war. Der rote Zaun leuchtete im Sonnenglanze, und selbst die grauen, verfallenen Scheunen schauten freundlicher darein als sonst.

»Es ist ganz hübsch bei euch,« sagte sie, die linke Hand wie einen Schirm über die Augen legend.

»O ja,« erwiderte er, das Herz von Stolz geschwellt, »und an dem einen Scheunentor ist eine Eule angenagelt.[60] – – – Aber es soll noch viel, viel hübscher bei uns werden,« fügte er nach einer kleinen Weile ernsthaft hinzu. »Laß mich nur erst ans Regiment kommen.« Und dann begann er ihr seine Zukunftspläne auseinanderzusetzen. Sie hörte ihm aufmerksam zu, aber als er geendet hatte, sagte sie noch einmal: »Ich bin müde – muß mich ausruhen.« Und sie machte Miene, sich auf dem Grabenrande niederzusetzen.

»Nicht hier in der Sonnenhitze,« warnte er, »komm, wir suchen uns den ersten, besten Wacholderstrauch.«

Sie reichte ihm die Hand und ließ sich müde von ihm über den Heiderasen ziehen, der von Maulwurfshügeln geschwellt war wie ein wellenschlagender See, und der gegen den Waldesrand hin vereinzelte Wacholderbüsche trug, die wie eine Schar schwarzer Gnomen von der ebenen Fläche emporragten.

Unter dem ersten dieser Gebüsche hockte sie nieder, so daß dessen Schatten ihre zarte, schmale Gestalt fast ganz umhüllte.

»Hier ist gerade noch Platz für deinen Kopf,« sagte sie, auf einen Maulwurfshügel weisend, der sich noch im Bereiche des Schattens befand.

Er streckte sich der Länge nach auf dem Rasen hin, den Kopf auf dem Maulwurfshügel gebettet, die Stirn vom Saume ihres Kleides bedeckt.

Sie lehnte sich müde in das Dickicht des Busches zurück, um in dessen Geästel eine Stütze zu finden.

»Die Nadeln stechen gar nicht,« sagte sie dann, »sie meinen's gut mit uns; ich glaube, wir könnten auch durch Dornröschens Hecke gehen.«

»Du – nicht ich,« erwiderte er, die Augen im Liegen zu ihr aufschlagend, »mich hat noch jeder Dorn gestochen – ich bin kein Märchenprinz, nicht einmal ein lumpiger Hans-im-Glücke bin ich.«

»Wird alles noch kommen,« tröstete sie; »du mußt nicht immer so traurige Gedanken haben.«

Er wollte ihr etwas erwidern, aber die richtigen Worte fehlten ihm, und wie er nachsinnend emporschaute, flog[61] droben am blauen Himmel eine Schwalbe vorüber. Da stieß er unwillkürlich einen Pfiff aus, als ob er sie heranlocken wollte, und als sie nicht kam, pfiff er noch einmal und zum zweiten- und zum drittenmal.

Elsbeth lachte, er aber pfiff weiter – erst ohne zu wissen, wie? und ohne nachzudenken, warum? aber als ein Ton nach dem andern seinen Lippen entquoll, ward ihm zu Sinn, als sei er plötzlich sehr beredsam geworden, und als ob er auf diese Weise alles sagen könnte, was ihm das Herz bedrückte und wozu er in Worten nimmer den Mut gefunden haben würde ... All das, was ihn traurig machte und um was er sich sorgte, kam zum Vorschein. Er schloß die Augen und hörte gleichsam zu, wie die Töne für ihn sprachen. Er glaubte, der liebe Gott im Himmel hätte statt seiner das Wort genommen und erzählte alles, was ihn anging, sogar das, worüber er selbst nie klar geworden war.

Als er die Augen aufschlug, wußte er nicht, wie lange er so dagelegen und gepfiffen hatte, aber er sah, daß Elsbeth weinte.

»Warum weinst du?« fragte er.

Sie gab ihm keine Antwort, wischte sich mit dem Taschentuch die Augen und erhob sich.

Schweigend schritten sie eine Weile miteinander hin. – Als sie den Wald erreichten, der dicht und dunkel vor ihnen lag, blieb sie stehen und fragte: »Wer hat dich das gelehrt?«

»Keiner,« sagte er, »das ist mir so von selber gekommen.«

»Kannst du auch Flöte spielen?« fragte sie weiter.

Nein, er konnte es nicht, er hatte es auch nie gehört, er wußte nur, daß es des alten Fritzen Lieblingsvergnügen gewesen war.

»Das mußt du lernen!« sagte sie.

Er meinte, es würde ihm wohl zu schwer sein.

»Du solltest es doch versuchen,« riet sie, »du mußt ein Künstler werden – ein großer Künstler.«

Er erschrak, als sie das sagte. Er getraute sich kaum, ihren Gedanken weiter zu denken.[62]

Als sie den jenseitigen Waldrand erreicht hatten, trennten sie sich. – Sie schritt weiter dem »weißen Hause« zu – und er kehrte um. Wie er den Wacholderbusch wiedersah, unter dem sie beide gesessen hatten, kam ihm alles wie ein Traum vor, und so blieb es auch fortan. – – –

Zwei, drei Tage vergingen, ehe er der Mutter etwas von seinem Abenteuer zu sagen wagte, aber dann hielt er es nicht länger aus und gestand ihr alles.

Die Mutter sah ihn lange an und ging hinaus, aber von jetzt ab lauschte sie heimlich, ob sie nicht einen Ton von seinem Pfeifen erhaschen könnte.

Die beiden Kinder gingen noch oftmals mitsammen heim, aber eine solche Stunde, wie die unter dem Wacholderbusch, kam ihnen nie mehr wieder.

Wenn sie an ihm vorüberschritten, sahen sie einander an und lächelten, aber keines wagte den Vorschlag zu machen, noch einmal unter ihm niederzusitzen.

Auch des Flötenspiels geschah nicht mehr Erwähnung zwischen ihnen, Paul jedoch dachte heimlich oft genug daran. Es erschien ihm wie etwas Himmlisches, Unerhörtes, gleich der Wissenschaft, die die Logarithmentafeln lehrten. Ja, wenn er klug und begabt gewesen wäre wie die beiden Brüder! – aber er war ja nur ein dummer, einfältiger Junge, der froh sein konnte, wenn man ihn für die andern sorgen ließ.

Gar oft fragte er sich, wie wohl solch ein Flötenspiel klingen möchte und wie diejenigen beschaffen wären, die es verstanden. Er hatte eine sehr große Meinung von ihnen und glaubte, daß sie stets so hohe und heilige Gedanken hegen mußten, wie sie ihm selber nur in sehr wenigen Momenten aufstiegen, wenn er sich recht in sein Pfeifen vertiefte.

Und dann kam der Tag, an dem er einen Flötenspieler von Angesicht zu Angesicht erschauen sollte.

Es war an einem trüben, stürmischen Nachmittag im Monat November. Es fing schon an, dunkel zu werden, als er die Schule verließ und langsam die Dorfstraße entlang wanderte, um heimzukehren. Da drangen aus einer[63] Branntweinschenke, in der das Gesindel der Gegend zu verkehren pflegte, gar seltsame Töne an sein Ohr. Er hatte sie nie gehört, aber er wußte sofort: das muß ein Flötenspieler sein. Horchend blieb er vor der Tür der Schenke stehen. Sein Herz klopfte ganz laut, seine Glieder zitterten. Die Töne waren ähnlich wie sein Pfeifen, aber weit voller und weicher. »So müssen die Engel an Gottes Thron musizieren,« dachte er sich.

Nur eines war ihm unerklärlich, wie dieses Flötenspiel, das so klagend und sehnsüchtig klang, an einen so verrufenen Ort geraten konnte. Das Schreien und Johlen und Gläserklirren, das zwischendurch erscholl, tat seiner Seele weh, ein plötzlicher Grimm packte ihn; wenn er groß und stark gewesen wäre, er würde hineingesprungen sein und würde die Lärmenden und Trunkenen samt und sonders auf die Straße hinausgeworfen haben, damit die heiligen Töne nicht entweiht würden.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, ein trunkener Arbeiter taumelte an ihm vorüber – übelriechender Qualm drang ihm entgegen ... Lauter noch wurde das Lärmen ... Kaum war das Flötenspiel imstande, es zu übertönen.

Da faßte er sich ein Herz, und ehe noch die Tür geschlossen wurde, drängte er sich durch den schmalen Spalt in das Innere der Schenke ... Hinter ein leeres Branntweinfaß gedrückt, stand er da ... Niemand achtete auf ihn.

In den ersten Augenblicken unterschied er nichts ... Dunst und Lärm hatten seine Sinne ganz benommen, und die Töne der Flöte wurden schrill und mißtönig, so daß sie seinem Ohre wehtaten.

Inmitten der Schreienden und Stampfenden saß auf einem umgestülpten Fasse ein zerlumpter Kerl mit einem aufgequollenen, finnigen Gesicht, einer Schnapsnase und schwarzen, fettigen Haaren – eine Gestalt, deren Anblick Paul einen Schauder über den Leib jagte ... Der war es, welcher die Flöte blies.

Wie versteinert vor Entsetzen starrte er ihn an. Ihm war zumute, als sänke der Himmel ein, als ginge[64] die Welt zugrunde. – Nun setzte der Spieler seine Flöte ab, stieß mit rauher, heiserer Stimme ein paar schmutzige Worte hervor, goß gierig den Branntwein hinunter, der ihm von den Umstehenden gereicht wurde, und begann, mit den Füßen den Takt schlagend, einen Gassenhauer zu spielen, den die Zuhörer mit Brüllen begleiteten.

Da floh Paul zur Schenke hinaus und lief und lief, daß ihm Hören und Sehen verging, als hätte er Angst, zur Besinnung zu kommen. –

Als er allein auf der Heide war, über welche die Stürme dahinsausten, und von deren Rande ein schwefelgelber Streifen abendlichen Lichtes ihm entgegenleuchtete, da hielt er inne, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. – –

In dem Winter, der nun folgte, stellte Paul sein Pfeifen gänzlich ein, und noch mehr war ihm das Flötenspiel verleidet. Wenn er daran dachte, stand das Bild jenes Verworfenen vor seinen Augen, der ihm seine Sehnsucht entheiligt hatte.

Elsbeth sah er fortan nicht mehr. Mit Beginn der kalten Jahreszeit war die Religionsstunde aus der Kirche in das Pfarrhaus verlegt worden, und da sich in ihm kein Raum vorfand, der sämtliche Konfirmanden hätte fassen können, so wurden Knaben und Mädchen gesondert unterrichtet. Bisweilen zwar sah er Elsbeths Wagen an sich vorüberfahren, aber sie selbst war so sehr in Pelze und Tücher vermummt, daß von ihrem Gesicht nichts zu erkennen war. Er wußte nicht einmal, ob sie ihn bemerkt hatte.

Zu derselben Zeit hatte er vielen Ärger mit den Brüdern Erdmann, die ihn bis aufs Blut zu quälen wußten. Er war vollständig wehrlos ihnen gegenüber, denn jeder einzelne hatte doppelt soviel Kraft als er; auch griffen sie ihn immer zu zweien an, und während der eine ihn festhielt, zwackte ihn der andere. Nicht, daß die beiden von Grund aus boshafte Geschöpfe gewesen wären, im Gegenteil, gegen die anderen wußten sie Wohlwollen und Großmut zu üben, aber gerade seine stille, in sich versunkene[65] Natur war ihnen in tiefster Seele verhaßt. Sie schalten ihn einen Mucker, einen Kopfhänger, und wenn sie ihn geprügelt hatten, sagten sie: »So, nun zeig uns an, das würde prächtig zu dir passen.«

Sein Groll gegen die Widersacher schwoll höher und höher. Oft machte er sich Vorwürfe, daß er sich feige und ehrlos betrage, und beschuldigte sich niedriger, knechtischer Gesinnung. Eines Tages, als er auf dem beschneiten Hofe hin und her lief, redete er sich so sehr in Zorn hinein, daß er beschloß, sich jener bösen Brüder zu entledigen, und wenn es sein eigen Leben kostete. – Er lief in den Stall, wo der Schleifstein stand, taute das in der Bütte gefrorene Wasser auf und schärfte sein Taschenmesser, bis es einen Streifen dünnsten Seidenpapiers durchschnitt. Als er aber am nächsten Montag aufs neue durchgeprügelt wurde, fand er nicht den Mut, es aus der Tasche zu ziehen, und mußte sich aufs neue ob seiner Feigheit Vorwürfe machen. Er verschob es auf das nächste Mal – aber dabei blieb es.

Auch von dem Vater hatte er vieles zu erdulden. Der trug sich neuerdings wieder mit großen Plänen, und wenn er das tat, fühlte er sich stets sehr erhaben und war auf Paul, den er um seines kleinlichen Sinnes willen verachtete, besonders schlecht zu sprechen.

»Warum ist auf den Jungen nicht der leiseste Funken meines Genies übergegangen?« sagte er. »Wie schön könnte ich ihn dann zum Handlanger für meine Pläne erziehen! Aber er ist zu stupide – Hopfen und Malz sind an ihm verloren.«

Er hatte jetzt die Absicht, zur Ausbeutung seines Moores eine Aktiengesellschaft zu gründen, große Kapitalien aufzubringen und sich selbst zum Direktor mit soundsoviel tausend Talern Gehalt ernennen zu lassen. Er fuhr allwöchentlich zwei- bis dreimal zur Stadt und war oft am zweiten Tage noch nicht zu Hause.

»Es hält schwer,« sagte er dann, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, »aber ich werde die Filze schon 'rankriegen. Auch der Douglas, der Protz, muß mir bluten.[66] Wenn ich nur wüßte, wie ich ihn mir einmal greifen könnt'? Helenental betrete ich nie wieder, schon um nicht zu sehen, wie der Kerl es hat verwahrlosen lassen – denn das hat er jedenfalls – und in der Stadt bekomme ich ihn nie zu sehen. Aber bluten – bluten muß er. Wenn er nicht einen Scheffel Aktien zeichnet, soll ihn der Teufel holen.«

Frau Elsbeth hörte das alles traurig an, ohne ein Wort zu sagen, Paul aber pflegte hinterher heimlich den Schlüssel des Schuppens vom Brette zu nehmen, um mit der »schwarzen Suse« stumme Zwiesprach zu halten. Er hatte nun einmal den Glauben, daß von ihr die Rettung käme.

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Als die Osterfeiertage vorüber waren, wurde der Religionsunterricht aufs neue in die Kirche verlegt. Knaben und Mädchen kamen nach halbjähriger Trennung wieder zusammen.

Elsbeth hatte sich während des Winters sehr verändert. Sie sah nun beinahe aus wie eine erwachsene Dame. Sie trug ein halblanges Kleid und hatte das Haar über der Stirn in Löckchen aufgelöst.

Paul grüßte sie sehr beklommen; ihm war zumute, als paßte er nicht mehr zu ihr – aber sie stand von ihrem Sitze auf, ging ihm drei Schritte entgegen und drückte ihm vor aller Augen herzlich die Hand.

In der darauffolgenden Stunde wurde unter den Knaben ein Blatt herumgereicht, das viel Heiterkeit erregte. Es trug die von allerhand Schnörkeln umgebenen Worte:


»Als Verlobte empfehlen sich:


Paul Meyhöfer,

Elsbeth Douglas.«


Die Schrift war die des jüngeren Erdmann. Pauls Hand suchte nach seinem Messer; für einen Moment war ihm zumute, als könnte er es hier mitten in der Kirche gegen seinen Nachbarn zücken; er zerrte ihm das Blatt aus der Hand und riß es in Fetzen.[67]

Elsbeth sah verwundert zu ihm herüber, und der Pfarrer rief ihn zur Ruhe. Nun erschrak er über seine eigene Kühnheit. Die Erdmänner mußten ihm wohl angemerkt haben, daß er in diesem Punkt nicht mit sich scherzen lasse, und machten keinen ferneren Versuch, ihn mit Elsbeth aufzuziehen ...

Am letzten Sonntag vor Pfingsten war die Einsegnung. Paul hatte die Nacht über nicht schlafen können, vor Sonnenaufgang stand er leise auf, zog die neuen schwarzen Tuchkleider an, die die gute Tante ihm zu diesem Feste geschenkt hatte, und machte einen Rundgang über den stillen Hof und die tauigen Felder, bis zu dem Moore hin, das mit seinem Blumengewande gar feiertäglich vor ihm lag. Im Angesicht der aufgehenden Sonne faltete er seine Hände und sprach ein inbrünstiges Gebet. Mit diesem Tage wollte er ein neues, besseres Leben beginnen, alle Unbill vergeben und seine Feinde lieben, wie es Jesus Christus befohlen ... Da fiel ihm das Messer ein, das er einst für die Erdmänner geschliffen, er riß es aus der Tasche und schleuderte es mitten in das Moor hinein, wo es mit einem gurgelnden Laute im Brachwasser versank. – Heiße Tränen stürzten aus seinen Augen. Schlecht und verworfen erschien er sich und gänzlich unwürdig, vor Gottes Altar zu treten ... Kaum wagte er auf den Hof zurückzukehren, erst als die Zwillinge in ihren nagelneuen Mullkleidchen jubelnd auf ihn zustürzten, ward ihm freier und leichter ... Er umarmte die Schwestern und gelobte sich im stillen, ihnen ein treuer Helfer und Freund zu werden.

Dann kam die Mutter, mit einem verschossenen Seidenkleide angetan, küßte ihn auf Stirn und Wangen und hielt sein Gesicht lange zwischen ihren beiden Händen, indem sie ihm unverwandt in die Augen schaute. – Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte nichts weiter zum Vorschein als: »Mein Junge, mein lieber Junge.«

Selbst der Vater war heute in rosigster Laune. Er faßte seine beiden Hände und hielt ihm eine lange Rede, wie er lernen müsse, auf das Große im Menschenleben[68] seinen Blick zu heften und ihm, dem Vater, nachzueifern, der zwar stets vom Unglück verfolgt und von der Schlechtigkeit der Menschen ausgeplündert worden sei, der sich aber nie habe entmutigen lassen, zu den Sternen emporzustreben, selbst aus diesem elenden Loche heraus, in dem ein feindliches Schicksal ihn habe versinken lassen. Und er runzelte seine Brauen und wühlte sich in seinen Haaren, Zoll um Zoll Erhabenheit und Geistesgröße.

Paul küßte seine beiden Hände und versprach alles.

Um acht Uhr sah er auf dem Fahrweg, der über die Heide führte, eine Karosse vorbeirollen, deren silberner Zierat im Morgensonnenstrahle glitzerte.

Lange blickte er dem Wagen nach. Ihm war alles wie ein Traum ... Er fühlte sich so unendlich wohl, daß ihm ganz beklommen wurde vor lauter Glück. »Womit hab' ich das verdient?« fragte er sich, und darauf fing er an nachzugrübeln, wie wohl der erste Kummer beschaffen sein werde, der ihn dieser Seligkeit entreißen würde. – Als die Zwillinge ihm ankündigten, daß der Wagen zur Kirchenfahrt bereitstände, fühlte er sich traurig und gedrückt.

In dem Pfarrgarten, in dem Jasmin und Flieder blühten und auf dessen Rasen die Sonnenstrahlen glitzerten, standen zwei Menschenhäuflein, ein schwarzes und ein weißes, gesondert voneinander. Das erste waren die Knaben, das zweite die Mädchen.

Elsbeth in ihrem schneeigen Mullkleidchen, mit einem Spitzentüchlein über dem Busen, sah weiß und duftig aus wie eine Schlehdornblüte.

Ihre Wangen waren sehr blaß, sie hielt die Augen fortwährend gesenkt und spielte bald mit dem Gesangbuch, bald mit dem Fliederbüschel, welches beides sie in der Hand hielt.

Paul schaute lange zu ihr hinüber, aber sie sah ihn nicht. Sie mochte sich wohl in ihrer Andacht durch keinen weltlichen Gedanken stören lassen.

Und dann kam der Pfarrer. Die Glocken läuteten – und die Orgel rauschte – und langsam schritt der Zug, paarweise geordnet, nach dem Altar.[69]

Paul ging dicht hinter den beiden Erdmännern, die in ihren schwarzen langen Tuchröcken gar ernst und ehrbar dreinschauten. Plötzlich kam das Bewußtsein seiner Schuld mit erneuter Gewalt über ihn. Er beugte sich ein wenig vor, stieß sie leise in den Nacken und flüsterte mit nassen Augen: »Vergebt mir! Ich habe euch viel Übles getan!«

Sie bohrten sich gegenseitig die Ellbogen in die Hüften und schmunzelten spitzbübisch. Einer drehte sich mit halber Wendung um und flüsterte mit einem Leidensgesichte, das ganz erfüllt war von verkannter und gekränkter Unschuld: »Mein Sohn, wir vergeben dir.«

Paul fühlte wohl, daß sie sich über ihn lustig machten, aber sein Herz war so voll von Andacht und Liebe, daß ihm kein Hohn der Welt etwas anhaben konnte.

Zu beiden Seiten des Altars ordneten sich die Kinderscharen.

Paul warf einen schüchternen Blick in das Kirchenschiff hinunter, das gedrängt voll von Menschen war, aber er vermochte niemanden zu erkennen.

Die Stunde der Predigt verging. Er starrte vor sich nieder. Alles war ihm wie ein Traum.

Eine Weile später fühlte er seine Knie auf einem weichen Polster ruhen und die Hand des Pfarrers auf seinem Haupte ... Was er zu ihm sprach, vernahm er nicht. Er sah Elsbeth drüben still in ihr Taschentuch weinen und dachte: »Weine nur, weine nur, wirst bald wieder lachen.«

Und dann fragte er sich, warum die Menschen wohl alle so viel lachten, während es doch im ganzen so wenig Lächerliches auf Erden gäbe.

Die Orgel stimmte das Lied: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren« an – hellauf jauchzte der Chor der Gemeinde – da wanderte sein Blick zur Sonne empor, die in regenbogenfarbenen Lichtern durch die bemalten Kirchenfenster brach.

Und wie er in das Farbenspiel hineinstarrte, erschrak er plötzlich. Gerade jenseits des Kreuzes, das den Altar[70] krönte, stand in ungeheurer Größe eine düstere, in Grau gekleidete Frau und blickte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder ... Die Büßerin Magdalena war's.

Er fühlte, wie es ihn kalt durchschauerte.

»Frau Sorge,« murmelte er und beugte das Haupt, als wollte er in Demut empfangen, was sie ihm fürs Leben bescherte.

Und als er das Auge wieder erhob, strahlte die Sonne noch herrlicher denn zuvor.

Glührot und smaragden gleißten und glimmten die Flammen und woben eine Strahlenglorie um das Haupt der grauen Frau.

Die aber stand traurig inmitten der farbenfrohen Pracht und starrte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder. – – –

Da setzte mit einem rauschenden Akkorde die Orgel zum Nachspiel ein ... ein freudiges Beben ging durch die Gemeinde ... die Schar der Kinder eilte, sich in die Arme der Ihren zu werfen, – – und aus Elsbeths tränennassen Augen traf ihn ein freundlich grüßender Blick.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 1, Stuttgart und Berlin 1923, S. 50-71.
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